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Im Gegensaße zu den Staaten des Europäischen Continentes haben aber England und die Vereinigten Staaten von Nordamerika grundsäßlich stets auch die Auslieferung ihrer eigenen Unterthanen in ganz demselben Umfange für zulässig erachtet, als die fremder Verbrecher. Das Englische Recht, welches in der Anschauung von der territorialen Begrenzung der Strasberechtigung der Staaten' tief befangen ist, und welches daher, abgesehen von einigen Ausnahmsfällen, eine Verfolgung des in seine Heimath zurückgekehrten Inländers wegen eines im Auslande von ihm verübten Verbrechens nicht zuläßt,5) hat in der That in vielen Fällen kein anderes Mittel, um die völlige Straflosigkeit eines Engländers zu hindern, der, nachdem er im Auslande ein Delict verübt, sich in sein Vaterland flüchtet.

Und so hat denn England in einigen Fällen die Auslieferung seiner eigenen Unterthanen gewährt, obwohl es in Kraft des betreffenden Vertrages zu derselben nicht verpflichtet war,) und haben die Vereinigten Staaten es bei Abschluß einiger Verträge durchgesetzt, daß die Anwendbarkeit derselben auf Angehörige des ersuchten Staates nicht ausgeschlossen wurde), während England, da es nicht vermochte, einige Europäische Staaten, denen es zunächst den Antrag gestellt hatte, einen auch zur Auslieferung der Angehörigen des ersuchten Staates verpflichtenden Vertrag abzuschließen, zur Annahme dieser Vereinbarung zu bestimmen, bei Abschließung von Verträgen mit diesen Staaten sich sogar entschlossen hat, die strenge Reciprocität aufzugeben, 7a) um sich ausdrücklich die Möglichkeit der Auslieferung Englischer Unterthanen, die der Verübung von Delicten im Auslande verdächtig sind, zu wahren. Demnach verpflichtete sich Großbritannien gegenüber Spanien, der Schweiz und Luxemburg in den Verträgen von 1878 und 1880 zur Auslieferung aller eines der aufgezählten Delicte verdächtigen Individuen, während die Schweiz, Spanien und Luxemburg nur die Pflicht der Auslieferung von Ausländern übernahmen.

Von anderen Staaten anerkennt m. W. nur Norwegen grundsäßlich und ausdrücklich die rechtliche Möglichkeit der Auslieferung von Inländern wegen Verbrechen, welche dieselben im Auslande gegen Ausländer verübt haben, während Dänemark und Schweden die Auslieferung der Inländer nur nicht geradezu ausschließen.8)9)

1) Vgl. z. B. Laband, Staatsrecht des Deutschen Reiches 1876, I, S. 153, Zorn, Staatsrecht des Deutschen Reiches, I S. 284 ff., bes. S. 288.

2) Vgl. über die Entstehungsgeschichte dieses Privilegs der Inländer, Auslieferungspflicht und Asylrecht, S. 384 ff.

3) D. R.-St.-G.-B. § 9, Oesterr. St.-G.-B. § 36 und 235, Desterr. St.G.-Entw. § 6, Ungarisches St.-G.-B. § 17. C. p. von Toscano Art. 9, Griechi. sche St..P.-O. von 1834 Art. 3, St.-G.-B. für Bern von 1866 Art. 4 (aber unter Vorbehalt der Staatsverträge Art. 5). Das Belgische, Luxemburgi.

Handbuch des Völkerrechts III.

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sche und Niederländische Auslieferungsgeseß bringen dieses Verbot dadurch zum Ausdrucke, daß sie bei Feststellung der Bedingungen, unter welchen die Regierung Auslieferung gewähren kann, nur von Ausländern sprechen.

4) Eben deshalb unterlasse ich es, all' die einzelnen Autoren aufzuzählen, welche sich für dieselbe ausgesprochen haben.

5) Vgl. meine citirte Abh. im Archiv f. öffentl. Recht I, S. 287 ff. 6) Vgl. über die Auslieferung Tourvilles an Oesterreich und die Nichtauslieferung Wilson's an die Schweiz meine ausführliche Darstellung S. 393 ff. 7) Vgl. z. B. den Vertrag mit der Schweiz von 1850.

