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93) Ueber die Statistik des Auslieferungswesens vgl. meine ausführliche Darstellung des Auslieferungsrechtes, S. 71 ff. und 872 ff.

§ 113.

Stellung des Rechtes der Auslieferung im internationalen Strafrechte.

Wenn auch heute der Auslieferung ein hervorragender Antheil an der Verwirklichung der Gerechtigkeit zukommt, so ist doch die Begrün dung des Rechtes und der Pflicht der Auslieferung keineswegs unbestritten. Um uns über den Rechtsgrund der Auslieferung klar zu werden, müssen wir uns die Situation vergegenwärtigen, in welche der Urheber eines Verbrechens, dadurch, daß er sich vom Orte seiner Uebelthat in einen anderen Staat flüchtet, zu dem Staate des begangenen Verbrechens ebensowohl als zu dem Staate seiner Zuflucht geräth.

Wenn gegen Jemanden der Verdacht rege wird, daß er auf dem Gebiete eines anderen Staates als eben desjenigen, auf welchem er sich jezt befindet, ein Verbrechen begangen habe, entsteht die Frage, welche Haltung sowohl der Staat seines jezigen Aufenthaltes als auch jener, dem der Ort des Verbrechens angehört, diesem Individuum gegenüber einnehmen sollen. Um den Fall nicht von Anfang an unnöthig zu compliciren, wollen wir zunächst vorausseßen, daß die dem Betreffenden zur Last liegende That nach dem Rechte der beiden Staaten strafbar und zwar ungefähr in gleichem Maaße strafbar ist, und daß ferner andere Staaten von diesem Verbrechen nicht in directe Mitleidenschaft gezogen sind, indem sowohl der Verbrecher selbst als das durch das Verbrechen verlezte Rechtsgut einem der beiden oben bezeichneten Staaten und zwar, um den Fall noch mehr zu vereinfachen, jenem Staate angehören, in welchem die That verübt worden ist und nicht etwa jenem, in welchem der Thäter betreten wird.

Zwei Fragen sind es, die sofort an uns herantreten. Die erste geht dahin, ob unter diesen Voraussetzungen der Staat, in welchem sich der Urheber des ausländischen Verbrechens befindet, dieses Verbrechen blos deshalb, weil es nicht auf seinem Gebiete verübt worden ist, wird ignoriren können, oder ob er nicht vielmehr dafür wird sorgen müssen, daß den Uebelthäter gebührende Strafe treffe? Wird ihm also, mit anderen Worten gesagt, ein Strafanspruch gegen den auswärtigen Verbrecher zugestanden werden müssen oder nicht? Die zweite Frage aber ist die, ob der Staat, auf dessen Gebiete das Verbrechen. verübt worden ist, blos deshalb, weil der Urheber desselben sich jezt nicht mehr auf diesem Gebiete befindet, jeder Sorge um Bestrafung des Schuldigen sich wird entschlagen können oder ob nicht auch er darauf wird hinwirken müssen, daß der Uebelthäter, mag er sich wohin immer begeben haben, zur Verantwortung gezogen werde? Mit anderen Worten:

wird er auf die Ausübung des ihm aus dem Verbrechen zustehenden Strafrechtes verzichten können?

