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Birt berührt sich nahe damit, ist aber p. 490 zu der abenteuerlichen Hypothese gelangt, es seien 400 000 grosse Rollen gewesen, die dem von Birt vorausgesetzten, aber nicht bewiesenen „altmodischen Grossrollensystem", das erst in der Alexandrinerzeit durch Kallimachos beseitigt sei, angehörten. Es hat auch damals mehr kleine als grosse Rollen gegeben, wie es zu allen Zeiten der Fall war, und wie auch heute noch mehr kleine Brochüren als vielbändige Werke oder umfangreiche, dicke Bände existiren. Gelegentlich sei hier bemerkt, dass Birts sonderbare Auffassung des Kallimacheischen Ausspruchs, ein grosses Buch sei ein grosses Uebel, in dem Sinne, dass Buch und Rolle hier gleichbedeutend sei, und der Ausspruch sich auf die Abneigung des Kallimachos gegen die früheren unpraktischen Volumina beziehe, in ihren Grundzügen sich bereits bei Ritschl p. 110 findet: Der Spruch des Kallimachos: τὸ μέγα βιβλίον ἴσον μεγάλῳ κακῷ, nach dem wir seine eigene Fruchtbarkeit von mehr als 800 Büchern zu beurtheilen haben, scheint fast eine Art Norm für die späteren Grammatiker geworden zu sein, dass sie auch grammatische Werke, für die gar keine Abtheilung nach Büchern erforderlich oder irgend nützlich war, namentlich Lexika, die an der alphabetischen Ordnung vollkommen genug hatten, dennoch in Bücher zerschnitten." Es ist möglich, dass auch Ritschl an dieser Stelle das Urtheil des Kallimachos, wie Bit, im technischen Sinne nahm. Kallimachos wollte also möglichst viele Rollen zusammenschreiben; auf den Umfang jeder einzelnen kam es dabei weniger an. Ein anderer Gedanke, den Birt auf die Spitze getrieben hat, dass der Umfang der Papyrusrolle die Länge des Werkes und infolge dessen auch die Bucheintheilung beeinflusste, (p. 5: Die antike Litteratur war mit bedingt durch das antike Buch", p. 9: SO muss ein Raumzwang existirt haben, dem die Autoren schon bei der Conception ihrer Werke selbst und während all ihres Producirens „, „gehorsamten"",1) ist schon von Bergk, Griech. Litt. 1, p. 497, Anm. 46 ausgesprochen: „Rücksicht auf den Raum, auf den Umfang der Papyrusrollen war bei dieser Eintheilung [nämlich der Homerischen Gedichte] wohl massgebend (obwohl später, wie der Papyrus von Elephantine zeigt, die Abschreiber nicht einmal an diese Gliederung sich kehrten), erst in zweiter Linie ward der Inhalt berücksichtigt."

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Viel haltloser und von vornherein abzuweisen ist die auf verkehrter oder wenigstens gezwungener Interpretation beruhende Hypo

1) Dazu bemerkt v. Wilamowitz, Homer. Untersuch. p. 369, Anm. 47 etwas grob, aber treffend: „es haben ja schon manche dem Zenodotos die bucheinteilung beigelegt: dass ich die durchschlagenden gründe anführe, geschieht, weil möglicherweise jemand die ausführungen des Birtschen uέya zazóv für mehr hält als spinneweben;" und Anm. 48: „das künstlerische gefühl bestimmt auch fortdauernd die buchgrösse (wie die bucheinteilung), die deshalb schwankend ist und bleibt: bei den späteren ist natürlich das berühmte muster mitbestimmend, und es bilden sich gewisse durchgehende formen aus, wie heute, aber dabei blieb es, dass die schriftsteller und nicht die buchbinder die bücher machten."

