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Nummer 11.

Berlin, den 1. Juni 1904.

(Nachdruck der Entscheidungen nur mit genauer, unverkürzter Quellenangabe gestattet.)

I. Reichsgericht.

1. Zivilsachen.

Mitget. v. Justizrat Boyens, Rechtsanwalt b. Reichsgericht, Leipzig. 47. (Handelt ein früherer Angestellter gegen die guten Sitten, wenn er nach seiner Etablierung Geschäfts- oder Betriebsgeheimnisse seines früheren Prinzipals in eigenem Geschäft ausnutzt? § 9 Abs. 2 WettbewGes. § 826 BGB.). Verkl. ist im Besitz eines zwar nicht gesetzlich besonders geschützten, aber geheimgehaltenen Verfahrens zur Trocknung von Superphosphat, dessen ausschliefslicher Vertrieb ihm von dem Erfinder übertragen ist. Kläg. war drei Jahre lang bei ihm Chef-Ingenieur und Prokurist. Er ist in dieser Stellung von dem Verkl. in das geheime Verfahren eingeweiht worden, nachdem ihm ohne seinen Widerspruch Geheimhaltung geboten war. Nach seinem Austritt aus dem Geschäft des Verkl. hat er sich selbst etabliert und in seinem Betriebe eine „Superphosphat-Trocknungs-Apparatur" angeboten. Verkl. hat darauf an Interessenten ein gedrucktes Zirkular versandt, in welchem er die Handlungsweise des Kläg. als ungesetzlich und sich selbst als den zum Vertrieb des Trocknungsverfahrens allein Berechtigten hinstellt. Kläg. klagt auf Grund der §§ 824 BGB. auf Unterlassung der Aufstellung oder Verbreitung dieser Behauptungen. Verkl. bestreitet, dafs er unwahre Tatsachen verbreite, da die Handlungsweise des Kläg. in Wahrheit ungesetzlich sei. Die Vorinstanzen sind dieser Auffassung nicht beigetreten und haben ihn nach dem Klagantrag verurteilt. RG. hebt auf und weist zur Prüfung der noch streitigen Frage, ob das Verfahren wirklich geheim war, in die Instanz zurück. Es hält sich zwar an die Verneinung einer stillschweigend übernommenen vertragsmässigen Verpflichtung des Klägers als tatsächliche Feststellung gebunden. Auch § 9 Abs. 2 WettbewGes. treffe nicht zu, da Kläg. das Geschäftsgeheimnis von dem Verkl. selbst, nicht durch unlautere Mittel erworben habe. Aber die Nichtanwendung des § 826 BGB. sei nicht gehörig begründet. Es sei unrichtig, darauf ein ausschlaggebendes Gewicht zu legen, dafs der Dienstherr es ja in der Hand habe, sich durch Vertrag mit seinen Angestellten gegen die spätere Ausbeutung seiner Geheimnisse zu schützen. Es müsse das gesamte Verhalten des Kläg. geprüft werden: die Art der Stellung, die er bei dem Verkl. einnahm, der Grad des Vertrauens, das dieser in dem Glauben, dafs er es mit einem anständigen Mann zu tun habe ihm schenkte, das ausdrückliche Gebot der Geheimhaltung, der Umstand, dafs Kläg. wenn auch nur zur Unterstützung seines Gedächtnisses sich auf geheimem Wege Abschriften von Briefen anfertigen liefs, die Angaben über das Verfahren enthielten. Diese Umstände konnten zu der Annahme führen, dafs Kläg. in grober Weise Anstand und Sitte verletzt habe, und somit zur Anwendung des § 826 BGB., der die Lücken des WettbewGes. auszufüllen bestimmt sei. (Urt. II. 493/03 v. 11. März 1904.)

48. (Anfechtung der Ehe wegen vorehelichen Ehebruchs des Mannes. § 1333 BGB.) Klägerin hat die mit dem Verkl. geschlossene Ehe angefochten. Festgestellt ist, dafs er vor der Ehe erstens mit einer unverheirateten Frauensperson ein Kind gehabt hat, zweitens, dafs er auch mit einer Ehefrau, die ihm den Haushalt führte, während ihr Mann eine längere Freiheitsstrafe verbüfste, in Konkubinat gelebt hat. Kl. behauptet, dafs beide Tatsachen ihr unbekannt waren. BerGer. weist ab. RG. erklärt: dafs die Entscheidung wegen des ersten Falles sich nicht beanstanden lasse. Den zweiten Fall betreffend, sei aber der Anschauung des BerGer., dafs die Anfechtung der Ehe nur dann begründet sei, wenn das Verhalten des Bekl. auf eine allgemeine Nei

