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Redaktionsnotiz.

DEUTSCHE

1896

An die Stelle der unserer,,Deutschen JuristenZeitung" leider allzu früh entrissenen Mitbegründer, des Reichsgerichtsrats Dr. Stenglein und des Justizrats Dr. Staub, werden vom 1. Januar 1905 ab neben Herrn Professor Dr. Laband die Herren Oberlandesgerichtspräsident Dr. Hamm, Köln, und Justizrat Ernst Heinitz, Berlin, beide den weitesten juristischen Kreisen bekannt, als Mitherausgeber dieses Blattes treten.

Die Rubrik:,,Juristische Rundschau", die seit der Erkrankung Staubs in dankenswerter Weise Herr Justizrat Dr. J. Stranz, Berlin, übernommen hatte, wird auch für die Folge von ihm bearbeitet werden.

Irgendwelche Aenderung in der Tendenz der,,Deutschen Juristen-Zeitung" tritt nicht ein; sie soll und wird auch fernerhin in dem bisherigen Geiste geleitet werden und sich als unabhängiges Zentralorgan für den gesamten deutschen Juristenstand in den Dienst der Wissenschaft und Praxis des Rechts stellen.

Die,,Deutsche Juristen-Zeitung" beschliefst mit dieser Nummer ihren IX. Jahrgang. Den herzlichsten Dank den zahlreichen Mitarbeitern, Gönnern und Freunden für ihre Unterstützung auszusprechen, ist uns beim Rückblick auf das Geleistete Bedürfnis. Möchten unserem Blatte die gleiche Unterstützung und dasselbe freundliche Interesse auch fernerhin entgegengebracht werden!

Deutsche Juristen-Zeitung.
Redaktion. Verlag.

Redaktion u. Expedition: Berlin W. 57. Potsdamerstr. 96. Fernsprecher VI 2564. Alleinige Inseratenannahme: Rudolf Mosse, Berlin SW. u. sämtl. Filialen. Inserate die 3 gesp. Nonpareillezeile 50 Pfg. Familienanzeigen u. Stellengesuche 40 Pfg. Bei Wiederholungen Rabatt. unverkürzter Quellenangabe gestattet.)

Die Erhöhung der Revisionssumme.
Vom Geh. Rat, Professor Dr. Wach, Leipzig.

Die überaus vielseitige Besprechung des Entwurfs eines Gesetzes, betr. Aenderungen der ZPO. v. 6. Mai 1904, ergibt folgendes Bild: fast allgemein erkennt man das Bedürfnis nach gesetzgeberischer Abhilfe an, aber man streitet über die Hilfsmittel. Der Kernpunkt des Streites bleibt, ob Erhöhung der Revisionssumme oder nicht. Dass man schlechthin bei der Negation nicht verharren darf, steht fest. Die Ablehnung des Entwurfs ohne Ersatz würde unsere Rechtspflege an höchster Stelle allgemach dem Stocken und Stillstand entgegenführen. Mit dieser Verantwortung kann das Parlament sich nicht belasten. Aber die Gefahr solchen Ausganges liegt nahe zufolge der vielen verwirrenden Gegenvorschläge und der Polemik gegen die Erhöhung

der Revisionssumme. Es kommt darauf an: weiss man etwas Besseres, als der Entwurf bietet? Mit Bestimmtheit behauptet solche Wissenschaft Professor Fischer1), gestützt auf den Senatspräsidenten Dr. Bolze.2) Letzterer sieht in der Schriftlichkeit des Verfahrens die Rettung, billigt aber eventuell die Erhöhung der Revisionssumme. Fischer lehnt diese schlechthin ab.