these, welche H. Landwehr gelegentlich der Besprechung des Birtschen Buches1) vorbringt, der gleichfalls in einer Beziehung wiederum schon an Bergk einen Vorgänger gehabt hat. Nach Landwehr sind Biẞiot ovμuyei Schriften bunt durcheinander, ohne Ordnung, ohne Recension", während mit durys diejenigen Bücher bezeichnet werden, welche aus der Anorthosis, der Ordnung und Textrecognition, hervorgegangen sind. Dass diese Erklärung die richtige sei, beweise der Text des Plautusscholions.2) Hierdurch würde es auch verständlich, dass in Pergamon nur Baia άлλй waren. Аn der Erhaltung der Bißio ovμuyɛic habe man kein Interesse gehabt, sie wären von den Ptolemaeern nur in der grossen Anzahl gekauft, um an der Hand verschiedener Exemplare die Anorthosis zu ermöglichen. Die Anorthosis des Kallimachos habe sich nur auf die duryɛłę, nicht auf die ovμuyɛis erstreckt. Dieses letztere war schon von Bergk, Gr. Litt. I, p. 274, Anm. 16 irriger Weise behauptet worden. Ich sage irriger Weise; denn an dieser ganzen Hypothese ist kein Körnchen Richtiges. Erstens ist die gewaltsame Trennung der Worte ὡς ὁ Καλλίμαχος von der ersten Zahlangabe, der Mischrollen, grammatisch ganz unzulässig. „Die Zahl der Mischrollen betrug 400000, die der einfachen Rollen aber 90000, wie Kallimachos berichtet." 3) Also von den 400000 Rollen soll Kallimachos nichts gewusst, sie absichtlich ignorirt oder sie nicht katalogisirt haben; nur die 90000 hat er berücksichtigt! Indessen, was der einen Zahl recht ist, ist der anderen billig. Wenn sich des Kallimachos Bericht oder Thätigkeit auf die 90000 beschränkte, wer hat denn die anderen Bücher aufnotirt, oder wer ist dann der Gewährsmann des Tzetzes für die erste Zahlangabe? Die kann Tzetzes doch nicht aus der Luft gegriffen haben, wenn die βίβλοι συμμιγείς schon so frühzeitig untergegangen sind, dass in Pergamon im letzten Drittel des ersten Jahrhunderts v. Chr. keine mehr vorhanden waren? Freilich hat Tzetzes den Bericht nicht aus erster Hand; aber mit Quellenanalyse kommen wir hier nicht weiter; es genügt, dass die von Tzetzes ausgeschriebenen Quellen auf Kallimachos oder einen Alexandrinischen Bibliothekskatalog zurückgingen. Kurz und gut, der Name des Kallimachos ist von beiden Zahlenangaben untrennbar. Existirten schliesslich in der Pergamenischen Bibliothek nur noch einfache" Rollen, so folgt daraus, dass die „Mischrollen", d. h. Sammelbände, bereits umgeschrieben und dabei, soweit es möglich war, in ihre Bestandtheile zerlegt, oder dass vorher

1) Philolog. Anzeiger XIV, p. 362.

2) Der Wortlaut des Plautusscholions beweist doch absolut garnichts, da wir das Original haben; am allerwenigsten der doppelsinnige Ausdruck (voluminum) digestorum", der bei Landwehr gesperrt ist. Es ist doch nur die Uebersetzung von duytis, der Erklärung von àлhai. Schon früher einmal hat er, wie wir oben sahen, Anlass zu thörichten Missverständnissen gegeben.

3) Oder nach der landläufigen Erklärung in der corrupten Fassung: So wie Kallimachos später nach der Anorthose von ihnen die Kataloge aufnotirte;" Birt p. 486.

nur „einfache" Rollen angekauft waren. Die Beseitigung der überkommenen Sammelbände mit planlos zusammengestelltem und aus den verschiedenartigsten Werken gebildetem Inhalt an Einzelschriften gehört noch heute zu den bibliothekarischen Idealen, deren Erreichung nur zu oft an der Unzulänglichkeit der vorhandenen Mittel scheitert, während für die antiken Bibliothekare dieses Hinderniss von selbst in Wegfall kam. Städtische und Privatbibliotheken und überhaupt die älteren Büchersammlungen werden schwerlich ihren Vorrath an werthvollen und alten Bücherschätzen, womöglich an Autographa, an die beiden neuen grossen Institute, sei es käuflich, sei es auf andere Weise abgegeben haben, wodurch die königlichen Gründer derselben genöthigt waren, die Werke zum Theil schon an Ort und Stelle abschreiben zu lassen. Dass dabei immer nur kleine Rollen in Anwendung kamen, ist selbstverständlich; schon weil auf diese Weise eine viel grössere Bücherzahl erzielt wurde. So konnten allmählich die Biẞ20 åлλat die Mischrollen verdrängen. Vielleicht hat aber Calvisius (Plutarch Anton. 58) die „Mischrollen" der Pergamenischen Bibliothek absichtlich gar nicht erwähnt, weil sie ihm entweder an Zahl zu unbedeutend oder werthlos erschienen und daher ihre Erwähnung unwesentlich war; er mochte seine Vorwürfe gegen Antonius etwa in folgender Weise ausgesprochen haben: „Denkt Euch, Römer, was dieser Antonius für ein schlechter Mensch ist. So hat er der Kleopatra die Pergamenische Bibliothek geschenkt, welche, um nur dies zu erwähnen und den sonstigen Inhalt derselben zu übergehen, allein an einfachen Schriften 200 000 Rollen enthielt." Plutarch giebt den Bericht hierüber nur in gedrängter Kürze wieder: Antonius habe, wie Calvisius ihm vorwarf, der Kleopatra die Pergamenische Bibliothek geschenkt, in welcher sich 200 000 einfache Rollen befanden.

