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Legislaturperiode nicht sanktioniert und verkündet werden dürfen, ohne dafs sie nochmals dem Reichstage zur Beschlufsfassung vorgelegt und von ihm genehmigt worden sind. Da auch dieser Satz in der Reichsverfassung nicht steht, so könnte auch er nur gewohnheitsrechtliche Geltung haben; allein auch er ist wiederholt in der Reichsgesetzgebung unbefolgt geblieben, so namentlich bei der wichtigen Militärstrafgerichtsordn. v. 1. Dez. 1898, ohne dafs von irgend einer in Betracht kommenden Seite dieses Verfahren als rechtlich unzulässig angegriffen wurde. Auch in dieser Einschränkung kann daher das Bestehen eines Gewohnheitsrechts nicht mit Grund behauptet werden.

Die Meinung, dafs die Uebereinstimmung zwischen Bundesrat und Reichstag über ein Gesetz während derselben Legislaturperiode hergestellt werden müsse, beruht aber m. E. auf einem ganz unrichtigen Gesichtspunkt und bringt ein Moment in die Diskussion, welches geeignet ist, irre zu führen. Dieses Moment besteht in der Identifizierung des Reichstages mit der Gesamtheit seiner jeweiligen Mitglieder. Der Reichstag ist ungeachtet der Verschiedenheit in seinen zeitlich aufeinanderfolgenden Erscheinungsformen ein einheitliches und dauerndes Organ des Reiches, eine Institution der Reichsverfassung. Es ist dies bereits von Prof. Kahl in der Tägl. Rundschau v. 16. März 1904 in sehr zutreffender Weise ausgeführt worden. Der Reichstag unterscheidet sich in dieser Hinsicht nicht von der Institution des Kaisers, des Bundesrates, der Behörden; auch diese Institutionen sind einheitliche, kontinuierliche, trotzdem die Träger der Krone, die Mitglieder des Bundesrates, die Beamten wechseln.

Ein Beschlufs des Reichstages kommt zwar durch die Abstimmung der jeweiligen Mitglieder zustande, aber er ist nicht eine Willenserklärung der Abgeordneten, sondern eine Willenserklärung eines in der Reichsverfassung vorgesehenen Organes des Reiches. Der Wille der einzelnen Abgeordneten ist durch die Abstimmung konsumiert, wie der Wille des einzelnen Reichstagswählers durch die Abgabe des Stimmzettels. Der einmal gefafste Beschlufs hat eine selbständige Kraft, welche auf der Reichsverfassung unmittelbar, nicht auf dem fortdauernden Willen der Reichstagsabgeordneten beruht. Dafs der Reichstag einen in einer früheren Session gefafsten Beschlufs durch einen späteren Beschlufs wieder aufheben kann, solange er noch nicht zum Gesetz geworden, ist zuzugeben; solange aber ein entgegengesetzter Beschlufs nicht gefafst worden. ist, erlischt die Wirksamkeit des früheren nicht. Die Reichsverfassung weifs nichts von einem Erlöschen dieser Kraft durch Zeitablauf. Es ist auch nicht erforderlich, dafs der Beschlufs des Reichstages wirklich dem Willen der Mehrzahl der Reichstagsabgeordneten entspricht. Die Besetzung des Hauses st wohl niemals dem ganzen verfassungsmäfsigen Mitgliederbestande desselben gleich; oft ist die Anwesenheitsziffer bekanntlich eine sehr niedrige; es kann daher vorkommen, dafs die Majorität der in

der einzelnen Sitzung anwesenden Mitglieder einen Beschlufs fafst, der der Ansicht der Majorität des ganzen Hauses nicht gemäfs ist, und der bei anderer Besetzung des Hauses nicht gefafst worden wäre. Dessenungeachtet ist der Beschlufs eine vollwirksame Willenserklärung des Reichstages. Ja, die Majorität des ganzen Hauses kann sich während einer Sitzungsperiode durch Nachwahlen, Mandatsniederlegungen oder durch eine durch irgendwelche politische Ereignisse verursachte Umgestaltung der Parteigruppierung verändern, ohne dafs dies den von der früheren Majorität gefafsten Beschlüssen an ihrer Kraft Eintrag tut. Noch viel weniger kommt es darauf an, ob ein Beschlufs des Reichstages dem Volkswillen" entspricht. Ob dies der Fall ist, lässt sich niemals feststellen. Dafs der Beschlufs des Reichstages den wahren Willen des Volkes zum Ausdruck bringt, ist eine doktrinäre Fiktion, ein Optimismus der konstitutionellen Theorie. Der Volkswille ist überhaupt kein Rechtsbegriff. Die Reichsverfassung kennt ihn nicht; sie erfordert zum Zustandekommen eines Reichsgesetzes einen Majoritätsbeschlufs des Reichstages, nicht eine zustimmende Manifestierung des sogen. Volkswillens. Bei den meisten Beschlüssen des Reichstages, namentlich über die einzelnen Anordnungen umfangreicher Gesetze, gibt es überhaupt keinen Volkswillen, da sie dem Ideenkreise und dem Verständnis der grofsen Massen des Volkes ganz entrückt sind.

