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schwerer Benachteiligung weiter und wichtiger Volkskreise geführt hat und zweifellos weiterhin führen wird; zu einer Benachteiligung, empfindlich genug, um die Bedenken gegenüber einer Antastung des Gesetzbuches zurücktreten zu lassen.

Fraglich kann nur sein, auf welchem Wege Besserung zu schaffen sei, ohne die Interessen des Publikums gegenüber den Tierhaltern allzusehr zu unterdrücken. Eine Unterscheidung nach Tierarten ist zweifellos insofern ratsam, als alle Bedenken gegen § 833 sich nur auf das Halten von Haustieren beziehen; mit Recht wollte Entw. II und will nunmehr der Antrag Treuenfels nur ihretwegen die strenge Haftung mildern. Dagegen scheint es kaum ratsam, unter den Haustieren wieder nach der individuellen Nützlichkeit zu sondern. Die Grenze könnte man schwer ziehen man denke an grofse Hunde die sowohl zur Bewachung von Ställen und Höfen, als daneben zum Luxus gehalten werden. Die durch sie etwa drohenden Gefahren lassen sich auch auf anderem Wege auf ein Minimum reduzieren: durch Maulkorbzwang und andere polizeiliche Anordnungen, deren Nichtbefolgung den Halter zugleich ohne weiteres einer Haftpflicht nach § 823 Abs. 2 aussetzen würde.

Nicht zum Vorbild geeignet ist ferner das Haftpflichtgesetz: Personen- und Sachbeschädigungen durch Tiere verschieden zu behandeln, liegt keinerlei Anlafs vor, und der eigentümliche Gesichtspunkt einer Haftung nur für die Folgen der „Betriebsgefahren würde bei Tierschäden nicht oder doch nicht lückenlos zum Ziele führen vielfach zu weit gehen, andererseits gerade in manchen krassen Fällen (gegenüber Luxustieren!) versagen.

Will man von der unbedingten Haftung ablassen, so bleibt somit schwerlich ein anderer Weg übrig als der in dem Antrag Treuenfels eingeschlagene. Was diesen noch besonders empfiehlt, ist einmal das Vorbild eines grofsen Teils der bisherigen Rechte, zum andern die Anlehnung an die Haftpflicht des Geschäftsherrn für Hilfspersonen, § 831. Wer sich fremder Kräfte bedient, mag gleichmässig für sie einstehen, seien sie vernunftbegabt oder vernunftberaubt. Aber die Verantwortlichkeit für Tiere, gegen deren naive Feindseligkeit das Publikum sich in der Regel leichter schützen kann als gegen die Beschädigung durch einen vernünftigen, aber gerade darum auch oft raffinierteren Menschen, stärker anzuspannen, als die für Hilfspersonen, das scheint mir durch die Anforderungen der Vernunft im Recht" in keiner Weise begründet zu sein.

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samer gestaltet wird, dafs sich das Geständnis, lange nach dem Urteil, als unrichtig herausgestellt hat. Dass wir vor einem Rätsel stehen, ist zweifellos sicher ist aber nicht, ob das Rätselhafte in der Psyche des Geständigen, eigentlich der beiden Geständigen, oder in dem Hergange selbst gesucht werden soll.

Der Fall wurde seinerzeit1) bis zum Urteil, von dem in der Sache intervenierenden Staatsanwalt, OLGR. Dr. Aug. Nemanitsch, geschildert. Ich entnehme dieser Darstellung kurz das Wesentlichste.

Am 16. April 1900 verschwand die 1888 geborene Johanna Bratuscha in Prassdorf bei Monsberg nächst Pettau aus ihrer Heimat; ihr Vater, der Winzer Franz Bratuscha, machte hiervon Anzeige bei der Gendarmerie, welche dann vergebliche Nachforschungen nach dem Kinde anstellte.