Zweitens ist gegen die Erklärung Landwehrs einzuwenden, dass Kallimachos gar keine Anorthosis der Schriften unternommen hat; nirgends, weder in den Scholien, noch sonst wo, hören wir etwas von den Leistungen dieses ehemaligen Schulmeisters aus der Alexandrinischen Vorstadt Eleusis für die Textkritik der Schriftsteller.1) Aus den Worten uɛta Tv άvoodooi geht gar nicht hervor, dass es eine Anorthosis des Kallimachos war. Das war ganz anderer Leute Sache. In jenem Falle würde auch eher ἀνορθώσας oder διορθώσας gesagt sein. Zum Ueberfluss ist auch kurz vorher berichtet, dass Zenodot von Ephesos, Alexander Aetolus und Lykophron von Chalkis sich in die Ordnung und Recognitio der poetischen Litteratur getheilt haben. Von ihnen war Zenodot zugleich Chef der Bibliothek, wie denn in der Regel dieses Amt auch im Alterthum von Professoren der Philologie und der Philosophie bekleidet wurde. Von Kallimachos aber schweigt der Bericht; der hatte später mit dem Katalogisiren und seiner eigenen

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1) Vgl. auch Daub in den Jahrbb. f. Philolog. Suppl. XI (1880) p. 420

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Kallimachos hat einen Realkatalog der Alexandrinischen Bibliothek angefertigt. Es erhebt sich daraus nun die Frage, in welchem Verhältniss denn die ganz äusserliche Theilung der Rollen in „einfache" und „Mischrollen" zu demselben steht. Ohne Zweifel ist diese Unterscheidung zwischen βίβλοι συμμιγείς und ἁπλαί schon bei der ersten Inventaraufnahme gemacht, da sie für die bibliothekarische Praxis, für das Nachschlagen und für wissenschaftliche Untersuchungen ohne Werth war. Die Angabe des Kallimachos über die 400000 „Misch-" und 90000 „einfachen" Rollen beruhte demnach auf einer Art Inventarisationskatalog, der nach der Anorthosis durch den Realkatalog ersetzt wurde. Mit dem modernen Accessionsjournal ist derselbe daher nicht vergleichbar; ein solches gab es nicht, weil das Bedürfniss dafür fehlte. Jedes neu erworbene Buch erhielt einen Titel, oi22vßos, vielleicht mit Angabe der fortlaufenden Nummer, und wurde direkt in den Realkatalog eingetragen. In den späteren Berichten über die Buchzählung ist aus diesem Grunde die Scheidung in ovμmγεῖς und ἁπλαϊ nicht mehr aufrecht erhalten.

Nach alledem, was bis jetzt über den Begriff der „einfachen" und Mischrollen" erörtert ist, lässt sich an der oben gegebenen Deutung dieser Ausdrücke nicht mehr rütteln. Dennoch bleibt die Schwierigkeit in dem Missverhältnisse zwischen den beiden Zahlenangaben bestehen. Ja, wenn wir bestimmt wüssten, dass die Schätzung der vermischten Schriften zu 400000 Rollen auf einer späteren, nach Kallimachos' Zeit ausgeführten Zählung beruhte, so dass wir die Vielschreiber Chrysipp, Aristarch, Kallimachos selbst u. a. mitrechnen dürften, so würde kein Verständiger an den überlieferten Zahlen Anstoss nehmen, noch an der Existenz von 490000 Rollen (in der grossen Alexandrinischen Bibliothek, mit Hinzurechnung der Sarapeionsbibliothek 532800 und der Pergamenischen 732800) zweifeln.1) Nur darüber könnte man verschiedener Ansicht sein, ob die sogenannten Doubletten bei den àлλat mitzurechnen sind, oder ob sie von den Bibliothekaren unter die „Mischrollen" eingereiht wurden, so dass unter den 90000 „einfachen" Rollen jedes einzelne Buch eines einzigen Schriftstellers nur einmal vertreten war.