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Ob ein Gesetz bei seinem Erlafs dem „aktuellen Volkswillen entspricht oder nicht, ist für seine Gültigkeit völlig unerheblich, sowie es auch seine Geltung dadurch nicht verliert, dafs der Volkswille sich später gegen dasselbe kehrt. Das Gesetz ist daher nicht, wie Binding ausführt, zu definieren als eine Willenseinigung des Reichstages von heute und des Bundesrates von heute; wie könnten sonst der Reichstag von morgen und der Bundesrat von morgen daran gebunden sein?

Nun wird allerdings das argumentum ad oculos geltend gemacht, dafs die Zustimmung des Reichstages zum Erlafs von Reichsgesetzen nicht gleichsam auf Vorrat gegeben wird; dafs der Bundesrat nicht 5 oder 10 oder 20 Jahre später solche vom Reichstage genehmigte Gesetzentwürfe hervorholen und unter gänzlich veränderten Verhältnissen sanktionieren könne. Ich glaube, dafs dies als Gespensterfurcht anzusehen ist. So wie im Privatrecht mufs auch im öffentlichen Recht das Prinzip von Treu und Glauben herrschen. Ohne bona fides ist namentlich das konstitutionelle System nicht durchführbar. Die bona fides mufs die Richtschnur und Schranke für die Ausübung aller politischen Rechte bilden. Die Regierung würde dieses oberste Prinzip, in welchem Recht und Ethik zusammenfliessen, in der Tat auf das ärgste verletzen, wenn sie einen früher einmal vom Reichstag genehmigten Gesetzentwurf unter wesentlich veränderten Verhältnissen sanktionieren würde. Dies würde namentlich dann der Fall sein, wenn die Parteiverhältnisse im Reichstage sich in der Art geändert haben, dafs er dem Gesetzentwurf

wenn er ihm von neuem vorgelegt würde die Zustimmung versagen und dadurch den früheren Beschlufs widerrufen würde. Eine Regierung, welche in einem solchen Fall, unbekümmert um den Willen der gegenwärtigen Reichstagsmajorität, auf Grund eines, unter anderen Verhältnissen gefafsten, Beschlusses ein Gesetz sanktionierte, würde gegen Treu und Glauben handeln, die schärfste Opposition des Reichstages herausfordern und ihr eigenes Ansehen untergraben. Hierin liegt der Funke von Wahrheit in der Theorie, dafs die von einem Reichstage genehmigten Gesetzentwürfe nicht mehr sanktioniert werden dürfen, nachdem Neuwahlen zum Reichstag stattgefunden haben; weil nämlich die tatsächliche Möglichkeit gegeben ist, dafs die Parteiverhältnisse in dem neugewählten Reichstage ganz anders gestaltet sind als früher. Wenn aber die Parteien aus den Neuwahlen im wesentlichen in der gleichen Stärke hervorgegangen sind, wie sie sie vorher hatten, wenn die Majorität, welche dem Gesetzentwurf zugestimmt hat, fortbesteht und dies nach der Zusammensetzung des Reichstages als unzweifelhaft anzunehmen ist, so kann man eine Verletzung von Treu und Glauben nicht darin sehen, wenn der Bundesrat einen vom Reichstag genehmigten Gesetzentwurf sanktioniert, ohne eine Verdoppelung oder Erneuerung des Zustimmungsbeschlusses zu erfordern. Ob und inwieweit eine solche Annahme gerechtfertigt erscheint, ist eine quaestio facti wie alle Fragen, bei denen es sich darum handelt, ob ein Verhalten Treu und Glauben verletze.