I. Die Notlage des Reichsgerichts als Zivilgerichtshof steht fest Nur Fischer bezweifelt sie. Er argumentiert mit der überflüssigen „Länge und Breite" der reichsgerichtlichen Urteile, der schwachen Leistungskraft alternder Richter, den „Uebergriffen" der Revisionsinstanz in das tatsächliche Gebiet und mit einer Vergleichung des Arbeitspensums des Reichsgerichts und anderer höchster Gerichte: sehr zuungunsten des ersteren. Aber man sollte doch nur Gleichartiges vergleichen; und unsere Revision. ist eigenartig. Daher ist auch alles Vergleichen deutschen und aufserdeutschen Rechts zur Bekämpfung der Erhöhung der Revisionssumme nicht ausschlaggebend. Was in Bulgarien und Monaco, ja selbst was in Frankreich und Oesterreich gilt, kann uns nicht vorbildlich sein, solange unser Rechtsmittel1) Jurist. Wochenschr. 1904 Nr. 39 43, S. 307 ff. 2) Leipziger Tagebl. 1904, Nr. 139, 142, 149, 151.

system und Volksleben nicht das dieser Länder ist. - Die Leistungen unseres Reichsgerichts in ihrer Gesamtheit, in ihrer Methode und ihrem Erfolg können, bei aller Kritik im einzelnen, nimmermehr zum Vorwurf selbstverschuldeter Ueberlastung dienen. Und wer wollte dem höchsten Gerichtshof Vorschriften über Urteilsabfassung und über die richtige Handhabung des Rechtsmittels machen oder gar einer Beeinflussung der Senate das Wort reden, wie Fischer sie in der Form von Personenverschiebungen durch das Präsidium für angängig hält?

Die Notlage des Reichsgerichts steht fest. Sie wird einmütig bezeugt durch den höchsten Gerichtshof selbst und die völlig unparteiische Anwaltschaft, und sie wird bewiesen durch die Statistik.

Die Statistik zeigt ein Sinken und Aufsteigen der Geschäftslast der Zivilsenate. Während im Jahre 1880 die Gesamtzahl aller Sachen, abgesehen von Beschwerden, Anträgen auf Bestimmung des zuständigen Gerichts und Armenrechtsgesuchen, 4540 betrug, sank diese Ziffer im Jahre 1890 auf 1877. Dann wuchs sie mit geringer Schwankung stetig bis auf 2673 im Jahre 1900. Nunmehr beginnt eine rapide Steigerung auf 2994, 3368, 3862 in den Jahren 1901 bis 1903 und 3525 bis zum 31. Oktober 1904. Diese Zahlen bedeuten die Jahreseingänge. Parallel läuft die Steigerung der Nebengeschäfte: von 489 Beschwerden i. J. 1881 auf 1247 i. J. 1900, dazu 660 Anträge auf Kompetenzbestimmung und 778 Armenrechtsgesuche. Von jetzt ab auch in diesen Nebengeschäften eine Zunahme bis zu 1936 Beschwerden, 820 Anträgen auf Bestimmung des zuständigen Gerichts, 1267 Armenrechtsgesuchen im Jahre 1903. Diese Progression hat 1904 angehalten. Wenn nun die Vermehrung des Richterpersonals bereits im Jahre 1898 angesichts der damaligen Geschäftslast unerlässlich war,1) so ist ohne weiteres klar, dafs dieses Personal gegenüber der seit 1901 eingetretenen Zunahme der Geschäfte unzulänglich sein mufs, zumal diese noch keineswegs beendet ist, vielmehr nach sicheren Anzeichen vorerst andauert. Daraus folgen wachsende Rückstände und Verzögerungen der Termine.

Die Reste betrugen an Revisionen und Berufungen am 31. Oktober 1904 bei den sieben Zivilsenaten 314, 351, 303, 336, 363, 391, 395, in Summa 2453, während die Parallelziffern des Vorjahres (31. Oktober 1903) waren: 234, 329, 217, 273, 286, 359, 271, in Summa 1969. Unter jenen 2453 Sachen waren 65 vorjährige, also im Jahre 1903 eingegangen. Wie viele am Ende des Jahres 1904 in das Jahr 1905 werden übernommen werden, lässt sich nicht voraussagen, allein sicherlich wird beim Steigen der Eingänge auch die Restzahl wachsen. Dem entsprechen die Zeiträume, welche zwischen dem Eingange der Revision und dem Termine liegen. Am 31. Oktober 1904 waren diese hinausgerückt