Einige Zeit darauf entnahm Franz Bratuscha einer Zeitungsnotiz, dafs man bei Spielfeld in einer Hütte die Leiche eines unbekannten Mädchens gefunden habe. B. schrieb zuerst an den Pfarrer von Spielfeld, begab sich selbst dahin und erklärte nach den ihm gegebenen Beschreibungen, dafs das gefundene Mädchen sein verschwundenes Kind sein müsse; man zeigte ihm die rückbehaltenen Kleider des Mädchens, B. agnoszierte sie als die seines. Kindes, erklärte, er habe den Stoff zu den Kleidern selbst gekauft und sei bereit, Reste desselben dem Gerichte zu senden, von welchen die Flicke der Kleider genommen worden sind. Sohin wurden die fraglichen Kleider dem Franz B. ausgefolgt, er nahm sie mit sich. Hiermit schien die Sache beendet, der Gendarmeriewachtmeister behielt sie aber doch im Auge, weil er erfahren hatte, dafs auch ein zweites Kind, die 1891 geborene uneheliche Tochter der Therese Holz in St. Leonhard bei Marburg verschwunden sei. Die Th. Holz erklärte auf Befragen, das Kind sei bei einem Bauer in Wildon, ihr unbekannten Namens, in Dienst.

Die Lage und Entfernung der genannten Orte ist wichtig: Am südlichsten liegt Monsberg; nördlich, etwas gegen Osten, liegt St. Leonhard, 26 km entfernt; 22 km von Leonhard, genau nördlich von Monsberg, ist Spielfeld (42 km von Monsberg); 23 km nördlicher als Spielfeld liegt Wildon (alles Luftlinie gemessen).

Der Gendarm erreichte am 29. März 1901 von der Holz das Geständnis, dafs sie ihr krankes Kind ausgesetzt hat (bei der Hauptverhandlung gestand sie, es erwürgt zu haben). Es konnte nun sichergestellt werden, dafs das in Spielfeld tot gefundene Kind das der Therese Holz war, und es mufste somit die durch B. erfolgte Agnoszierung falsch sein. Diese war, wie erwähnt, hauptsächlich auf Grund der vorgewiesenen Kleider erfolgt, sie bleibt aber unter den obwaltenden Verhältnissen doch auffallend genug. Darauf, dafs die beiden Kinder drei Jahre auseinander waren, dafs also die Kleider verschiedener Gröfse gewesen sein mögen, soll kein Gewicht gelegt werden, da unter Umständen der Unterschied ver

1) In meinem „Archiv für Kriminal anthropologie und Kriminalistik, Bd. VII p. 300.

Die Frau B. wurde wegen Vorschubleistung (Hilfe bei Beseitigung der Leiche) zu 3 Jahren schweren Kerkers verurteilt.

schwinden kann; wohl aber mufs bedacht werden, dafs B. die Kleider seines Kindes gekannt haben mufs. Er lebte in grenzenloser Armut, es wird sein Kind also keine Auswahl von Kleidern gehabt haben, und aufserdem berief er sich bei der Agnoszierung auf solche Einzelheiten, dafs nur absichtlich falsche Angabe angenommen werden kann. Und hätte er sich doch getäuscht, so ist dies bei seiner Frau, der Mutter des verschwundenen Kindes, geradezu ausgeschlossen.

Als nun festgestellt war, dafs das in Spielfeld gefundene Kind nicht das des B. sei, nahm ihm die Gendarmerie die Kleider wieder ab; B. erschien bei dem Gendarmerie wachtmeister und benahm sich so auffallend, dafs der Wachtmeister sofort in der Behausung des B. eine Haussuchung vornahm. Er fand noch Kleider, angeblich vom verschwundenen Kinde, glaubte an ihnen Blutspuren zu entdecken, und als er den B. zur Rede stellte und Auskunft über den Verbleib des Kindes verlangte, gestand er, dafs er sein Kind erwürgt habe. Dieses Geständnis wiederholte B. dann vor dem Bezirksgerichte in Pettau, dem Untersuchungsrichter, dem Schwurgerichte und nach der Verurteilung vor dem Vorsitzenden der Verhandlung. Er liefs sich auch aus freien Stücken dem Untersuchungsrichter vorführen und ergänzte freiwillig seine Angaben dahin, dafs er auch Teile des Kindes gegessen habe; er hätte das Kind in elendem Zustande im Wald gefunden, habe es mit den Händen erwürgt und die Leiche verborgen. Abends brachte er diese heim, zerstückelte sie mit einem Messer unter Hilfe seiner Frau und verbrannte die Leiche im Ofen. Einige Stücke habe er von den Oberschenkeln abgeschnitten, auf einem irdenen Teller gebraten und gegessen; er habe gelesen, dafs wilde Völker Menschenfleisch essen und „davon nicht sterben".1) Die Knochen habe er auf den Mist geworfen.