Uebrigens kann nicht blofs nach Eintritt einer neuen Legislaturperiode, sondern ebenso auch nach Beginn einer neuen Sitzungsperiode dieselbe Frage entstehen; denn auch zwischen zwei Sitzungsperioden derselben Legislaturperiode können Ereignisse eintreten, welche eine erhebliche Verschiebung der Parteiverhältnisse und der Majoritätsbildung herbeiführen. Neuwahlen sind nicht die einzige hierfür in Betracht kommende Tatsache. Man kann in der Tat mit Binding sagen, dafs der Beschlufs des Reichstages über einen Gesetzentwurf mit der Klausel: rebus sic stantibus gefafst ist; dies ist aber nicht gleichbedeutend mit: für jetzt", sondern es ist dahin. zu verstehen, dafs er nicht mifsbraucht werden soll, wenn die Voraussetzungen, unter denen er gefafst worden ist, sich wesentlich geändert haben.

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Zwischen den aus der Initiative des Reichstages hervorgegangenen und den auf Grund eines Bundesratsbeschlusses dem Reichstag vorgelegten Gesetzentwürfen besteht in dieser Beziehung nicht der geringste Unterschied. Der Beschlufs des Reichstages bedeutet in allen Fällen die dem Bundesrat gegenüber erklärte Zustimmung zum Erlafs eines Gesetzes mit dem vom Reichstag festgestellten Wortlaut. Wenn der vom Bundesrat ausgehende Entwurf im Reichstag irgend eine Abänderung erfährt, so ist dies eine Ablehnung des Bundesratsentwurfes, verbunden mit der Zustimmungserklärung zu dem vom Reichstage beschlossenen Entwurf; der letztere geht daher ebenso wie ein

sogen. Initiativantrag vom Reichstage aus, wenngleich die Proposition des Bundesrates die Veranlassung dazu gegeben hat. Auch wenn der Entwurf des Bundesrates vom Reichstage unverändert angenommen wird, entsteht durch die Proposition des Bundesrates und die Genehmigung des Reichstages für den Bundesrat keine staatsrechtliche Verpflichtung, den Gesetzentwurf zu sanktionieren, sondern nur eine Befugnis dazu, und auch in diesem Falle wird diese Befugnis nur nach Treu und Glauben, rebus sic stantibus und nicht intempestive ausgeübt werden dürfen. Auch im öffentlichen Recht herrscht eine „Verkehrssitte", welche der Ausübung staatsrechtlicher Befugnisse Mass und Ziel setzt.

In Anwendung dieses Prinzips auf die Aufhebung des § 2 des Jesuitengesetzes kommt es daher darauf an, ob sich die politischen Verhältnisse seit dem im Jahre 1899 gefafsten Beschlufs des Reichstages in der Art geändert haben, dass die Sanktion des vom Reichstage beschlossenen Gesetzentwurfes im Jahre 1904 als ein Mifsbrauch des dem Bundesrate zustehenden Rechtes erscheint. Die Neuwahlen zum Reichstage haben eine solche Veränderung nicht gebracht, da diejenigen Parteien, welche den Initiativantrag beschlossen haben, auch gegenwärtig im Reichstage die überwiegende Mehrheit bilden. Auch die in letzter Zeit von einzelnen Bischöfen ausgeübten Akte konfessioneller Unduldsamkeit und Ueberhebung haben an sich mit der Zulässigkeit der Ausweisung fremder und der Internierung reichsangehöriger Jesuiten keinen Zusammenhang.

Zur Frage der Beschränkung der Revision in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten. Vom Senatspräsidenten beim bayerischen Obersten Landesgericht Dr. von Jacubezky, München.

Die übergrofse, mit einem ordnungsmässigen Gange der Rechtspflege nicht mehr verträgliche Belastung der Zivilsenate des Reichsgerichts macht eine Aenderung der Vorschriften über die Zulässigkeit der Revision in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten zu einer so unabweislichen Notwendigkeit, dafs die Vorschläge, die die verbündeten Regierungen in dieser Beziehung nach Mitteilung des Herrn Staatssekretärs des Reichsjustizamtes in der Reichstagssitzung v. 1. März d. J. demnächst dem Reichstag machen werden, nicht wiederum erfolglos bleiben können. Eine Erhöhung der Revisionssumme wird: sich nicht vermeiden lassen, sie ist auch gegenüber der falschen Sentimentalität, die darin eine Benach teiligung der Minderbemittelten sieht, insofern sachlich gerechtfertigt, als der Aufwand, der der Gesamtheit für die Ordnung von Privatrechtsangelegenheiten angesonnen wird, in einem angemessenen Verhältnisse zu der Bedeutung der zu ordnenden Angelegenheiten stehen mufs. Immerhin hat die Festsetzung einer solchen Wertsgrenze etwas Willkürliches, die Bedenken, die sich gegen sie erheben