1) Die Eingänge betrugen im Jahre 1890 bei 48 Richtern: 3551; jetzt sollen 59 Richter über 8000 Eingänge bewältigen. In diesem Jahre beliefen sie sich bis zum 31. Oktober auf 7355 Nummern, gegen 7885 im ganzen Jahre 1903.

auf mindestens ein Halbjahr, bei einem Senat bis zum 12. Juli.1)

Wer wollte es wagen, angesichts dieser Tatsachen noch die Ueberlastung des Reichsgerichts und die Notlage zu bestreiten!

II. Welches sind die Gründe dieses Zustandes? Sie können nur in verzögerlicher Anlage des Verfahrens oder in der Masse der Geschäfte, vielleicht auch in beiden Umständen zugleich liegen. Als Hemmungsgründe des Verfahrens machen sich bemerkbar die Revisionspflicht des Gerichtes ohne Beschränkung auf die geltend gemachten Revisionsgründe, die Mündlichkeit und die damit zusammenhängende Befreiung des Rechtsmittelklägers von schriftlicher Antragstellung und Begründung bei Einlegung des Rechtsmittels. Dafs dieses eigenartig und sowohl von der preufsischen Nichtigkeitsbeschwerde wie den aufserdeutschen höchstinstanzlichen Rechtsmitteln, insbesondere der österreichischen Revision und dem französischen Kassationsrekurs, wesentlich verschieden ist, bedarf keiner weiteren Ausführung. Aber in dieser Eigenart liegt die Freiheit vom Formalismus und damit die höhere Garantie der Gerechtigkeit. Mit ihr wollen wir die Entlastung des Reichsgerichts nicht bezahlen. Gerade die Freiheit des Revisionsgerichts in der Nachprüfung der gesamten Rechtsanwendung zeichnet unser Revisionsverfahren aus und bewahrt es vor der Erstarrung, die die Verletzung des Prinzipes iura novit curia" und die Festnagelung auf die Beschwerdegründe der Partei zur Folge haben muss.

Eine Konsequenz dieser Struktur ist die Zulässigkeit neuer Revisionsgründe in der mündlichen Verhandlung und die Unmöglichkeit, die merita causae in einer Art Chambre de requête vorzuprüfen. Aber die daraus abgeleitete absolute Formfreiheit unserer Revision, ihre Reduktion auf die einfache Rechtsmittelerklärung ohne jede Wesentlichkeit der Anträge und Begründung in der Rechtsmittelschrift ist eine Uebertreibung und nicht ohne Nachteil. Es werden übereilte, grundlose Revisionen befördert; es erwächst dem Gericht und der Partei leicht Ueberraschung und Mehrarbeit durch spätes Auftauchen von Revisionsrügen. Das von der Kommission des Reichsgerichts unter dem 24. Januar 1904 erstattete Gutachten stellt fest, dafs jene verführerische Ungebundenheit häufig die verspätete Erkenntnis der Unhaltbarkeit der Revision im Gefolge hat. Im Jahre 1901 wurden von 2864 erledigten Revisionen und Berufungen 767 in anderer Weise als durch kontradiktorisches Urteil erledigt. Dieses Verhältnis bleibt annähernd das gleiche im Jahr 1902 und gestaltet sich noch ungünstiger in der Folgezeit. Unter den nicht durch kontradiktorisches Urteil erledig en Revisionen sind zweifellos zahlreiche, die, weil übereilt und ungenügend vorgeprüft, ihr ruhmloses Ende fanden. Die Begründung des Entwurfs spricht von 408 Fällen anno 1902, von 371 anno 1903. Und auch von den kontradiktorisch

1) Dabei hatte das Präsidium bereits durch Abwälzung von Sachen des VI. und II. Zivilsenats auf andere Senate nachgeholfen.