In der Voruntersuchung wurde alles unternommen, um für die Angaben des B. objektive Grundlagen zu finden; namentlich wurden die Nachforschungen nach dem verschollenen Kinde fortgesetzt, es wurde eine Haussuchung nach Anhaltspunkten vorgenommen, auf dem Düngerhaufen allerdings Knochen gefunden, diese aber als Tierknochen erkannt. Die Blutflecken auf den Kleidern des Kindes wurden sachverständig nicht untersucht, was als erklärlich bezeichnet werden darf, da doch das Geständnis vorlag.

Die Frau des B. hatte ihre Mitwirkung bei dem Zerstückeln des Leichnamis und dem Verbrennen desselben anfangs zugegeben, dann geleugnet und nach Ablegung einer Beichte wieder zugegeben. Auch nach der Verhandlung, als B. schon zum Tode verurteilt war (er wurde später zu lebenslangem schwerem Kerker begnadigt), erklärte er zu Protokoll: Alles, was er über seine Schuld und die seiner Frau gesagt habe, sei „die volle und reine Wahrheit“.

1) Tatsächlich wurde in seinem Besitze ein Buch „,Australien und seine Bewohner" gefunden, in welchem von Kannibalismus die Rede ist.

So war nunmehr die Sache rechtskräftig beendet, als im August 1903 die Anzeige einlangte, man habe beim Bezirksgericht Gurkfeld in Krain eine Diebin in Haft, die anfangs einen falschen Namen angab und jetzt zugebe, dafs sie die verschwundene Johanna Bratuscha sei. Selbstverständlich wurden sofort genaue Erhebungen gepflogen, die schliesslich alle Zweifel beseitigten: das geständigermafsen ermordete, verbrannte, zum Teile von ihrem eigenen Vater verzehrte Mädchen lebt. Während nun diese letztgenannten Identitätserhebungen im Zuge waren, und man in Marburg diesfalls nichts Bestimmtes wufste, hatte B. dem Staatsanwalt in der Strafanstalt gesagt, er habe von der Auffindung seiner Tochter gehört: „für diesen Fall" bitte er um Wiederaufnahme des Strafverfahrens. Der St.-Anw. erklärte dies für selbstverständlich, fügte aber bei, was denn zu geschehen hätte, wenn sich das Gerücht nicht bewahrheitete und das Mädchen nicht die Tochter B.'s sei? Dieser gab nun die schwer auszulegende Antwort: „Dann soll alles beim alten bleiben". Auch die Mithäftlinge des B. hatten erfahren, dafs seine angeblich ermordete Tochter gefunden wurde; sie bemerkten an ihm aber weder Aufregung noch Freude, er war in seinem Benehmen völlig unverändert, und als die Gefangenen den B. fragten, was er denn zu tun gedenke, sagte er ruhig: „Die Gendarmen haben mich hergebracht, sie sollen mich auch wieder fortbringen".

Wie gesagt, war das Mädchen aber doch B.'s Tochter, er wurde im Sinne des § 360 österr. StrPO. freigesprochen und befindet sich jetzt in Untersuchungshaft wegen Verleumdung seiner Frau. Er behauptet, der Gendarm habe ihm zuerst das Geständnis erprefst, und dann habe er sich gedacht: „ein Mann ein Wort" und habe deshalb das einmal abgelegte Geständnis nicht mehr zurückgenommen!