Es

Wenden wir uns zunächst der Erörterung der ersten Frage zu. Viele Autoren haben aus dem Sahe, daß ein Staat nur denjenigen Individuen Verpflichtungen auferlegen könne, welche sich auf seinem Gebiete aufhalten, den Schluß abgeleitet, daß sie auch nur diejenigen Personen bestrafen dürften, welche während ihres Aufenthaltes im Inlande, nicht aber auch jene, welche im Auslande ein Verbrechen verübt haben. Aber dieser Schluß ist falsch, da alle Prämissen desselben unrichtig sind. Zunächst ist es nicht richtig, daß ein Staat nur solchen Personen Verpflichtungen auferlegen könne, welche sich auf seinem Gebiete aufhalten; es ist vielmehr die Regel, daß die Staaten ihre Unterthanen auch während ihres Aufenthaltes im Auslande wenigstens von gewissen Pflichten nicht loszählen. Ferner ist es keineswegs richtig, daß die Grenzen der richterlichen Gewalt eines Staates nothwendigerweise mit denen der geseßgebenden Gewalt eben desselben zusammenfallen. würde dies nur dann der Fall sein, wenn das Verbrechen nichts anderes wäre als Uebertretung eines von einem Staate willkürlich aufgestellten Gebotes. Ist aber das Verbrechen eine unsittliche Handlung, deren Unterlassung nicht erst durch das Gesez zur Pflicht wird, für deren Unterlassung vielmehr das Gesetz nur in der gegen das pflichtwidrige Verhalten gerichteten Strafdrohung ein neues Motiv aufstellt, so ist es sehr wohl möglich, daß der Richter eines Staates berufen ist, auch über Jemanden, der außerhalb dieses Staates seiner Pflicht zuwider gehandelt, eine Strafe zu verhängen. Denn nach dieser Auffassung des Verbre chens wird sich sehr häufig ergeben, daß die Gesetzgeber verschiedener Staaten, indem sie gewisse Handlungen und Unterlassungen bedrohen, dabei von der Vorausseßung ganz derselben Pflichten ihrer Unterthanen ausgehen. Hiernach ist aber dann auch der Rechtsgrund der Bestrafung des Mörders und des Diebes in all diesen Staaten ganz derselbe, wenn auch der eine Mörder oder Dieb durch seine That unmittelbar und zunächst das Deutsche und der andere das Französische Gesez übertreten hat. Und eben deshalb kommt auch gar nichts darauf an, ob der Thäter zur Zeit seiner That gerade dem Geseze jenes Staates unterworfen gewesen ist, welches auf ihn in jenem Staate zur Anwendung gelangt, wo er wegen derselben zur Verantwortung gezogen wird. Entscheidend ist nur, ob er zur Zeit der ihm zur Last liegenden That unter der Herrschaft eines ihn zur Unterlassung des betreffenden Verhaltens verpflichtenden Rechtssages stand. War dies der Fall, so ist er strafbar, gleichgiltig, ob die Sanction dieses Rechtssaßes am Orte der That und am Orte des gegen ihn stattfindenden gerichtlichen Verfah. rens von einem und demselben oder ob sie von verschiedenen Geseß. gebern ausgeht.

Wenn wir also blos von dem Begriffe des Verbrechens ausgehen und von jeder positiven, gesetzlichen Anordnung über Bestrafung von im

Auslande begangenen Verbrechen absehen, so würden wir im geraden Gegensaße gegen Beccaria, Feuerbach, Abegg und so viele andere Autoren zu dem Ergebnisse gelangen, daß das Mandat zur Verfolgung und Bestrafung von Delicten, welches die Proceßordnung eines Staates Beamten oder Privaten ertheilt, sich auf die Verfolgung aller Personen erstreckt, welche wo immer eine That verübten, die sowohl nach dem Rechte dieses Staates als auch nach demjenigen Rechte, welchem der Thäter zur Zeit derselben unterworfen war, mit Strafe bedroht ist.

Ob nun das positive Recht eines Staates wirklich die Verfolgung auch wegen im Auslande verübter Verbrechen bez. wegen welcher der selben es sie zulassen oder anordnen solle, ist daher eine Frage, welche nicht aus dem Begriffe des Verbrechens, sondern welche nur mit Rückficht auf die Zwecke des Strafrechtes beantwortet werden kann. Wenn wir uns aber das Verhältniß vergegenwärtigen, in welches ein Staat zu Demjenigen, der außerhalb seines Gebietes ein schweres Verbrechen verübt hat, durch dessen Eintritt in das inländische Gebiet geräth, so werden wir finden, daß ganz dieselben Erwägungen, welche einen Staat überhaupt bestimmen, die Urheber von Thaten der betreffenden Art zu bestrafen, auch in einem solchen Falle den Zufluchtsstaat bestimmen müssen, dafür zu sorgen, daß jener ausländische Verbrecher1) nicht straflos aus. gehe, sondern daß er die ihm gebührende Strafe erleide. Würde es dem auswärtigen Verbrecher gestattet sein, ungestraft sich bei uns aufzuhalten, sich seines Verbrechens etwa noch in frechem Uebermuthe zu rühmen und die Beute desselben in ungestörter Ruhe zu genießen, so würde dadurch das Rechtsgefühl des rechtschaffenen Theiles unserer Bevölkerung auf's Empfindlichste beleidigt oder auf's Gefährlichste untergraben, die criminelle Disposition des zu Verbrechen hinneigenden Theiles derselben aber auf's Bedenklichste gesteigert werden. Die Kenntniß von der Anwesenheit eines jeden solchen Verbrechers, gegen welchen die Strafgewalt des Inlandes offenkundig auf ihre Macht verzichtet, würde zum Ausgangspunkte einer ganzen Reihe von Vorstellungen, welche das Rechtsbewußtsein der Bevölkerung des Aufenthaltstaates zersezen müßten. Der Umstand allein, daß das Verbrechen im Auslande verübt worden, würde den Eintritt dieser Folge nicht hindern.