7) Über die Bedeutung der Reciprocität, vgl. Auslieferungspflicht und Asylrecht, S. 65 f. und S. 89 f.

8) Vgl. Auslieferungspflicht und Asylrecht, S. 395.

Manche Staaten stellen selbst gewisse Kategorien angesiedelter Ausländer den Inländern gleich. Vgl. Auslieferungspflicht, S. 414 ff.

§ 118.

Gründe für die Auslieferung der Inländer.

In neuerer Zeit aber werden in allen Staaten die Stimmen immer häufiger, welche es empfehlen, das grundsägliche Verbot der Auslieferung von Jnländern aufzuheben.1)

Und in der That läßt es sich nicht verkennen, daß, je vollständiger die Umwandlung der Auslieferung aus einer ausnahmsweisen Gunstbezeigung einer Regierung gegenüber einer anderen in ein Institut des regelmäßigen Rechtes sich vollzieht, um so mehr die Befreiung der Inländer von der Auslieferung den Charakter der Singularität, der Ausnahme annimmt.

Die gegenseitige Gewährung der Auslieferung setzt ein gewisses Maaß von Vertrauen in die gerichtlichen Institutionen des anderen Staates voraus. Gegenüber einem Staate, dessen Rechtspflege unseres Vertrauens nicht würdig ist, dürfen wir daher überhaupt eine allgemeine Verpflichtung, ihm eines Verbrechens verdächtige Individuen, seien dieselben Inländer oder Ausländer, zu überliefern, gar nicht eingehen.

Hegt ein Staat aber Vertrauen in die Justiz eines anderen, so kann er diesem unterschiedslos die Auslieferung aller Individuen, welche eines schweren, nicht politischen Verbrechens verdächtig sind, also auch die Auslieferung seiner eigenen Bürger, gewähren. Ja er wird im Interesse der Rechtsfindung dies geradezu thun müssen. Mag ein Staat auch noch so sehr von der Ueberzeugung durchdrungen sein, daß sein Recht und daß seine Gerichte besser fungiren und vertrauenswürdiger seien, als die jenes fremden Staates, so wird er es doch nicht verkennen dürfen, daß die Beweise hinsichtlich eines in einem fremden Lande ver übten Verbrechens in eben diesem Lande viel vollständiger und deutlicher werden vorgeführt werden können, als in einem anderen, welches vielleicht weit von dessen Grenzen entfernt ist. Auslieferung ist eben Ueberlieferung an den judex proprius, an den judex delicti commissi. Die thatsächlichen Vorzüge des Verfahrens im forum delicti commissi können in vielen Fällen

durch keine Ueberlegenheit in der Beseßung eines anderen Gerichtes und in den Formen seines Verfahrens erseßt werden. Je mehr die Mündlichkeit und Unmittelbarkeit des strafgerichtlichen Verfahrens zur Geltung gelangt, desto unerträglicher wird ein Verfahren auf Grund von durch einen anderen Richter aufgenommenen und vor dem erkennenden Gerichte nur herabgelesenen Protokollen. Und doch wird regelmäßig der Beweis eines im Auslande verübten Verbrechens nur auf solche Protokolle gegründet werden können. Das erkennende Gericht wird ja nur in den seltensten Fällen die Zeugen einer im Auslande begangenen That selbst zu vernehmen in der Lage sein. Und wie bedenklich wäre es erst, wenn etwa die eine Gruppe von Zeugen (z. B. die Belastungszeugen) unmittel bar vor dem erkennenden Gerichte deponiren würde, während die Aussagen einer anderen Gruppe (z. B. der Entlastungszeugen) nur verlesen würden? Wie wenig Gewicht würden die lehteren blos in Folge dieses äußeren Unterschiedes haben, mögen sie auch noch so große Be. achtung verdienen. Wenn die beiden Grundsäge der Mündlichkeit und der Unmittelbarkeit des Strafverfahrens unseren continentalen Juristen einmal so tief in Fleisch und Blut übergegangen sein werden wie den Engländern, so werden auch sie nicht mehr geneigt sein, die Durchführung eines Straf. processes vor den Gerichten eines anderen Staates als dem des Thatortes zu begünstigen. Und je zuverlässiger in einem Staate dafür gesorgt ist, daß aus demselben nur solche Personen zur Auslieferung verurtheilt werden, gegen welche ein ernstlicher und gegründeter Verdacht besteht, daß sie in einem anderen Lande wirklich ein Verbrechen verübt haben, je sorgfältiger also das dem auf Auslieferung erkennenden Urtheile vor hergehende Verfahren geordnet und in je vertrauenswürdigere Hände dasselbe gelegt ist, desto gründlicher werden alle Bedenken gegen die Auslieferung der Inländer behoben sein.2)