Sehen wir uns nun den Verlauf des Falles näher an, so erhebt sich zuerst die Frage, ob nicht etwa leichtsinnig vorgegangen worden ist; ich nehme es auch den Tageszeitungen nicht übel, wenn sie jetzt, in Kenntnis des Endverlaufes erklären: Man hätte es wissen müssen, dafs das, mit so schauderhaften Einzelheiten ausgestattete Geständnis unwahr sei. Aber der Kriminalist mufs nach sorgfältigem Studium der Akten und genauer Ueberlegung des Herganges doch zur Ueberzeugung kommen, dafs der viel mifsbrauchte Satz: tout comprendre, c'est tout pardonner in unserem Falle gerechte Anwendung findet. Wir wissen allerdings, dafs ein Geständnis kein Beweis, sondern ein Beweismittel ist; aber welchen Wert ein Geständnis hat, das weifs auch der Laie, und das hat auch das Gesetz (deutsche StrPO., namentlich §§ 253 und 402, auch indirekt § 136 österr. StrPO., namentlich §§ 25, 202, 204, 206, auch indirekt § 199) zum Ausdruck gebracht. Für unseren Fall war namentlich der Schlufssatz des § 206 mafsgebend: „Ist das Ge

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1. hat die Frau des B. dessen Geständnis bestätigt; 2. ist das angeblich ermordete Mädchen tatsächlich verschwunden; 3. wurde bei der Haussuchung ein Anzug des Kindes gefunden, und durfte angenommen werden, dafs das Kind der in allerärmsten Verhältnissen lebenden Leute kaum einen zweiten Anzug besessen haben möchte, mit dem es noch existieren könnte; 4. hat B. zweifellos dolose, gegen besseres Wissen, das Kind der Therese Holz als das seine bezeichnet, was nur so zu erklären war, dafs er den Verdacht des Mordes an seinem eigenen Kinde von sich abwälzen wollte; 5. hat der 10jährige Sohn des B. angegeben, es sei zur fraglichen Zeit einmal nachts der Ofen so stark geheizt worden, dafs er seine Schlafstätte (auf dem Ofen) für diese Nacht verlassen mufste; 6. ist B. festgestelltermafsen gegen seine Kinder oft unglaublich roh und grausam gewesen; so hat er z. B. dem genannten 10 jährigen Knaben mit einem Steine das Gesicht zerschlagen

weil der Wind dem Kinde den Hut enttragen hatte; 7. liegen eine Menge von Beweisen dafür vor, dafs B., der übrigens ein sehr intellige: ter Mensch ist, dem Aberglauben arg unterliegt, so dafs die Annahme nahe lag, er habe die Tat aus Aberglauben begangen '); dies konnte als genügendes Motiv angesehen werden.

Fafst man diese Momente zusammen, so mufs zugegeben werden, dafs ein umfassendes, vielfach unterstütztes Geständnis vorlag; weitere Erhebungen wurden zum Teil vorgenommen, zum Teil waren sie der Natur der Sache nach ausgeschlossen. Man setzte die Nachforschungen nach dem Kinde fort; man durchsuchte alles und veranstaltete umfassende Nachgrabungen. alles war, wie man wohl voraussetzen konnte, vergeblich. Das einzige, was versäumt wurde, war die Untersuchung der Flecken auf den Kleidern des verschwundenen Kindes, die man durch Uhlenhuth 2) auf ihre Qualität als Menschenblut hätte untersuchen lassen können. Aber wenn dies geschehen wäre, wenn sich ergeben hätte, die Flecken sind Tierblut oder überhaupt nicht Blut wäre dann keine Anklage, kein Schuldspruch erfolgt? Man hätte mit vollem Recht gesagt: „Nach den Angaben B's. hat er das Kind erwürgt, und bevor er es zerstückelte, hat er es völlig nackt ausgezogen wie sollten da Blutspuren auf die Kleider kommen? Das negative Ergebnis war zu erwarten.“

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1) Tatsächlich ist der Aberglaube sehr verbreitet, dafs „einem niemand bei Gericht etwas anhaben kann“, oder dafs man unsichtbar werden kann, wenn man Fleisch vom eigenen Kinde ifst.

2) Allerdings wurde diese Methode erst kurz zuvor bekannt (Ende 1900 durch die Deutsche Mediz. Wochenschrift (No. 46) und Anfang 1901 durch das „Archiv f. Krim.-Anthropologie und Kriminalistik", Bd. VI S. 317).

