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welches die Beschuldigung damals allein gerichtet war, auch noch ein anderes, nicht politisches Delict (in idealer Concurenz) begründet ist, oder in welchen bei der Verhandlung über das die Auslieferung motivirende Delict neue, in dem Auslieferungsbegehren noch nicht erwähnte, weil damals eben noch nicht bekannte, Thaten gleicher criminalistischer Beschaffenheit aufkommen, (z. B. neue Fälschungen von Wechseln oder sonstigen Urkunden, neue Acte des Bankbruches), welche sich nur als Fortseßungsacte des bereits in dem Auslieferungsbegehren dem Ausgelieferten imputirten Delictes darstellen, oder mit Bezug auf welche dieses lettere nur als ein Act der Fortseßung jenes erscheint. Denn auch in diesen Fällen besteht wohl keine Gefahr eines dolosen Vorgehens des die Auslieferung ansuchenden Staates. 6)

Selbstverständlicherweise kann ein Staat, welchem Jemand wegen eines bestimmten Delictes ausgeliefert wurde, wenn sich nachher herausstellt, daß derselbe auch noch eines anderen, schweren Delictes dringend verdächtig ist, hinsichtlich dessen er aber den obigen Ausführungen gemäß, nicht verfolgt werden darf, nicht gehalten sein, diesen, nachdem er wegen des seine Auslieferung begründenden Delictes freigesprochen worden oder nachdem er die ihm wegen desselben zuerkannte Strafe verbüßt hat, fortdauernd auf seinem Gebiete zu dulden. Er wird vielmehr das Recht haben müssen, ein solches Individuum, und zwar auch dann, wenn es Inländer ist,) auszuweisen. Nach dem Rechte der meisten Verträge findet allerdings in einem solchen Falle keine unmittelbare Ausweisung statt, sondern wahrt sich der requirirende Staat nur das Recht, den Ausgelieferten, welchen er in kraft des Vertrages wegen eines Delictes, das ihm noch außer dem die Auslieferung begründenden Verbrechen zur Last fällt, grundsäglich nicht verfolgen darf, dennoch ausnahmsweise wegen dieser Thaten zu verfolgen und zu bestrafen, soferne derselbe es versäumt hat, nach Verbüßung seiner Strafe oder nach seiner Freisprechung binnen einer bestimmten Frist (regelmäßig 1 Monat oder 3 Monate) das Land zu verlassen, oder wenn er wieder in dasselbe zurückgekehrt ist.7")

In allen jenen Fällen, in welchen ein Staat in kraft der eben entwickelten Rechtssäße der Befugniß entbehrt, ein ihm ausgeliefertes Individuum wegen gewisser Delicte zu verfolgen, entbehrt er selbstverständlicherweise auch des Rechtes, denselben wegen einer solchen That an einen dritten Staat auszuliefern.)9) Besondere Rücksicht verdient endlich noch der Fall der Auslieferung dessen, der wegen mehrerer Delicte, von denen eines eine Auslieferungspflicht begründet, während dies hinsichtlich der anderen nicht der Fall ist, zu einer Gesammtstrafe verurtheilt worden ist. Für diesen Fall muß nämlich die Möglichkeit geschaffen werden, daß die Gerichte desjenigen Staates, dem der Betreffende ausgeliefert worden, im Wege einer Wiederaufnahme des Strafverfahrens, die Strafe hinfichtlich jener der concurrirenden Delicte, welche eine Auslieferungspflicht nicht begründen, von der bereits erkannten Gesammtstrafe in Abrech nung bringen können. 10)