verworfenen Revisionen wären gewiss manche unterblieben, wenn der Einlegung die ausreichende Vorprüfung des Rechtsanwalts vorangegangen wäre. Aber dem Uebel ist ungemein schwer abzuhelfen. Mit der Forderung eines Antrags und einer Begründung wäre an sich noch wenig getan; denn angesichts der Bedrängnis würde das Gewissen sich beschwichtigen lassen und vorerst ins Blaue hinein beantragt und auf gut Glück begründet werden müssen vorbehaltlich der Verbesserung im Termin. Was wäre damit gewonnen? Auch von dem Mittelding einer obligatorischen Justifikationsschrift, die, wenn nicht gleichzeitig mit der Revisionserklärung, doch innerhalb bestimmter Frist bei Folge der Verwerfung des Rechtsmittels einzureichen wäre, ohne dafs Partei und Gericht letzteres abgesehen von den Anträgen an ihren Inhalt gebunden wäre, verspreche ich mir nicht viel. Man kann es befürworten, wird aber damit die geforderte Entlastung des höchsten Gerichtshofs sicherlich nicht erreichen.

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Und nun die Mündlichkeit. Unter ihr ist hier zu verstehen, dafs über die Revision nicht auf Grund der Akten, sondern nach vorgängiger mündlicher Verhandlung entschieden wird. Bolze und auch Fischer reden dem Uebergang zur Schriftlichkeit das Wort. Ich selbst fühle mich von jedem Mündlichkeitsfanatismus frei und darf zum Zeugnis dessen darauf verweisen, dafs ich in meinen „Vorträgen" ausgeführt habe, wie die Struktur des Rechtsmittels mit der Mündlichkeit als essentieller Erscheinungsform der Urteilsgrundlage nichts zu tun habe, und dafs Anträge und Begründung sich sehr wohl in zu wechselnde Schriftsätze verlegen liefsen; doch musste ich zugeben: „dafs die mündliche Form wünschenswert sein mag als das einfachere, lebensvollere Mittel."

In der Tat behaupten Richter und Rechtsanwälte des Reichsgerichts ganz überwiegend den Nutzen der Mündlichkeit. Schon in dem Bericht vom 15. Februar 1896 hat die Mehrheit der Reichsgerichtskommission es für bedenklich erklärt, auch nur dem Ermessen des Gerichtshofs die Anordnung mündlicher Verhandlung anheimzustellen. Und die Anwaltschaft steht einmütig für die Mündlichkeit ein. Mag auch das Richterreferat zugelassen werden, die Verhandlung des Revisionsangriffs in kontradiktorischer Form durch des Wortes mächtige, juristisch durchgebildete Anwälte wird des Nutzens nicht entbehren und im allgemeinen sicherer und besser informieren, als es durch den Berichterstatter aus den Akten geschehen könnte. Jedenfalls würde die Beseitigung der Mündlichkeit dem Verfahren die Beweglichkeit rauben und das Rechtsmittel unaufhaltsam auf der Bahn des Formalismus dem Kassationsrekurs oder der österreichischen Revision entgegenführen. Und ob dieser Wandel, solange die Revision nicht derartig degradiert wäre, wirklich wesentlich entlastend wirken würde? Bei fakultativer Mündlichkeit sicherlich nicht; denn wie wollte man sie angesichts der Freiheit ergänzender Anträge und Begründung versagen wenn nicht etwa nur