lassen, steigern sich, je höher die Grenze gesteckt wird; es wird deshalb nicht möglich sein, das Ziel durch einfache Aenderung des § 546 ZPO., etwa durch Verdoppelung der Revisionssumme, zu erreichen. Mufs eine Beschränkung nach dem Werte des Beschwerdegegenstandes eintreten, so entsteht die Frage, ob sachliche Gründe gebieten, die Revisionssumme für alle Rechtsstreitigkeiten über vermögensrechtliche Ansprüche einheitlich zu bestimmen, oder ob solche Gründe für eine Abstufung der Revisionssumme sprechen, für die nur die Ergebnisse des bisherigen Verfahrens mafsgebend sein können. In dem bisherigen Verfahren ist die Angelegenheit entweder von den beiden Instanzgerichten übereinstimmend oder sie ist verschieden beurteilt worden. Bei übereinstimmender Beurteilung ist die Wahrscheinlichkeit, dafs die richtige Entscheidung getroffen ist, von vornherein viel gröfser, als wenn die Entscheidungen der Instanzgerichte auseinandergehen; der in beiden Instanzen unterlegenen Partei kann deshalb eher zugemutet werden, sich bei den übereinstimmenden Urteilen zu beruhigen, als demjenigen, der in erster Instanz obgesiegt hat und in zweiter unterlegen ist, die ihm ungünstige Entscheidung als die endgültige zu betrachten. Die auseinandergehenden Entscheidungen lassen die Sache zweifelhaft erscheinen, das Uebergewicht der der Entscheidung des Berufungsgerichts zukommenden Gewähr für die Richtigkeit ist nicht so grofs, dafs nicht für Angelegenheiten von gewisser Bedeutung die Lösung des Zweifels durch die dritte Instanz als Bedürfnis anzuerkennen wäre. Der Regierungsentwurf zur ZPO. hatte die Revision überhaupt nur zulassen wollen, wenn das Berufungsgericht das Urteil des Gerichts erster Instanz abgeändert hat, und die weitere Beschwerde ist nach § 568 Abs. 2 ZPO. nur zulässig, soweit in der Entscheidung des Beschwerdegerichts ein neuer selbständiger Beschwerdegrund enthalten ist. Es wird sich empfehlen, im Anschlufs an diese Vorschrift die Revisionssumme für den Fall höher zu bestimmen, dass das Urteil des Berufungsgerichts einen neuen selbständigen Beschwerdegrund nicht enthält.

Ein neuer selbständiger Beschwerdegrund liegt auch darin, dafs das Berufungsgericht unter Verletzung des Gesetzes Tatsachen festgestellt, übergangen oder als vorgebracht angenommen hat. Mit der Aufstellung dieses Revisionsgrundes wird erfahrungsmäfsig der gröfste Mifsbrauch getrieben, und er würde sich noch steigern, wenn die Zulässigkeit der Revision in vielen Fällen von dem Vorliegen eines solchen Verstofses abhängt. Die Besonderheit dieses Revisionsgrundes rechtfertigt es aber, dessen Geltendmachung einer besonderen Beschränkung zu unterwerfen. Die Zulassung der Revision wegen solcher Mängel des Urteils des Berufungsgerichts hat nicht dieselbe Bedeutung wie die Nachprüfung der Anwendung der Vorschriften des materiellen Rechtes durch das Revisionsgericht, die der eigentliche Zweck des Rechtsmittels ist; insbesondere tritt die Aufgabe des Revisionsgerichts,