Nach dem damaligen Stande müssen wir sagen: Den B. nicht anklagen, ihn nicht verurteilen, wäre nach dem vorliegenden Materiale nicht zu rechtfertigen gewesen, wir sind eben nicht all wissend.

Aber auch jetzt, nachdem wir wissen, dafs das Geständnis erlogen ist, können wir uns den Hergang nicht erklären und nur Vermutungen aufstellen. Möglich ist:

1. Die Erklärung B's.: das Geständnis wurde ihm durch den Gendarmen erprefst. Irgend eine Wahrscheinlichkeit hierfür liegt aber absolut nicht vor. Abgesehen davon, dafs man dem bestbeleumundeten Wachtmeister eine so völlig sinnlose Erpressung nicht zutrauen kann, haben umständliche Erhebungen ergeben, dafs sie nicht vorgekommen sein kann. Endlich wird diese Erklärung dadurch hinfällig, dafs B. das Geständnis vor vier, sagen wir: Instanzen wiederholt hat. Und seine Behauptung, er habe sich zum Tode verurteilen lassen, weil er festhielt an dem Spruche: „Ein Mann Ein Wort" dies ist kaum ernst zu nehmen.

2. Die slovenische Presse klärt die Sache einfach dahin auf: B. sei von seinen Richtern, die mangelhaft slovenisch sprächen, mifsverstanden worden! Diese Erklärung fällt in sich zusammen, da B. vortrefflich deutsch spricht, und da erhobenermafsen alle Beamten, die mit B zu tun hatten, gut slovenisch sprechen. Aufserdem ist ein Mifsverständnis hier nicht denkbar, da eine lange, eingehende Schilderung eines so grauenhaften Vorganges verwechselt worden sein soll mit der Erklärung: „Nein, ich hab's nicht getan."

3. Im Volke wird behauptet, B. habe lediglich Versorgung im Kerker haben wollen. Das ist unwahrscheinlich, weil er da nicht ein todeswürdiges Verbrechen auf sich genommen hätte, zumal er entsetzliche Angst vor dem Gehenktwerden ausgestanden hat. Aufserdem widerspricht dieser Auffassung en schieden sein Vorgehen mit der Agnoszierung des Holzschen Kindes, welches in raffinierter Weise gerade auf Exkulpierung gerichtet war.

4. Ausgeschlossen ist auch geistige Störung nicht. Aber die Gerichtsärzte, welche den B. während der ganzen Haft beobachtet haben, schliefsen das Vorliegen einer solchen aus. 1)

5. Es wurde auch die Möglichkeit aufgeworfen, dafs das Geständnis B's. teilweise wahr sein könnte. Zweifellos ist er dem Aberglauben in weitgehender Weise unterworfen, es ist also möglich, dafs er irgend ein Kind zu abergläubischen Zwecken getötet, vielleicht auch verbrannt und teilweise verzehrt hat. Als er sich nun zum Geständnis gedrängt sah, glaubte er vielleicht günstiger zu fahren, wenn er sein eigenes Kind als getötet angab. Man könnte auch annehmen,

1) Meine persönliche Meinung geht allerdings dahin, dafs sich bei Bratuscha später eine primäre Verrücktheit in irgend einer paranoischen Form entwickeln wird, da die Aerzte das gegenwärtige Vorliegen nicht annehmen. Es wird von vielen Zeugen auf das verschlossene, dann wieder aufbrausende Wesen des B., sein vieles Beten (auch halblant bei der Nacht) und darauf hingewiesen, dafs er oft geistesabwesend vor sich hinstierte". Dazu sein ganzes, doch unerklärliches Benehmen im Laufe des Prozesses.