Zum Schlusse entsteht noch die Frage, welche Wirksamkeit den Wünschen des Ausgelieferten selbst gegenüber den eben entwickelten Grundsäßen eingeräumt werden könne. Auf den ersten Blick möchte es scheinen, daß der Ausgelieferte, der ja zu dem Abschlusse des auf seine Auslieferung sich beziehenden Vertrages nicht mitgewirkt hat, auch durch seine Willkür den Bestimmungen dieses in's jus publicum gehörenden Vertrages nicht sich entgegenstellen könne, daß er also kein Recht habe, der in Folge dieses Vertrages erfolgenden Ausscheidung einzelner Punkte aus der gegen ihn zu erhebenden Anklage zu widersprechen und die Ausdehnung der Anklage auch auf diese Delicte zu fordern. Wenn wir aber bedenken, daß der requirirende Staat, welcher den Ausgelieferten wegen eines reservirten Delictes, zu dessen Verfolgung der ausliefernde Staat seine Zustimmung nicht gegeben hatte, nicht bestrafen darf, das Recht haben muß, ihn auszuweisen, werden wir dem Ausgelieferten, zum mindesten dann, wenn er ein Angehöriger jenes Staates ist, an welchen er ausgeliefert worden, das Recht einräumen, die Erhebung der Anklage auch wegen dieses vorbehaltenen Delictes zu fordern, um nachzuweisen, daß er desselben nicht schuldig sei und durch diesen Nachweis die ihm drohende Gefahr der Ausweisung abzuwenden. Nur fordert es Achtung vor dem ausliefernden Staate, welcher die Nichtbestrafung des Ausgelieferten wegen dieses Delictes zu einer Bedingung der von ihm gewährten Auslieferung gemacht hatte, daß die für diese That zu er kennende Strafe, wenn dem Ausgelieferten der Beweis seiner Nichtschuld nicht gelang, nicht vollstreckt, sondern daß die Verurtheilung als eine in contumaciam erfolgte betrachtet werde.

Zur Sicherung der Durchführung der eben dargestellten Rechtssäße bedarf es nun mannigfacher Anordnungen, welche allerdings dem geltenden Rechte der meisten Staaten bisher nahezu völlig fremd find. Zunächst ist es nothwendig, daß jener Staat, welcher eine Auslieferung gewährt, eine amtliche Erklärung über die Bedingungen abgebe, an welche dieselbe geknüpft ist, und daß diese amtliche Erklärung, dieses Ausliefe rungsdecret, wie man es nennen kann, dem zur Aburtheilung des Ausgelieferten berufenen Gerichte des requirirenden Staates vorgelegt werde.11)

Ferner muß das zum Verfahren wider ein ausgeliefertes Individuum berufene Gericht verpflichtet werden, sich an die Bedingungen zu halten, von welchen die Auslieferung abhängig gemacht wurde, d. h. es muß den Bedingungen dieses Staatsvertrages derogirende Kraft gegenüber den Gesezen zugetheilt werden. 12)13)

Und schließlich muß vertragsmäßig bestimmt werden, daß der Staat, an welchen eine Auslieferung erfolgte, verpflichtet sei, dem die Auslieferung gewährenden Staate eine amtliche Ausfertigung jenes Urtheiles oder sonstigen Gerichtsbeschlusses zuzumitteln, durch welchen das Verfahren gegen den Ausgelieferten zum Abschlusse gekommen ist, um dadurch den die Auslieferung gewährenden Staat in die Lage

zu sehen, zu beurtheilen, ob die Bedingungen, an welche die Auslieferung geknüpft war, eingehalten worden seien oder nicht.

Erst durch die Verwirklichung dieser Garantien gegen einen jeden Mißbrauch des Rechtes der Auslieferung zu Zwecken, für welche dasselbe von den Auslieferung gewährenden Staaten nicht bestimmt gewesen, werden die leßten Hindernisse beseitigt werden, welche einer von Jahr zu Jahr zunehmenden Ausbreitung dieses für die Verwirklichung der Gerechtigkeit heute bereits völlig unentbehrlichen Rechtsinstitutes derzeit noch entgegenstehen. 14) 15)

1) Dasselbe gilt auch für den Fall, daß die im Auslieferungsbegehren als vollendetes Verbrechen qualificirte That sich nur als ein versuchtes darstellt, oder daß sich ergibt, daß der Ausgelieferte nicht, wie man zuerst annahm, als Thäter, sondern als Anstifter oder als Gehilfe zu betrachten sei. Vgl. den Fall Rich bei Renault in der Revue droit internat. XIV (1882), p. 317 ff., Nr. 51.