Einheitlichkeit der Rechtsprechung herbeizuführen, dabei in den Hintergrund. Es kann deshalb, ohne dafs das Wesen der Revision geändert wird, für Revisionsangriffe dieser Art eine Vorprüfung eingeführt werden, bei welcher ohne vorgängige mündliche Verhandlung über deren Zulassung entschieden wird. Solche Gesetzesverletzungen würden nur berücksichtigt, wenn die Tatsachen, auf die sie sich beziehen, in der Revisionsschrift oder in einem Schriftsatze, der noch innerhalb der Revision-frist zugestellt werden müfste, bezeichnet sind, und die Zulassung des Revisionsangriffs würde zu verweigern sein, wenn der beabsichtigte Angriff aussichtslos erscheint. Auf diesem Wege würde sich voraussichtlich eine solche Minderung der Zahl der zur mündlichen Verhandlung kommenden Revisionen erzielen lassen, dafs es vielleicht genügen würde, die Revisionssumme nur für den Fall zu erhöhen, dafs das Urteil des Berufungsgerichts einen neuen. selbständigen Beschwerdegrund nicht enthält. Wird das Urteil teils wegen eines solchen, teils wegen eines anderen Beschwerdegrundes angefochten, so wird der Wert der Beschwerdegegenstände unter Berücksichtigung des Verhältnisses zusammengerechnet, in welchem die für die Beschwerden geltenden Revisionssummen zueinander stehen; ist die eine Summe doppelt so hoch wie die andere, so wird der Wert des Gegenstandes der Beschwerde, für welche die geringere Summe gilt, mit dem doppelten Betrag angerechnet.

Die Verbindung der beiden Mafsregeln ermöglicht es, jede von ihnen auf die Fälle zu beschränken, für welche sie durch besondere Gründe gerechtfertigt wird, und schwächt damit die Bedenken ab, die sich grundsätzlich gegen jede erheben lassen. Sie wird deshalb der einseitigen Durchführung einer der beiden Mafsregeln vorzuziehen sein.

Die Rechtsentwickelung im Jahre 1903.

Rückblick und Ausblick.

Von Justizrat Dr. J. Stranz, Berlin.

Nicht nach Jahren, nach Zielen sei jedes Leben gemessen. Gewifs auch das Rechtsleben. Die Betrachtung eines eingeengten Zeitabschnittes bleibt unfruchtbar, wenn der Blick nicht über ihn hinausfliegt. Die Entwickelung sei gezeigt, der Zusammenhang also mit vorher und nachher. Eine Registrierung der wichtigsten Ereignisse im Rechtsleben 1903 bedeutet Kärrnerarbeit. Aber mich dünkt, diese, Betrachtung hat eine würdigere Seite. Sie muss aus Gesetzen und Verordnungen, Rechtsprechung und Rechtsverwaltung den Geist, aus Scherben das Ganze erkennen lassen, sonst

„hat man die Teile in seiner Hand, fehlt leider! nur das geistige Band". Quelle und Ziel mufs sie erforschen, das Wie? und Warum? erfragen, an den Einzelheiten sub specie aeterni den Entwicklungsgang darlegen. In diesem Sinne sei, anknüpfend an die Grundauffassung der

historischen Schule, anknüpfend an Herders Anschauungen1) über Werden und Wirken des Rechts, jeder geschichtliche Beitrag, mag er auch nur eine kurze Spanne Zeit umfassen, geschrieben. Klar werde, dafs das Jahr nicht Zufallsprodukte zeitigt, dass alles Recht einem organisch wachsenden Wesen gleicht, das auch zu seinen jüngsten Trieben den Saft aus der Wurzel emporsaugen mufs. Die Ereignisse im Rechtsleben stehen mit dem Gesamtleben der Nation, ja in gewissem Mafse der Menschheit in Wechselwirkung, sind Ausdruck und Spiegel allgemeiner Zeit- und Kulturströmungen.

Im Reich und in den Bundesstaaten lässt sich die gesetzgeberische Arbeit des Jahres 1903 mit zwei Worten charakterisieren: sie ist überall matt und, soweit sie vorhanden, steht sie unter dem Zeichen der Sozialpolitik. Erklärlich ist, dafs auf die Hochflut um die Jahrhunderts wende die Ebbe gefolgt ist. Fieberhaft arbeiteten damals die Staatskörper und alle Organe, um das grofse Werk des BGB. zu schaffen und ins Leben einzuführen. Von dieser Ueberleistung bedurfte es der Pause, der Erholung. An eigentlichen Gesetzen sind im ganzen elf im Reichsgesetzblatt 1903 publiziert, unter denen vier den Reichshaushalt angehen. Aber neue Kräfte scheinen gesammelt, es regt und rührt sich schon wieder.