dafs die „blutigen" Kleider, die der Gendarm im Hause des B. fand, nicht die seines Kindes, sondern die des fremden, ermordeten Kindes waren; als nun der Gendarm diese „blutigen" Kleider fand, wufste sich B. nicht anders zu helfen, als wieder diese als die seiner Tochter anzugeben. Allerdings ist auch hier einzuwenden, dafs B. doch mit auffallender Schlauheit das Kind der Holz als das seine darzustellen suchte, was keinen Sinn hatte, wenn er ein fremdes Kind getötet hat. Ebenso mufs auffallen, dafs jetzt des B. Kind trotz der grenzenlosen Armut der Eltern (deren Hütte samt allen Habseligkeiten überdies vor kurzem abgebrannt war), zwei Anzüge gehabt haben soll. Einen Anzug (Jacke, Oberrock, 2 Unterröcke) hat der Gendarm gefunden, und einen Anzug mufs das Kind bei der Flucht auf dem Leibe getragen haben. Diese Argumentation könnte zu dem Schlusse führen, dafs der vom Gendarm gefundene Anzug doch wieder von einem fremden ermordeten Kinde stammt! Jede versuchte Lösung - auch die Annahme von Geistesstörung entweder im Tatsächlichen oder im Psychologischen energisch auf Widerstand vielleicht bringt die Zukunft doch Licht in die seltsame Sache. Aber wir lernen aus ihr mancherlei: vor allem wieder, welche Rolle der Zufall spielt; hätte die Bratuscha nicht in Gurkfeld gestohlen, hätte man den von ihr angegebenen falschen Namen geglaubt, so hätte das Gericht vielleicht nie davon Kenntnis bekommen, dafs die angeblich Ermordete noch lebt. Dann: wie anders sieht ein Prozefs aus, wenn zufällige Momente hinterdrein auftreten, wie leicht ist es dann, in der Prozefsführung einen Fehler

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der Zeit. Wir haben schon oft betont, dafs unser Richterstand das Mifstrauensvotum nicht verdient hat. Warum soll der juristische Vorsitzende des Kaufmannsgerichts die Sache besser und schneller machen, als der mit der gleichen Vorbildung und Erfahrung ausgerüstete Amtsrichter? Man hätte das amtsgerichtliche Verfahren reformieren sollen, und es hätte nichts geschadet, wenn man diese Reform in Angriff genommen und die Angelegenheit der Kaufmannsgerichte darüber noch auf einige Jahre vertagt hätte! Auf alle Fälle aber wird die Einrichtung der Kaufmannsgerichte das Gute haben, dafs man allgemein von der Reformbedürftigkeit des amtsgerichtlichen Verfahrens überzeugt wird. Ruhig und ohne Ueberstürzung wird man nunmehr an dieses Reformwerk gehen können. Der Prozefs des kleinen Mannes bedarf in der Tat eines glatteren und schleunigeren Verfahrens nach dem Vorbild des gewerbegerichtlichen, und nichts wird uns irre machen in der Ueberzeugung, dafs nur das Verfahren, nicht der Richterstand schuld ist, wenn das amtsgerichtliche Verfahren immer weniger populär wird.

So wird ja auch die Reform des_Strafprozesses nicht gefordert, weil der Richterstand den Aufgaben nicht gewachsen sei, weil er die erforderlichen Fähigkeiten des Geistes oder Charakters nicht habe. Wenn, wie wir das in voriger Nummer betont haben, Garantien gefordert werden dafür, dafs schon im Vorverfahren der Standpunkt des Angeklagten mehr als bisher zur Geltung kommt und in der Hauptverhandlung alle von dem Angeklagten zur Stelle gebrachten Beweise erhoben werden, nicht blofs solche, die das Gericht erheben will, so werden alle diese Forderungen keineswegs von Misstrauen gegen die Richter diktiert. Dafs die Richter das Richtige wollen, ist selbstverständlich. Niemand wird wagen, unserem trefflichen, von den Richtern keines anderen Landes übertroffenen Richterstand gegenüber einen solchen Gedanken auszusprechen, und auch in unseren Bemerkungen in der vorigen Nummer ist das ausdrücklich betont worden, dafs von irgend welchem bösen Willen auf Seiten der Richter überall keine Rede ist. Aber auch der Richter, der das Richtige will, kann irren und trotz seines guten Willens das Falsche treffen. Es handelt sich deshalb darum, ein Verfahren zu finden, in welchem der Angeklagte seinen Standpunkt wirksam zur Geltung bringt, damit schon im Laufe des Vorverfahrens die entlastenden Momente in einem der Gerechtigkeit entsprechenden Umfange berücksichtigt und in der Hauptverhandlung alles, was zur Entlastung des Angeklagten beitragen kann, dem Richter unterbreitet werde. Wenn im Laufe solcher Diskussionen die gegenwärtige Voruntersuchung als eine einseitig geführte bezeichnet wird, so ist damit gesagt, dafs der Angeklagte, da er den Zeugenvernehmungen nicht beiwohnen, die Akten weder selber, noch regelmässig durch seinen Verteidiger einsehen kann, nicht wirksam genug seinen Standpunkt geltend machen kann. Eine. solche Voruntersuchung ist ihrem Wesen nach einseitig und im wesentlichen auf die Belastung des Angeklagten gerichtet. Der beste Richter kann daran nichts ändern. Die Personen der Richter sollen mit solchen Darstellungen und Forderungen auch nicht entfernt getroffen werden. Wir heben dies nochmals hervor, weil wir hören, dafs hier und da in richterlichen Kreisen die gegenteilige Empfin