Wollte ein Staat in mißverstandener Auffassung seines eigenen Interesses nur für Verfolgung und Bestrafung jener Uebelthäter sorgen, welche auf seinem Gebiete dem Strafgesete unterliegende Thaten verübt, so würde dieses Verhalten das Grundmerkmal der Selbstsucht an jich tragen: um geringe Nachtheile zu vermeiden, die Gefahren größerer heraufzubeschwören. Asylrecht kann ein Staat den Thätern schwerer Unthaten nur dann gewähren, wenn es ihm nur darum zu thun ist, Menschen von durch Civilisation ungebrochener Kraft des Körpers und Willens an sich zu ziehen, gleichviel, wozu sie diese Kraft verwenden, oder Reichthümer auf seinem Gebiete aufzusammeln, gleichviel wie dieselben erworben worden. „In dieser Weise faßte den Begriff des NüzHandbuch des Völkerrechts III.

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lichen der Gründer Roms auf. Als Romulus auf dem aventinischen Hügel einen Speer aufstellte, an dessen Spize das Abbild des räuberischen Adlers anbrachte und alle Räuber der Nachbarländer aufrief, unter seiner Fahne sich zu sammeln, verstand er das Nüzliche in diesem Sinne: „Kommt zu mir," rief er ihnen zu, ich werde Euch reich und glücklich machen, wenn Ihr nur tapfer seid; einfallen wollen wir in die Ländereien unserer Nachbarn, um mit ihrer Frucht unsern Tisch zu bestellen; in Ketten wollen wir die schwächeren Völker schlagen, um sie für unseren Vortheil arbeiten zu lassen; rauben wollen wir ihre Weiber, damit sie die Freude unserer Lager seien." 2)

Aber nicht blos das Interesse an der möglichsten Erhaltung des Rechtszustandes im Inlande, welcher durch den Aufenthalt eines noch nicht bestraften auswärtigen Verbrechers gefährdet oder gestört wird, auch das Interesse an der Erhaltung des Rechtszustandes außerhalb seiner Grenzen verpflichtet den Zufluchtsstaat, seine Strasberechtigung gegenüber dem auswärtigen Verbrecher, als die einzige, welche für die Dauer des Aufenthaltes desselben im Inlande realisirt werden kann, entweder durch Bestrafung des auswärtigen Verbrechers im Inlande oder durch dessen Auslieferung an einen auswärtigen Staat auszuüben. Dieses Interesse eines Staates an der Erhaltung des Rechtszustandes und an der Verhütung und Verhinderung künftiger Verbrechen im Auslande ist aber ein zweifaches. Einmal ist es ein allen civilisirten Staaten gemeinsames Interesse an der Erhaltung, Vertiefung und Verbreitung des bisher erworbenen Culturzustandes, wie auch eine Pflicht der Humanität: mitzuwirken, daß die Uebel und Leiden, von welchen die Menschen betroffen werden, Uebel, welche nicht blos in Naturereignissen im engeren Sinne, sondern ebenso auch in menschlichen Handlungen ihre Ursache haben, möglichst hintangehalten werden. Nun gehört aber das Bewußtsein, daß ein Ver brecher, auch nachdem er die Grenzen des Staates, in welchem er seine That verübt, überschritten habe, vor Verfolgung und Bestrafung nicht sicher sei, zum mindesten insoferne zu den Bedingungen der Abhaltung von verbrecherischen Entschlüssen und Thaten für die Zukunft, als es das Auftauchen der entgegengesezten Vorstellung verhindert, welche geeignet ist, für viele Verbrecher die psychische Wirksamkeit der Strafdrohung völlig zu vernichten. Deshalb aber ist jeder Staat berufen, in seinem eigenen und im allgemeinen Interesse die Verbreitung dieses Bewußtseins zu fördern. Zum Anderen hat aber jeder Staat an der Verhütung künftiger Verbrechen im Auslande ein specifisches Interesse, gegründet auf die in dem vielverschlungenen modernen Verkehre von Tag zu Tag häufiger werdende Gefahr, daß ein in dem einen Staate begangenes Verbrechen schon durch seine nächsten oder aber durch fernere Wirkungen Angehörige eines andern Staates in ihren Rechten verleße, eine Gefahr, welche ins besondere Heinze in Goltdammer's Archiv XVII, 567 ff. mit dramatischer Lebhaftigkeit ausgemalt hat.