Wen wird es wundernehmen, dafs es der soziale Geist ist, der den Werken des Gesetzgebers vornehmlich seinen Stempel aufdrückte? In einer Epoche der Menschheit, die nach den Kämpfen um die politische Gleichberechtigung nunmehr von der sozialen Frage beherrscht und gepackt ist, darf sich . die Gesetzgebung dieser weltbewegenden Einwirkung nicht verschliefsen. Ein armseliges Zeugnis würde sie sich ausstellen, wenn sie aus Furcht, Wasser auf die Mühle der Sozialdemokratie zu leiten, die sozialpolitischen Gedanken zurückstiefse. Eine Ehre Deutschlands wird es bleiben, dafs seine Gesetzgebung in der Arbeiter-Versicherung den ersten grofsen Schritt getan hat; mag es in der ArbeiterSchutz- und in der Arbeiter-Wohlfahrts-Gesetzgebung nicht zurückbleiben.

Wenn ein Jurist von altem Schrot und Korn, dessen Kenntnisse und Interessen sich auf Zivil- und Strafrecht und etwas öffentliches Recht beschränken, das Reichsgesetzblatt 1903 aufschlägt, wird er die Gegenstände, die er seiner Aufmerksamkeit für wert hält, an den fünf Fingern einer Hand herzählen können. Auf privatrechtlichem Gebiete begegnen wir einer Verordnung vom 14. Februar über Enteignung von Grundeigentum in den Schutzgebieten Afrikas und der Südsee Deutschland sucht Plätze an der Sonne! und einigen, den Patent-, Muster-, Marken- und Warenzeichen-Schutz betreffenden Bekanntmachungen und Verträgen, die von der fortwährend steigenden Bedeutung des gewerblichen Eigentums Zeugnis ablegen. Auf das Strafverfahren vor den Seemannsämtern bezieht sich die Bekannt

1) Vgl. Ehrenbergs Festrede (Jan. 1903): „Herders Bedeutung für die Rechtswissenschaft."

machung v. 13. März. Durch Ges. v. 23. Mai wird § 51 des Reichsbeamtenges. auf die Post- und Telegraphenbeamten ausgedehnt. Voilà tout!

Das Bild wird sofort ein anderes, wenn wir das freilich dem Nur-Juristen alter Observanz fremde Gebiet sozialen Lebens betreten. Unter den Gesetzen fesseln drei die Aufmerksamkeit: die Gesetze v. 30. März betr. Kinderarbeit in gewerblichen Betrieben (nebst den beiden Bekanntmachungen v. 17. Dez.), v. 10. Mai betr. Phosphorzünd waren und v. 25. Mai betr. weitere Abänderungen des Krankenversicherungsgesetzes. Alle drei Gesetze sind Ausflufs der Sozialen Fürsorgetätigkeit des Staates. Das wichtigste, geradezu ein Merkstein unserer Rechtsentwickelung, ist das Kinderschutzgesetz. Schütze das Kind und du hütest die Zukunft.

usw.