2) Ueber das hier vertheidigte Maaß in der Beschränkung der Rechte des requirirenden Staates hinaus aber gehen der Englische Extradition Act von 1870, Sect. 3, Nr. 2 und Sect. 19, und, wie es scheint, auch der Italienische Entwurf eines Auslieferungsgeseßes, Art. 10, Nr. 1.

3) Vgl. auch v. Bar, Internat. Privat- und Strafrecht, S. 600, Anm. 26. *) Insbesondere dann, wenn es nur von ganz äußerlichen Umständen z. B: von dem Werthe der gestohlenen Sache abhängt, ob die That noch unter den Rahmen eines der im Vertrage aufgezählten Delictsthatbestände fält.

5) Vgl. die Entscheidungen des Französischen Cassationshofes vom 1. Febr. 1845 (Fall Wolff - Cromback), 18. December 1858 und 31. Mai 1877 (Fall Rich) bei Renault, Nr. 51; Bomboy und Gilbrin, p. 130 ff. Im Sinne dieser Entscheidung haben sich auch ausgesprochen Hélie, II, p. 721, Bard, p. 102, Haus, II, Nr. 964. Besonders bedenklich ist die mit dem arrêt WolffCromback, (j. d. bei Hélie a. a. D.) übereinstimmende Motivirung bei Bomboy - Gilbrin.

6) Und so hat die Praxis des Cassationshofes auch an Billot, p. 316, Renault, Nr. 51, und Bernard, II p. 517 ff., besonders 520 entschiedene Tadler gefunden (vgl. auch Fiore Antoine, Nr. 479), wie sie denn auch mit dem Ministerialcircular vom 5. April 1841, § 3 nicht vereinbar ist. 6a) Vgl. Auslieferungspflicht und Asylrecht, S. 769.

7) In der That erfolgt in Frankreich und in Belgien eine solche rémise de l'extradé à la frontière auch gegenüber Inländern. Vgl. Billot, p. 300 und 346 ff.; Goddyn und Mahiels, p. 219.

7a) Vgl. Auslieferungspflicht und Asylrecht, S. 775 ff.

*) So dürfte Preußen einen Russen, welcher ihm von Großbritannien wegen eines im Deutschen Reiche verübten gemeinen Delictes ausgeliefert worden ist. nicht etwa in Kraft des Vertrages vom 1. Januar 1885 an Rußland wegen Hochverrathes oder Majestätsbeleidigung ausliefern.

9) Vgl. auch These 24 der Orforder Beschlüsse und Art. 10, Nr. 4 des Italienischen Geseßentwurfes. In der Theorie haben sich m. W. nur Billot in der Revue générale d'administration 1878 (Juillet) und Bernard II, 522 in einem entgegengeseßten Sinne ausgesprochen.

10) Vgl. Einführungsgeseß zum Strafgeset-Entwurf für Desterreich, Art. XX. al. 4 und Auslieferungspflicht und Asylrecht, S. 774 j.

11) Vgl. These 25 der Oxforder Beschlüsse des Institut de droit internat. Preußische Denkschrift: „Die Bestimmungen der Auslieferungsverträge haben Gesezeskraft; die Vorschrift, daß ausgelieferte Personen wegen gewisser vor ihrer Auslieferung begangener Strafthaten nicht verfolgt werden dürfen, modificirt deshalb die nach § 152 St.-P.-D. dem Staatsanwalte „soweit nicht gefeßlich ein Anderes bestimmt ist" obliegende Verpflichtung zur Verfolgung aller gerichtlich strafbaren und verfolgbaren Handlungen. Deshalb hat der Staats. anwalt die Verfolgung des Ausgelieferten zunächst auf das Auslieferungsdelict zu beschränken.“ Vgl. die Entscheidung des Obertribunals vom 17. April 1879, dagegen aber auch einen Beschluß des Oberlandesgerichtes zu Celle vom 6. März 1880. Auch in Frankreich (und wohl ebenso in Belgien) wurden die Aus. lieferungsverträge lange Zeit von den Gerichten als Geseze aufgefaßt, durch deren Bestimmungen den sonst etwa in Betracht kommenden geseßlichen Vorschriften derogirt würde. Doch ist die Cour de Cassation in neuerer Zeit (seit 1851) von dieser Auffassung abgegangen, weil sie ihr im Widerspruch zu stehen schien mit dem Dogma von der Theilung der Gewalten. Vgl. hierüber die mir nicht ganz verständlichen Ausführungen Billot's, p. 306 ff. und insbesondere Ducrocq, Théorie de l'extradition 1867 (über die aus Anlaß des Falles Lamirande entstandenen Controversen). Am meisten empfiehlt es sich, dem Strafproceßgeseße eine Bestimmung. entsprechend der des Art. XX, al. 3 des E. G. zum Entwurf eines St.-G..B. für Desterreich einzuverleiben: „Die gerichttliche Verfolgung und Bestrafung der von einem fremden Staate ausgelieferten Person kann nur insoweit stattfinden, als dies nach dem Auslieferungsvertrage oder, wenn ein solcher nicht besteht, nach den Bedingungen der Auslieferungs. bewilligung zulässig ist.“ Vgl. über alle Detailfragen Auslieferungspflicht und Asylrecht, S. 801 ff.