So ist denn jeder Staat, welcher Jemanden, der irgendwo ein Ver

brechen begangen hat, in seine Gewalt bekömmt, berufen, im Interesse der gesammten menschlichen Gesellschaft für das Eintreten der nothwendigen Reaction gegen solche Thaten zu sorgen, welche die Lebensbedingungen der Gesellschaft gefährden.

Wir kommen also zu dem Schlusse, daß aus der Thatsache, daß der Urheber eines in einem fremden Staate verübten schweren Verbrechens das Gebiet unseres Staates betreten hat, dem lezteren die Pflicht erwächst, für die Bestrafung des ausländischen Verbrechers zu sorgen. Und zwar erwächst unserem Staate diese Pflicht aus ganz denselben Gründen, aus welchen er das Strafrichteramt gegenüber auf seinem Gebiete verübten Verbrechen übt: zur Vermeidung derselben nachtheiligen und zur Verwirklichung derselben günstigen Erfolge.")

Wenn wir nun durch die bisherigen Untersuchungen zu dem Ergebnisse gelangt sind, daß der Zufluchtsstaat einen Strafanspruch gegen den flüch tigen ausländischen Verbrecher besigt, so folgt hieraus keineswegs, daß er diesen Strafanspruch immer selbst geltend machen müsse. sehr wohl sein, daß der Zufluchtsstaat seiner Pflicht strafrechtlicher Reaction gegen den ausländischen Verbrecher weit besser dadurch nachkommt, daß er die Verwirklichung dieses Anspruches einem andern Staate überträgt, der ein concurrirendes Recht auf Bestrafung des Verbrechers wegen eben derselben That besißt. Insbesondere empfiehlt es sich in sehr vielen Fällen, statt selbst die Untersuchung wider ihn zu führen und selbst zu strafen, daß der Zufluchtsstaat den flüchtigen Verbrecher jenem Staate zum Zwecke der Untersuchung und Bestrafung überliefert, auf dessen Gebiete er das betreffende Verbrechen verübt zu haben beschuldigt ist. Denn von den Gerichten dieses Staates wird die Untersuchung darüber, ob der den Beschuldigten treffende Verdacht ein gegründeter ist, am eingehendsten geführt werden können, weil ja die Mittel sowohl des Anklage- als auch des Vertheidigungsbeweises aller Wahrscheinlichkeit nach in eben diesem Staate am leichtesten werden gesammelt und dem erkennenden Gerichte vorgeführt werden können. Und ebenso wird der Vollzug der Strafe an dem Schuldigen jene Wirkungen, welche man von ihm erwartet, aller Regel nach in der Nähe des Ortes der That am sichersten und am vollständigsten nach sich ziehen. Diese Ueberlieferung Desjenigen, den der Verdacht trifft, in einem anderen Staate ein Verbrechen verübt zu haben, an eben diesen Staat, damit dessen Gerichte die Schuld desselben untersuchen und für den Fall ihres Nachweises den Schuldigen bestrafen, ist es nun, welche man Auslieferung nennt. Und zwar ist dies, wenn auch durchaus nicht der einzige, so doch der in der Praxis weitaus wichtigste Fall einer Auslieferung von Verbrechern.

Die Auslieferung ist somit nicht blos ein Act der Rechtshilfe, d. h. der Beihilfe zur Verwirklichung des Rechtes durch einen anderen Staat, sondern gleichzeitig auch ein wahrer Act der Rechtspflege des ausliefernden Staates selbst.4)

Auslieferung sezt also stets Concurrenz von Strafansprüchen

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