Seit dem 1. Jan. 1904 ist dieses Gesetz in Kraft. Weitergehenden landesrechtlichen Schutzvorschriften steht es nicht entgegen (§ 30) und tritt neben die reichsrechtlichen Vorschriften (§ 1) über den Schutz der Kinderarbeit in Fabriken, Bergwerken, Salinen Durch die Novelle zur GewO. v. 1. Juni 1891 (§ 135) ist die Beschäftigung schulpflichtiger Kinder in Fabriken schlechtweg verboten. Das Verbot wurde durch Verordnungen v. 31. Mai 1897 auf die Werkstätten der Kleider- und Wäschekonfektion, und v. 9. Juli 1900 auf sämtliche Werkstätten mit Elementar-Motorbetrieb ausgedehnt. Die Wohltat war somit auf Fabriken und ähnliche Betriebe eingeengt. Die Kinderarbeit wurde in schutzlose Betriebe und auf die Strafse gedrängt, vor allem aber der Heimarbeit mit ihren verderblichen Folgen zugeführt. Denn die GewO. machte vor der Schwelle des Hauses Halt; Werkstätten, in denen der Arbeitgeber ausschliesslich zu seiner Familie gehörige Personen beschäftigte, sollten nicht unter § 154 Abs.4 fallen. Rücksichtsloser Ausbeutung war damit ein weites Feld eingeräumt. Nach den Erhebungen des Reichskanzlers von 1898 waren 532 283 Kinder in noch nicht oder noch schulpflichtigem Alter aufserhalb von Fabriken erwerbstätig, davon mehr als die Hälfte in der Industrie. Die übrigen leisteten Dienste als Austräger, Ausfahrer, Lauf burschen, Kellner usw. Die Arbeitszeit betrug bei 110 682 Kindern 3, bei vielen sogar 5 und 6 Stunden täglich. Fast 83% gehörten der Hausindustrie in der Form des Familienbetriebes an. Die Schäden an Leib und Seele durch derartige Beschäftigungen zu schildern, dazu bedarf es der Kunst eines Jacques Callot, wie sie in der Blätterfolge: „misères de la guerre" sich entfaltet. Man lese Agahds Buch.1) Was soll aus Kindern werden, die um 4 Uhr morgens aus dem Bett gerissen werden, um stundenlang bei Wind und Wetter Milch, Backwaren, Zeitungen auszutragen, die nach dem Schulbesuch auf den Strafsen mit Blumen, Streichhölzern, Spielzeug hausieren oder in Kneipen bedienen oder bei Schaustellungen mitwirken? Was aus Kindern, die in hausindustriellen Betrieben bis 12 Uhr nachts, ja bis 2 und 3 Uhr ins Arbeitsjoch gespannt werden? Das Ideal wäre das vollständige 1) Kinderarbeit usw. in Deutschland", Jena 1902.

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Verbot jeder erwerbsmäfsigen Beschäftigung von schulpflichtigen Kindern", wie die deutschen Lehrer zu Breslau 1898 verlangten. Hinter diesem Ideal ist freilich der Gesetzgeber zurückgeblieben.

Als Kinder im Sinne des Gesetzes gelten Knaben und Mädchen unter 13 Jahren sowie diejenigen über 13 Jahre, welche noch zum Besuch der Volksschule verpflichtet sind. Indes wird nicht für alle Kinder und auch nicht für alle Betriebe ein gleichmäfsiger Schutz eingeführt. Der Hauptunterschied wird zwischen der Beschäftigung fremder und eigener Kinder gemacht; bei jenen sind die Verbote schärfer. Für beide Arten von Kindern werden die schon aus Gesundheitsrücksichten überhaupt verbotenen Beschäftigungen genau bezeichnet und bei den erlaubten Beschäftigungen die Voraussetzungen von Alter, Tageszeit, Dauer, behördlicher Genehmigung usw. geregelt. Der Bundesrat ist ermächtigt, weitere ungeeignete Beschäftigungen zu untersagen (§ 4 Abs. 2). Jede Beschäftigung eines fremden Kindes ist davon abhängig, dafs dem Arbeitgeber zuvor für das Kind eine von der Polizei ausgestellte Arbeitskarte eingehändigt ist (§ 11). Weiter enthält das Gesetz gemeinsame Vorschriften über die Aufsicht (§ 21), die zuständigen Behörden (§ 22) und hat strenge Strafbestimmungen (§§ 23-29) eingeführt. Für seine erfolgreiche Wirksamkeit sind von hoher Bedeutung geeignete Kontrollvorschriften (§ 21). Zu den Aufsichtsbehörden mufs vor allem der Lehrer, der das Kind täglich beobachtet, gehören. Das Gesetz sieht bei Gestattung, Einschränkung oder Untersagung von Erwerbsbeschäftigungen eine Mitwirkung der Schulaufsichtsbehörde vor (§§ 6, 8, 20). Für die Regel soll sie nur gehört werden, ein Antragsrecht ist ihr eingeräumt, wenn erhebliche Mifsstände zutage getreten sind.

Das Gesetz ist eine segensvolle Tat. Aber neben formalen1) hat es bedauerliche materielle Mängel. Der Kinderschutz für landwirtschaftliche Betriebe blieb versagt trotz der trostlosen, von vielen Seiten grell beleuchteten Zustände! Auch sonst ist das Gesetz durch allzu grofse Vorsicht, nicht durch allzu grofse Schärfe schartig geworden. Schulpflichtige Kinder sind in noch zu weitem Mafse aus Rücksichten auf das Elternrecht der Ausbeutung preisgegeben. Die Altersgrenze ist häufig nicht hoch genug gegriffen. Der Apparat der Aufsichtsvorschriften gewährleistet nicht ausreichend scharfe Wirksamkeit. Indes, wie eine der besten Kennerinnen 2) des Arbeiterschutzes im Vergleich mit der englischen Gesetzgebung mit Recht hervorhebt, trotz aller Rückständigkeit in Geltungsbereich und Normen, kann das neue Gesetz doch für unser Wahrzeichen einer neuen Arbeiterschutzepoche an der Jahrhundertsschwelle gelten."