Daher scheint es mir, trog der mannigfachen zu dessen Rechtfertigung angeführten Gründe gerechtfertigt und nothwendig, das gegen die Auslieferung der Inländer gerichtete Verbot fallen zu lassen. Keines wegs aber möchte ich es empfehlen, daß die Staaten sich sofort zur Auslieferung der Inländer, ebenso wie zu der der Fremden, verpflichten.

Die richtige Lösung dürfte vielmehr die sein, die Entscheidung dem einzelnen Falle vorzubehalten. Ergiebt dessen Prüfung, daß eine gerechte Entscheidung über die gegen einen Inländer wegen eines im Auslande von ihm angeblich verübten Verbrechens erhobene Anklage nur im Auslande möglich ist, daß das Beweisverfahren nur in jenem Staate, in welchem der Ort der That liegt, gründlich durchgeführt werden könne und daß eine Befangenheit der ausländischen Richter oder Geschworenen gegen unseren Mitbürger nicht zu besorgen sei, dann liegt gar kein Grund vor, die Auslieferung zu verweigern; dann wäre im Gegentheil die principielle Ablehnung derselben eine Hinderung der Rechtspflege. Diese Lösung der Frage entspricht auch allein jenen Grundsäßen, welche,

wie wir sehen werden, für den Fall der Auslieferung eines einem dritten Staate angehörenden Individuums schon heute gelten.3)

Die Auslieferung eines Inländers kann aber nicht blos zum Zwecke der Entscheidung über eine gegen ihn anhängige Strafklage, sondern auch zu dem der Vollstreckung einer ihm bereits zuerkannten, insbesondere einer von ihm im Auslande bereits theilweise verbüßten Strafe in Frage kommen. Zweifellos ist es unzulässig, das ausländische Strafurtheil über den Inländer im Inlande einfach zu vollstrecken. Aber auch gegen die Durchführung einer neuerlichen Untersuchung und Hauptverhandlung wegen des im Auslande verübten Delictes sprechen die oben angeführten Be denken gegen die Vertrauenswürdigkeit eines in einem anderen Staate als dem des Thatortes durchgeführten Processes. Daher dürfte es auch für diesen Fall am zweckmäßigsten sein, dem Zufluchts- und Heimathsstaate je nach Beschaffenheit des einzelnen Falles die Möglichkeit zu gewähren, seinen Angehörigen entweder zur Verbüßung der wegen eines ausländischen Delictes ihm zuerkannten Strafe (insbesondere im Falle der Verbüßung eines bloßen Restes derselben) auszuliefern, 4) oder, wo dies nicht zulässig erscheint, ihn nunmehr wegen derselben That auch im Inlande in Untersuchung zu ziehen und eventuell (selbstverständlich unter Anrechnung der im Auslande bereits verbüßten Strafe oder sonst ausgestandenen Haft, vgl. Art. 13. al. 3 des Belgischen Geseßes vom 17. April 1878) zu bestrafen.

In einer großen Anzahl von Verträgen, welche die Auslieferung eigener Unterthanen des ersuchten Staates ausschließen, findet sich im Zusammenhange damit die folgende Bestimmung: „Jedoch verpflichten sich die hohen vertragenden Theile, ihre respectiven Angehörigen, welche irgend eines der im Art. 1 aufgeführten Verbrechen begangen haben, in Untersuchung ziehen und vor Gericht stellen zu lassen, wenn die Gesetzgebung des ersuchten Landes wegen eines solchen Verbrechens, welches seine Angehörigen außerhalb seines Gebietes begangen haben, das Strafverfahren zuläßt.")