mangels der Formalien! Auch der oben erwähnte Bericht der Reichsgerichtskommission sagt: „Ueberdies wäre eine wesentliche Entlastung des Reichsgerichts auf diesem Wege kaum zu erwarten, da in zahlreichen Fällen die erste Beratung zu dem Beschlusse, in eine mündliche Verhandlung einzutreten, führen würde, womit dann ein doppelter Zeitaufwand verbunden wäre." Und dazu käme ein ungesunder Dualismus im Rechtsmittel, vielleicht eine ganz verschiedene Praxis des Senates und die der modernen Entwickelung widerstrebende Rückbildung des Verfahrens von der Oeffentlichkeit zur Heimlichkeit. Wir dürfen die berechtigte Hoffnung aussprechen, dafs dieser Versuch der Geschäftserleichterung des Reichsgerichts auf Kosten der Güte des Rechtsmittels uns werde erspart bleiben. Nur in den Formen des Entwurfs ist er annehmbar. Die Vorprüfung der Formalien und der Statthaftigkeit der Revision soll unter Zulassung münd— licher Verhandlung arbitrio iudicis ohne solche und mit entscheidendem Beschlufs erfolgen können (§ 554b). Das ist um so weniger bedenklich, als ja diese Prozedur auch in Strafsachen Rechtens ist. Eine selbstverständliche Folge sind die Bestimmungen über die Einlegung der Revision, die Einreichung der Revisionsschrift (§ 553) und deren amtliche Zustellung. Nur bringt auch das keine erhebliche Erleichterung des Gerichts. Denn schon die nach dem Gesetzesvorschlag allgemein erforderliche, der Zustellung und Terminsanberaumung vorangehende Vorprüfung wird nicht ohne bedeutenden Zeitverlust sein, der zu dem Gewinn einer sofortigen und glatten Erledigung ohne mündliche Verhandlung bei zweifellosem Mangel der Formalien oder der Statthaftigkeit leicht in ungünstigem Verhältnis stehen kann. Die Zahl solcher glatten Fälle wird immer gering sein.

Aus vorstehendem folgt, dafs, falls man sich nicht zu einer völligen Umgestaltung des Rechtsmittels, die seiner Degeneration gleichkäme, entschliefsen will, die Ueberbürdung des Reichsgerichts auf dem Wege der Prozedur nicht gehoben werden kann. Es ist daher der übermäfsigen Geschäftslast zu steuern entweder durch Vermehrung der Arbeitskräfte oder durch Minderung der Geschäfte.

III. Die Vermehrung der Arbeitskräfte lehnt der Entwurf ab, und man kann ihm trotz der dagegen erhobenen Einwendungen nur Recht geben. Eine ausreichende Steigerung des Personals liefse sich - auch bei Reduktion der Nebengeschäfte, besonders der Beschwerden nur gewinnen durch zwei neue Zivilsenate. Auch Fischer empfiehlt dem Reichstag, einen etwa verlangten achten oder neunten Senat zu bewilligen, und nimmt dabei in Aussicht eine besondere Armenrechtsabteilung. Damit aber würde sich das Reichsgericht monströs auswachsen. Es ist mit seinen 92 Richtern jetzt bereits an der Grenze des zulässigen Umfangs angelangt. Der Pariser Kassationshof zählt 49 Richter, der Brüsseler 17, das Wiener höchste Gericht 55. Der schwierige Kontakt zwischen den vorhandenen 7 Zivilsenaten würde bei deren Vermehrung un

möglich werden, die Geschäftsverteilung müfste eine immer gröfsere und schädlichere Zersplitterung denn sie erfolgt nach Materien - im Gefolge haben. Der horror pleni würde sich zum berechtigten Abscheu steigern. Denn wie soll eine Plenarversammlung von 73 Zivilrichtern und im Plenum der Strafund Zivilsenate von 106 Richtern funktionieren? Bolze vergleicht das Plenum mit grofsen Versammlungen von Aerzten, Naturforschern, Ingenieuren und Juristen, in denen doch auch nach Gutachten kluge Beschlüsse gefafst würden. Aber der Vergleich hinkt. Denn abgesehen von der nicht seltenen praktischen Bedeutungslosigkeit solcher Beschlüsse und der nicht minder seltenen Urteilslosigkeit mancher Beteiligten, sind diese Beschlüsse Resolutionen, die höchst subjektiv gefärbt sein können. Etwas derartiges aber erwarten wir vom Reichsgericht nicht. Es soll in thesi Recht sprechen, und zwar mit voller Verantwortlichkeit eines jeden votierenden Mitglieds. Kommt es nun vor, dass der Beschlufs mit geringer Majorität gefafst wird, so verliert er seinen inneren Wert; ist es nicht möglich, dafs die einzelnen Mitglieder des Plenums in den schwierigen zu diskutierenden Rechtsfragen ausreichend vorbereitet sind oder genügend zum Worte kommen, so wird das Plenum selbst zur Unmöglichkeit. Wir müssen es aber als eine lebensfähige Institution erhalten, wenn wir auch wünschen, dafs es nur mit grofser Zurückhaltung in Aktion trete. Der Vorschlag Fischers zur Herbeiführung von Scheinplenarbeschlüssen ein Scheinplenum, nämlich ein Gremium von Delegierten der Senate zu bilden, ist mit dem Wesen des Plenums wie der Stellung der Senate unvereinbar. Es wird sonach von einer Vermehrung des Personals Abstand zu nehmen sein.