Das Gesetz über Phosphorzündwaren enthält das Verbot der Verwendung von weifsem oder

1) Vgl. Stenglein S. 267, 1903 d. Bl.

2) Helene Simon: Ein Jahrhundert englischen Arbeiterschutzes (Soz. Praxis v. 12. November 1903).

gelbem Phosphor zur Herstellung von Zündhölzern und anderen Zündwaren. Gewerbsmäfsig solche Zündwaren in Verkehr zu bringen, wird untersagt. Auch hier ist vornehmlich der Arbeiterschutz in Frage. Handelt es sich doch um eine der gefährlichsten Industrien, die unendliches Elend über die Arbeiter und ihre Kinder bringt. Die Phosphornekrose wirkt degenerierend auf das ganze Geschlecht, sie zerstört das Knochensystem. Entschädigungen gewährt das Gesetz nicht. Billigenswert war die vom Grafen Posadowsky vorgetragene Begründung, es habe niemand ein Recht, zum schwersten Schaden seiner Nebenmenschen einen gewinnbringenden Erwerb zu betreiben. Den Interessen der Fabrikbesitzer ist nur insofern Rechnung getragen, als die Vorschriften über den Verkauf am 1. Jan. 1908, die übrigen am 1. Jan. 1907 in Kraft treten.

Eine

Die Novelle zum Krankenversicherungsgesetz, die in allen ihren Teilen seit dem 1. Jan. 1904 in Wirksamkeit getreten ist, bringt an wichtigsten Neuerungen folgende. Die Mindestdauer der Krankenunterstützung wird von 13 auf 26-Wochen verlängert. Wöchnerinnen sollen in Zukunft nicht nur während vier, sondern während sechs Wochen nach ihrer Niederkunft Unterstützung erhalten. dankenswerte Frucht ärztlicher Agitation ist der Wegfall der Beschränkung, die früher hinsichtlich der Krankenunterstützung geschlechtskranker Kassenmitglieder Platz greifen durfte. Der Aufsichtsbehörde ist endlich (Art. I No. XV) bei etwaigen Verfehlungen von Vorstandsmitgliedern, Rechnungsoder Kassenführern das Recht der Amtsenthebung eingeräumt. Das Gesetz will keine grundstürzenden Neuerungen bringen, sondern nur Flickarbeit leisten. Dringende Forderungen sind nicht berücksichtigt, z. B. die Durchführung der Familienversicherung, die Zentralisierung des Krankenkassenwesens, die Aerztefrage ob freie Arztwahl, ob beamteter Arzt?, die Einsetzung von Einigungs-Kommissionen u. a. Eine gründliche Reform, wenngleich sie notwendig ist, mufs im Rahmen der ganzen Versicherungs-Gesetzgebung erfolgen.

Mit den obigen Gesetzen ist die soziale Tätigkeit der Reichsgewalten im Jahre 1903 keineswegs erschöpft. Sie stehen nur im Vordergrunde. An sie schliefst sich ein Straufs von Verordnungen, die zumeist auf Grund der §§ 139a, 154 Abs. 3 der GewO. die Beschäftigung von Arbeiterinnen oder jugendlichen Arbeitern in Fabriken und fabrikähnlichen Anlagen regeln, oder den Zweck haben, die aus einem Zusammenarbeiten von Arbeitern und Arbeiterinnen sich ergebenden Nachteile aufzuheben. Die Rechtsordnung hat sich von dem Gedanken, schrankenlose Ungebundenheit der einzelnen fromme dem allgemeinen Wohl am besten, losgerungen. Je länger, je mehr geht sie mit Mafsnahmen zum Schutze des wirtschaftlich Schwachen und zur Beaufsichtigung der gewerblichen Betriebe vor.

Wir leben im Zeitalter des Verkehrs. Auch dies spiegelt sich im Reichsgesetzblatt 1903. Auf das Gebiet des Verkehrswesens erstrecken sich

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