1) In Frankreich J. Favre und Picard (Moniteur 31. Mai 1866, Fiore Antoine No. 369) bei Gelegenheit der Verhandlungen des Corps légis, latif über das Gesez vom 27. Juni 1866; Bonafos 1. c. p. 103; Bernard II. p. 98; eigentlich auch schon Billot p. 67 ff. und Weiß p. 32 ff. Bomboy und Gilbrin, p. 29 ff. Vergl. auch Bregeault, De l'audition en matière criminelle des témoins résidants à l'étranger, Paris 1878. In Italien Fiore, No. 281 ff. (Fiore Antoine, No. 853 ff.); Olivi, Archivio giuridico XXXV. p. 396. In Spanien Gracia y Parejo, Estudio sobre la extradicion, Madrid 1884, p. 51 ff. und 171. In Deutschland v. Holzen. dorff, Die Auslieferung der Verbrecher und das Asylrecht, S. 12 ff. In der Schweiz Brocher, Annuaire 1879 I, p. 210 und Revue dr. intern. VII, 174 und König in seinem Vortrage vor der 18. Versammlung des Schweizer Juristenvereins S. 157. In Belgien Th. Wouters a. a. O. In den Niederlanden zum Theil schon Taunay, p. 30 ff. und insbesondere de Jonge in

seiner oben angeführten dieser Frage speciell gewidmeten Dissertation, sowie Hamaker im Archiv f. öffentl. Recht I. 272. Für Rußland s. die Erläuterungen zum Entwurfe eines St.-G..B. für Rußland (Allgem. Theil) St. Petersburg 1882, S. 53 f. jowie schon Witte, Meditationes de jure criminali respectu juris internat. institutae (1851) p. 63. in höchst eigenthümlicher Beschränkung. In neuester Zeit hat auch das Institut de droit international auf dem Congresse zu Oxford es ausgespro chen: Entre pays dont les législations criminelles reposeraient sur des bases analogues, et qui auraient une mutuelle confiance dans leurs institutions judiciaires, l'extradition des nationaux serait un moyen d'assurer la bonne administration de la justice pénale, parce qu'on doit considérer comme désirable que la juridiction du forum delicti commissi soit, autant que possible, appelée à juger." (These VI).

*) Ueber die Verwickelungen, welche sich in Folge eines Nationalitätswechsels des requirirten Individuums ergeben können, und über die Frage nach der Ord. nung jenes Verfahrens, in welchem die etwa bestrittene Nationalität desselben festgestellt werden soll, vgl. meine ausführliche Darstellung S. 402 ff, bezw. S. 410 ff.

3) Doch haben sich auch noch in neuester Zeit eine Reihe hervorragender Rechtslehrer für die Ausschließung der Auslieferung eigener Unterthanen ausgesprochen, so Wharton, Conflict of laws § 840; Prins, Revue droit internat. 1879, p. 80, und Annuaire de l'Institut V, 110; unter den Deutschen namentlich v. Bar, Gerichtssaal XXXIV. 492 und Geyer, Ztschr. für die gebil dete Welt III. 110.

4) These XII der Münchener Beschlüsse des Institut de droit international und vgl. selbst v. Bar im Gerichtssaal, XXXV. S. 589.

5) Vgl. Auslieferungspflicht und Asylrecht, S. 421 ff.

§ 119.

Beschränkungen in Betreff der Auslieferung von Angehörigen eines dritten Staates.

Der Fall, daß der flüchtige Verbrecher weder Unterthan des ihn reclamirenden Staates, noch Unterthan der um seine Auslieferung ersuchten Macht ist, sondern einer dritten Nation angehört, wird bei dem geläuterten Zustande des heutigen Auslieferungsrechtes in der Regel keine Schwierigkeit bereiten. In früheren Zeiten, so lange wegen politischer Delicte Auslieferungen gewährt wurden, waren Fälle dieser Art allerdings sehr häufig Ursache internationaler Differenzen. Das Recht, Aus lieferung zu fordern, gründet sich einzig und allein darauf, daß das requirirte Individuum in dem Gebiete des reclamirenden Staates ein Verbrechen verübt hat, und ebenso hat die Verpflichtung, diesem Begehren zu entsprechen, keinen anderen Grund, als die völkerrechtlich anerkannte Pflicht, Verbrecher der verdienten Strafe zu überliefern und sich im allgemeinen und im eigenen Interesse jeder Begünstigung derselben zu enthalten. Die Nationalität des Verbrechers hat grundsäßlich mit der

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