IV. Es bleibt die Verminderung der Arbeitslast.

Hier bieten sich zunächst die kleinen Mittel, unter denen der Entwurf eine Auswahl getroffen hat Er will im § 547 Nr. 1 nur noch die Unzulässigkeit des Rechtsweges als einen von der Revisionssumme emanzipierten Revisionsgrund beibehalten. Wie wenig das sagt, legen die Motive S. 14 V dar. Und auch die empfehlenswerte Streichung der Nr. 2 des § 547, etwa mit Ueberweisung der preufsischen Sachen an das Kammergericht, würde nach den Darlegungen der Regierungsvorlage wenig bedeuten. Sie will ferner das Versäumnisurteil in revisorio unangreifbar machen, eine Mafsregel, über deren Nützlichkeit sich streiten läfst sie kann zu beträchtlichen Härten führen, die aber keinesfalls eine wesentliche Beschränkung der Arbeitslast zur Folge haben wird. Denn das Versäumnisverfahren macht keine sonderliche Mühe und ist unter Umständen der Verhandlung mit nicht genügend vorbereitetem Anwalt oder einer der Konnivenz der Anwälte entspringenden Terminsverlegung oder Circumduction vorzuziehen. Im übrigen werden bei zunehmender Länge der Induzien zwischen Revisionseinlegung und Termin verschleppende Versäumnisfälle kaum noch eine Rolle

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spielen. Der Entwurf will die Beschwerden wesentlich einschränken, und hiermit schafft er in der Tat eine nennenswerte Erleichterung (§ 565-569, 574, 577). Aber auch sie fällt nicht schwer ins Gewicht - denn das Schwergewicht ruht, wie von allen Kennern der Verhältnisse, besonders den Mitgliedern des Reichsgerichts selbst, zugegeben wird, in den Revisionen. Daher würde auch die Einschränkung der Beschwerden in Armenrechtssachen etwa auf die revisiblen oder eine Veränderung der Organisation zu ihrer Erledigung wenig nützen, ja bei selbständigem Beschwerdesenat nur schaden. Zu den fast bedeutungslosen, wenn auch möglichen Mitteln darf man noch die Uebertragung der Konsularsachen an andere Stelle zählen. Die Berufung in Patentsachen aber wolle man im Hinblick auf die sehr segensreiche Tätigkeit des Reichsgerichts ihm ja belassen.