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1) Die Birtsche Zahl, p. 491: 1248000 Werke, beruht auf doppelter Kreide infolge einer verkehrten Schätzung der ovuμysis; er nimmt nämlich an, dass die ovμuyɛic auf wenigstens drei Werke veranschlagt werden = 1 200 000 Werke, dazu kämen 48000 duyɛiç, d. h. nach Abzug der 42 800 Doubletten, welche die Sarapeionsbibliothek erhielt, von den 90 000. Er hat aber dabei ausser Acht gelassen, dass innerhalb der Mischrollen verschiedene Combinationen möglich sind; gesetzt auch, es enthielt eine Mischrolle 3 Werke, so konnten sich diese und zwar jedes einzelne in mehreren Mischrollen, wenn auch in anderer Combination, wiederfinden. Dadurch wird die Zahl der Schriftwerke bedeutend verringert, aber die Rollenzahl vergrössert.

Wenn nun die Biẞ201 ovμuyet wirklich nichts anderes bedeuten können als Miscellanrollen, so müsste doch unter allen Umständen die Zahl derselben weit geringer sein als die der άлλα. Das ist eine ganz einfache Forderung jeder vernünftigen Anschauung. Ihre Zahl liess sich nur durch die Annahme verschiedener Combinationen innerhalb der einzelnen Sammelrollen vergrössern. Ein analoges Verhältniss hätten wir zwischen den Sammelbänden der modernen Bibliotheken und den Einzelschriften; diese sind stets jenen an Zahl überlegen, schon weil sich jeder Sammelband in mehrere Einzelschriften zerlegen lässt. Also und das ist eine unabweisbare Folgerung muss die angegebene Zahl fallen, und von den 400 000 Rollen kann keine Rede mehr sein! Damit würde allerdings das ganze schöne Gebäude, welches wir errichtet haben in unserer Vorstellung von dem immensen Bücherreichthum der Alexandrinischen Bibliothek zur Zeit ihrer Gründung, in nichts zusammenfallen. Es wäre wieder einmal das Vertrauen auf die Richtigkeit überlieferter Zahlen ein schöner Wahn gewesen. An sich ist etwa das Verhältniss von vierzigtausend συμμιγείς τη 90000 ἁπλαῖ eher denkbar als das überlieferte von vierhunderttausend zu 90000; aber gegen eine solche Correctur würden wieder die 200000 Pergamenischen „einfachen" Rollen sprechen. Noch besser wäre es, wenn wir die Zahlen bei Tzetzes vertauschen dürften: 90000 ovμμiyɛłę zu 400000 άлλaï ist immer noch annehmbarer als das umgekehrte Verhältniss 400000 zu 90000; aber dann haben wir wieder für die άлλαî eine zu grosse Zahl herausbekommen, die sich schwer mit dem damaligen Litteraturbestande vereinigen lässt. Bergk1) scheint an einen derartigen Reichthum der Litteratur geglaubt zu haben, da er, mit den meisten, an den überlieferten Zahlen festhält. Nun hat schon Becker in Pauly's Realencyclopaedie s. v. Bibliotheca 2) vermuthet, dass es statt 400000 vielmehr 40000 hat heissen sollen. Das ist freilich nichts anderes, als Durchhauen des Gordischen Knotens. Dass dies wegen der Parallelangaben hier unstatthaft ist, ist schon zu Anfang der Untersuchung hervorgehoben worden. Ist aber erst einmal das Vertrauen auf die Richtigkeit der Zahl 400 000 erschüttert, sind auch die 90000 „einfachen" Rollen unrettbar verloren, und wir stehen wieder einmal vor dem Nichts . . . ..

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So ist das Resultat unserer Forschung ein negatives geblieben. Das ist zwar traurig, aber doch im Interesse der Wahrheit und der Wissenschaft immerhin wünschenswerther, als dass sich Wahnvorstellungen und falsche Begriffe in unserem Hirne einnisten. Denn wenn diese erst einmal festsitzen und ein durch die Macht der Gewohnheit, durch die vis inertiae u. s. w. geheiligtes Alter erreicht und dadurch gleichsam das Bürgerrecht erworben haben, dann würde sie auszurotten eine Sisyphosarbeit sein. Doch so ganz fruchtlos ist unser Beginnen

1) Griech. Litt. I, p. 148 und p. 274.

2) Bd. 12, 2 p. 2374**; vgl. auch Bernhardy, Jahrbücher f. Kritik 1838,

Sp. 831.

VII. I u. 2.

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