13) Über Beschränkungen hinsichtlich des Vollzuges der Todesstrafe vgl. Aus. lieferungspflicht und Asylrecht, S. 499 ff.

14) über die Frage der Entschädigung für ungerechtfertigte Auslieferung und des Rücktransportes des freigesprochenen Ausgelieferten vgl. Auslieferungspflicht nnd Asylrecht, S. 817 ff.

15) Über die Parteienrechte des Ausgelieferten in dem im requirirenden Staate gegen ihn durchgeführten Verfahren vgl. Auslieferungspflicht und Asylrecht, S. 807 ff.

III. Theil.

Verträge über Rechtshiffe in Straffachen.

$131.

Vorbemerkungen über Rechtshilfe in Straffachen. Literatur: Eine selbstständige Literatur über Rechtshilfe in Strafsachen existirt nicht. Die einzige, einer hier einschlagenden Frage gewidmete selbstständige Schrift ist die von Bregeault, De l'audition en matière criminelle des témoins résidant en pays étranger, Paris 1878 (Extrait de la Revue générale du droit). In der Regel enthalten die dem Rechte und dem Verfahren der Auslieferung gewidmeten Darstellungen, so auch meine ausführliche Erörterung des Auslieferungsrechtes S. 821 ff. einen von den „accessorischen Verfahrungsarten" einer Auslieferung handelnden Anhang, welcher die Fragen der internationalen Rechtshilfe erörtert. Ich erlaube mir deshalb auf die Literaturangaben zu dem Abschnitte über die Auslieferungsverträge zu verweisen.

Die Nothwendigkeit vertragsmäßiger Festsetzungen von fremdenrechtlichem Charakter im engeren Sinne dieses Wortes, wie wir dieselben in Betreff des Verhältnisses der Ausländer zu der Civilgerichtsbarkeit des Staates, in dessen Gebiete sie sich aufhalten, kennen gelernt haben, entfällt in Betreff des Verhältnisses der Fremden zur Strafgerichtsbarkeit des Staates ihres Aufenthaltes.

Es liegt, abgesehen von ganz fingulären Verhältnissen, in der Natur der Dinge, daß Ausländer als Beschuldigte und Angeklagte in einem Strafprocesse nicht günstiger behandelt werden können als die Inländer; es widerstrebt aber auch schon auf einer verhältnißmäßig frühen Stufe der Entwicklung dem Gerechtigkeitssinne, sie ungünstiger zu behandeln, als die Angehörigen des eigenen Staates.

Auch vertragsmäßige Festsetzungen über die Bedingungen, unter welchen ausländische, in Strafsachen erflossene Urtheile im Inlande vollstreckt werden, sind nicht nöthig, da es ein nahezu allgemein anerkannter Grundsaß ist, daß ein Staat strafgerichtliche Urtheile eines anderen überhaupt nicht vollstreckt. In der That kann ein Staat jene tief in die Freiheit der Individuen einschneidenden Maaßregeln, als welche sich der Vollzug der allermeisten Strafmittel darstellt, nur auf Grund eines im Inlande durchgeführten gerichtlichen Verfahrens und

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