Wir dürfen uns keinen Täuschungen hingeben: mit all diesen und ähnlichen Hausmitteln ist dem Patienten nicht zu helfen. Man kann ihn voll arbeitskräftig nur machen, wenn man die Revisionen einschneidend beschränkt. Die Ausscheidung der landesrechtlichen Fälle würde wesentlich Preufsen berühren, aber auch das Reich insofern, als das preufsische zu schaffende Revisionsgericht in eine unliebsame Konkurrenzstellung neben dem Reichsgericht träte, ähnlich dem obersten Landesgericht Bayerns. Im Reichsinteresse läge das nicht. Und dafs dadurch, wie Fischer meint, mehr als ein Fünftel der Sachen dem Reichsgericht abgenommen werden würde, ist eine unhaltbare Behauptung. Er folgert sie aus der zufälligen Zahl der landesrechtlichen im 55. Band der Entscheidungen mitgeteilten Urteile! Dem gegenüber ist festzustellen, dafs im Jahre 1903 in Rechtsstreitigkeiten, in welchen durch Klage oder Widerklage ein Anspruch auf Grund von geltenden landesrechtlichen Vorschriften geltend gemacht wurde, 168 kontradiktorische Urteile ergangen sind unter Ausschlufs von 47 Urteilen in Versicherungssachen. Im Jahre 1904 waren bis Ende Juni 97 solcher Urteile gefällt, zu denen 27 auf Versicherungssachen kommen: das ergibt gegen 7 bis 8% der kontradiktorisch erledigten Sachen.

Die Einführung einer Succumbenzstrafe ist, wenn sie wirken soll, odios, ja unerträglich und darf nicht mit Hinweis auf fremdes Recht befürwortet werden. Ich glaube nicht, dafs sie Fürsprecher finden wird. So ist das Erhöhen der Revisionssumme das ultimum remedium, das allein wirksame, aussichtsvolle und daher unerlässliche Mittel zur Befreiung aus der wachsenden Not.

Man wendet ein Gründe des Gefühls und der Politik, der Gerechtigkeit und Praktikabilität. Ueber Gefühle läfst sich nicht streiten; aber das Unlustgefühl darf uns nicht hindern, das zu tun, was das Staats wohl erheischt. Es soll unpolitisch, plutokratisch und eine Verkümmerung der Rechtsgleichheit, eine Schädigung des Vertrauens in die Rechtspflege sein, wenn nur dem hohen Geldinteresse sich die Pforten des höchsten Gerichtshofs

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öffnen. Solche Worte wirken und schrecken; wahr sind sie um deswillen nicht. Und wären sie wahr, so wäre unsere ganze Rechtspflege ein Meer von Ungerechtigkeit, denn sie ist aufgebaut auf der Differenzierung nach dem Werte der Sache. Die geringwertige Sache, die amtsgerichtliche, mufs sich mit zwei Instanzen und der Aburteilung durch Amtsund Landgericht begnügen. Die höherwertige geniefst die gröfsere Fürsorge in landgerichtlicher und oberlandesgerichtlicher Judikatur. Und nur die höchstwertige kann ans Reichsgericht gelangen. Das ist unser System. Danach litten Millionen von Sachen alljährlich an „Rechtsverkümmerung“, denn sie haben keine dritte Instanz, wäre der Arme zugunsten des Reichen schwer geschädigt; denn wann prozessiert

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er über Werte von mehr denn 1500 M.? Von „Vertrauen“ in die Rechtspflege, wenn solches durch Erhöhung der Revisionssumme erschüttert" werden könnte, dürften wir überhaupt nicht mehr reden. Man hüte sich doch vor solchen, auf die urteilslose Menge berechneten Phrasen. Haben wir nicht die Tatsache, dafs gerade zufolge einer volkstümlichen Bewegung die Gewerbe- und die Kaufmannsgerichte

in ganzen Gruppen von Sachen der Unbemittelten in erster und letzter Instanz sprechen! Also wir suchen die Wahrung der Gerechtigkeit nicht im Recht der drei Instanzen. Die dritte Instanz soll zwar, wo sie eingreift, der Gerechtigkeit dienen aber ihr Zweck ist die Rechtseinheit. Darüber ist erfreulicherweise heute kaum noch Streit. Und wenn man einhält: auch die Rechtseinheit werde durch die Erhöhung der Revisionssumme gefährdet weil durch sie noch mehr Gegenstände als bisher dem Rechtsmittel entzogen würden, so ist man dafür den Beweis schuldig geblieben. Es ist nicht wahr, dafs die Differenz von 1500 und 2000 bzw. 3000 M. sich mit Kategorien von Rechtssachen decke.