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dung herrscht. Es braucht doch nicht betont zu werden, dafs gerade uns gegenüber solche Empfindungen unberechtigt sind. Haben wir wirklich noch nötig, darauf hinzuweisen, wie oft wir, besonders auch an dieser Stelle, für den Richterstand eingetreten sind?

Zwischen der Stadtgemeinde Berlin und der Grofsen Berliner Strafsenbahn-Gesellschaft ist ein Prozefs im Anzuge, der das allgemeine Interesse in Anspruch zu nehmen geeignet ist, obwohl es sich im wesentlichen um die Auslegung eines bestimmten Vertrages handelt. Die Strafsenbahn erhebt dagegen Einspruch, dafs auf denjenigen Linien, auf welchen ihre Schienen sich befinden, unten die Untergrundbahn errichtet wird. Das würde ihrem eigenen Geschäftsbetrieb Konkurrenz machen. Wäre dieser Gesichtspunkt richtig, so hätte der Strafsenbahn schon gegen die bisherigen Linien der Hoch- und Untergrundbahn ein Anspruch zugestanden. Denn in gewissem Umfang machen auch diese ihr Konkurrenz. Doch läfst sich ohne genaue Einsicht des Vertrages ein Urteil über die Streitfrage nicht abgeben.

Rufsland erhält nächstens ein Bürgerliches Gesetzbuch. Charakteristisch sind einzelne Vorschriften des allgemeinen Teiles, so § 2: „Jedermann geniefst alle bürgerlichen Rechte ohne Unterschied des Geschlechts, Glaubensbekenntnisses, der Abstammung und des Standes, nur mit den im Gesetze angeführten Ausnahmen." Ferner § 3: Jedermann hat das Recht, sich niederzulassen und zu wohnen, Vermögen jeder Art zu erwerben und ein Gewerbe zu betreiben, wo er will, nur mit den im Gesetz angeführten Ausnahmen." Es kommt nur darauf an, von welcher Art und welcher Zahl die Ausnahmen sind. Indessen, über Rufsland soll man ja nichts Ungünstiges sagen.

Vermischtes.

Staub.

Der Etat der preufsischen Justizverwaltung für 1904 bringt eine ganz besonders grofse Stellenvermehrung. Es sind 135 neue Richter- und 15 neue Staatsanwaltsstellen, dazu 200 Stellen für Gerichtsschreibereibeamte vorgesehen. Trotz dieses Entgegenkommens des Finanzministers steht dennoch bei der aufserordentlichen Steigerung, die die Arbeit der Gerichte infolge des Aufblühens der Industrie sowie ihres zeitweisen Niederganges erfahren hat auch nach der drohenden Abzweigung der Geschäfte für die neuen Kaufmannsgerichte, zu befürchten, dafs auch die jetzige Stellenvermehrung den wirklichen Bedarf keineswegs decken, dafs vielmehr die Ueberlastung der Gerichte zum Nachteile des rechtsuchenden Publikums immer noch andauern wird. Es dürfte angebracht sein, dafs einmal das Normalarbeitspensum des Richters wenigstens annähernd festgestellt werde und danach eine erschöpfende Neuschaffung von Stellen erfolge. Die bisherigen Stellenvermehrungen entsprechen fast immer nur ungefähr der Bevölkerungszunahme, ohne dafs zugleich die schon seit Jahren vorhandene, in den letzten Jahren der wirtschaftlichen Depression gesteigerte Unterbilanz an richterlichen Arbeitskräften ausgeglichen wurde.