Beachtenswerter erscheint der Einwurf: die gewollte Steigerung der Revisionssumme werde die Notlage des Gerichts nicht heben; auch zukünftig werde die Arbeitslast mit dem vorhandenen Personal nicht zu bewältigen sein. Die Höhe der Entlastung nach der Vorlage zu beziffern, ist freilich nur annäherungsweise möglich. Die Wertgrenze von 3000 M. würde nach sorgfältiger statistischer Aufstellung etwa die Revisionen um 30% mindern; bei der jetzt vorgeschlagenen Modalität schätzen die Motive die Minderung auf 23%, also doch nahezu ein Viertel der bisherigen Arbeitslast wozu die Entlastung von Nebengeschäften (Beschwerden) hinzutritt. Das bedeutet den Rückgang von 4000 Revisionen auf wenig über 3000. Nun erledigten die sieben Zivilsenate im Jahre 1904 bis zum 31. Oktober 2987 Revisionssachen gegenüber einem Eingang von 3525. Es ist also ersichtlich, dafs der Reduktion der Eingänge um nahezu ein Viertel ihre restlose Erledigung entsprechen würde. Genau so stellt sich die Berechnung für die Vorjahre. Also auch diese Bemängelung des Regierungsvorschlages ist hinfällig.

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Von Justizrat Dr. von Gordon, Berlin.

Selten wohl sind im preufsischen Abgeordnetenhause soviel juristische Ausführungen gehört worden, wie am 1. und 2. Dezember 1904 anlässlich der Interpellation Cassel-Brömel u. Gen. über den Berliner Schulstreit. Mit Recht hob der Kultusminister hervor, dafs es sich um eine aufserordentlich verwickelte Rechtsfrage handelt. Zu einer Uebereinstimmung über die Rechtslage kommt es ja in derartigen Verhandlungen politischer Körperschaften selten. Diesmal ist es aber m. E. auch nicht zu einer vollkommenen Klärung der für die Streitfrage wesentlichen Gesichtspunkte gekommen. Diese letztere ist keineswegs nur von lokaler Bedeutung für Berlin oder andere Grofsstädte. Stoff zu derselben ist vielmehr überall da gegeben, wo eine politische Gemeinde freiwillig oder gezwungen die Schullast übernommen hat. Da das in Aussicht stehende Schulunterhaltungsgesetz die Schullasten allgemein den bürgerlichen Gemeinden übertragen will, so gewinnt die Frage dadurch noch ganz besonders an praktischer Tragweite.

Turnvereinen

Hier kurz der Tatbestand: Der Berliner Magistrat hatte polnischen, tschechischen und sozialdemokratischen Turnvereinen Gemeindeschul - Turnhallen lediglich zum Turnen aufserhalb der Schulzeit und ferner der freireligiösen Gemeinde die Schulaula zur Abhaltung von Andachten für Jugendliche an den Sonntagen zur Verfügung gestellt. Die Schulaufsichtsbehörde beanstandete dies in Anbetracht der von diesen Vereinen betätigten politischen bezw. religiösen Haltung, die dem Schulinteresse und dem allgemeinen allgemeinen staatlichen Interesse widerstreite. Der Magistrat lehnte den Ausschlufs der Vereine ab, da durch die Ueberlassung der Schulräume der Schulbetrieb in keiner Weise berührt werde. Die Stadt sei Eigentümerin der Schulgrund-. stücke, das Provinzial-Schulkollegium daher nicht berechtigt, über dieselben, soweit sie nicht zum Schulbetriebe gebraucht würden, irgendwelche Anordnungen zu treffen. Der Kultusminister ordnete aus diesem Anlass für den ganzen Bereich der preussischen Monarchie an, dafs die Benutzung der für Elementarschulen bestimmten Gebäude zu anderen Zwecken als zu denen des öffentlichen Elementarunterrichts der

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