In dem Etat für 1904 erscheinen ferner die Gehälter fir die neuen Amtsgerichtsdirektoren. In No. 1 1904 d. Bl. hatten wir eine Vergleichung der Stellung des aufsichtführenden Amtsrichters in den verschiedenen deutschen Bundesstaaten gebracht. Durch den neuen Gesetzentwurf

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Ein dem Landtage ebenfalls jetzt zugegangener Entwurf betr. die Abänderung des Gesetzes über die Regelung der Richtergehälter v. 31. Mai 1897 ordnet lediglich den Uebergang der höheren Justizbeamten, deren Gehälter nach Dienstaltersstufen geregelt sind, aus einer Kategorie in eine andere hinsichtlich ihres Gehaltes. Die erwähnten beiden neuen Gesetzentwürfe waren anfänglich in den Tagesblättern als Vorlage betr. die Erhöhung der Richtergehälter" bezeichnet worden und hatten damit bei den erstinstanzlichen Richtern die Hoffnung erweckt, es solle auch für sie endlich die Dienstaltersstufenbesoldung bei einer günstigen Aufrückungszeit zur Einführung gelangen. Das war jedoch ein Irrtum. Es verlautet bisher nichts über ein Dienstaltersgesetz für die Richter und die Staatsanwälte, obschon ein solches trotz der diesjährigen Stellenvermehrung im Interesse der älteren Richter ältere Staatsanwälte gibt es nicht immer dringender notwendig wird. Diese, die vielfach als stellvertretende Kammervorsitzende die Stelle eines Direktors ausfüllen, gelangen nicht, wie alle anderen preufsischen Beamten und wie auch infolge der Stellenvermehrungen meist die jüngeren Jahrgänge der Richter, je nach dreijähriger Frist in die höheren Gehaltsstufen, sondern nur nach Massgabe des Absterbens oder sonstigen Fortfalles der älteren Kollegen erst nach erheblich gröfseren Zeiträumen, für deren auch nur annähernd richtige Berechnung ihnen noch dazu die Unterlagen fehlen.

Es würde zur Beseitigung mancher Beunruhigung und Mifsstimmung unter den wahrlich nicht auf Rosen gebetteten erstinstanzlichen Richtern beitragen, wenn auch ihre Gehälter fest geregelt würden, und zwar etwa in der Weise, dafs unter Beibehaltung der jetzigen 7 Gehaltsklassen die je dreijährige Aufrückung von der, in der Regel im vierten Assessorjahre erfolgenden, Anstellung an beginnen, jedoch aus der 7. in die 6. Klasse nicht vor Ablauf des sechsten Jahres seit dem Assessor-Examen eintreten und danach noch zusammen 15 Jahre dauern würde. Dann würde in der Regel der Richter ungefähr im Alter von 50 Jahren in sein Höchstgehalt einrücken, was ihm billig zu gönnen ist.

Personalien. Die Rechtswissenschaft hat aufs neue den Verlust mehrerer namhafter Vertreter zu beklagen. Im Alter von fast 73 Jahren starb am 14. Januar zu Charlottenburg der ehemalige Präsident des Reichsgerichts Exz. Dr. von Oehlschläger. Wir haben erst anlässlich seiner, am 1. November 1903 erfolgten Pensionierung seiner erfolgreichen Wirksamkeit in den verschiedensten Stellungen, insbesondere als Präsident des höchsten Gerichtshofes, gedacht (1903 S. 492). Indem wir hierauf verweisen, geben auch wir unserer Teilnahme an dem Verlust des verdienten langjährigen Präsidenten des Reichsgerichts · Ausdruck.

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