IX. Jahrgang.

gung zu geschlechtlichen Ausschweifungen oder auf eine derartige Nichtachtung des Instituts der Ehe zurückzuführen sei, dafs von ihm die Erfüllung der durch die eigene Ehe übernommenen Treupflicht nicht zu erwarten sein würde, nicht beizustimmen. Unsittliches oder unehrenhaftes Handeln behafte den Täter mit einem Makel, der ihn dauernd in der öffentlichen Meinung auch dann herabsetze, wenn wiederholte Verfehlungen derselben Art nicht von ihm zu erwarten seien. Wer eine Ehe schliefse, dürfe voraussetzen, dafs dem anderen eine derartige sittliche Bescholtenheit nicht anhafte. Diese Voraussetzung bilde eine wesentliche Grundlage der gegenseitigen Achtung, ohne welche auch im Sinne des Gesetzes (§ 1353 Abs. 1) eine eheliche Lebensgemeinschaft nicht denkbar ist. Dazu komme, dafs der Ehebruch den Mann auch einer Freiheitsstrafe aussetze, die die Kl. selbst als Frau blofsstellen würde. Die objektiven Voraussetzungen der Anfechtung seien somit vorhanden. (Urt. IV 351/03 v. 14. März 1904.)

von

49. (Anfechtung eines Spruchs von Schiedsmännern [arbitratores] wegen offenbarer Unbilligkeit. § 319 BGB. Abfindung eines ausgeschlossenen Gesellschafters. §§ 140, 142 HGB.) Beide Parteien hatten zusammen unter gleichzeitiger Begründung einer offenen Handelsgesellschaft A. & W. ein schon längere Zeit bestehendes Speditionsgeschäft erworben und gegen Gewährung des Rechts, die Firma mit einem die Nachfolge andeutenden Zusatz fortzuführen, und die Verpflichtung der Vorbesitzer, ihnen an demselben Platz keine Konkurrenz zu machen, aufser dem nach der Inventur sich ergebenden Wert mit 20 000 M. bezahlt. 1901 verlangte Kläger wegen vertragswidrigen Verhaltens des Verkl. dessen Ausschliefsung auf Grund des § 140 HGB., erhob also den Anspruch, das Geschäft allein fortzuführen. In einem Vorprozefs kam es zum Vergleich, in welchem festgestellt wurde, dafs Kl. berechtigt und verpflichtet sei, das Geschäft ohne Liquidation mit Aktiven und Passiven, jedoch unter Löschung der Sozietätsfirma (deren Fortführung Verkl., da sein Name darin enthalten, auf Grund des § 24 Abs 2 HGB. widersprach) zu übernehmen, die dem Verkl. gebührende „Abfindung" solle auf Grund der für den Fall des Ausscheidens eines Gesellschafters geltenden gesetzlichen Vorschriften (§§ 140, 142 HGB., §§ 738-740 BGB.) von drei Schiedsmännern festgestellt werden, deren Spruch nur wegen offenbarer Unbilligkeit“ anfechtbar sein solle. Die Schiedsmänner berechneten diese Abfindung" derart, dafs sie teils die Werte gegenüber der letzten Inventur noch etwas erhöhten und aufserdem eine besondere Entschädigung für den Wert des Geschäfts" als solchen mit 20 000 M. ansetzten, also dem Verkl. davon als seine Hälfte 10 000 M. zusprachen. Kl. erhob gegen diesen Spruch die Anfechtungsklage. Er rügte a) den Ansatz der 10000 M., der ungesetzlich sei, da er ein Recht auf kostenlose Uebernahme habe, der auch offenbar unbillig sei, da ihm weder die Firma mit übertragen worden sei, noch er gegenüber der Konkurrenz des Verkl., der sofort an demselben Platz ein Geschäft gleicher Art neu begründet habe, geschützt sei, b) dafs in der Inventur als Aktivum 9250 M. eingestellt seien, die dem Geschäft nur als Entschädigung für Fehler einer gelieferten Maschine zugebilligt waren und ihm für die noch übrige Funktionsdauer der letzteren (5 Jahre) allein zuständen, da er für diese Zeit einen entsprechenden Ausfall haben werde. Ber.-Ger. verneinte „offenbare Unbilligkeit" und wies die Anfechtungsklage zurück. RG. hebt auf. Mit Unrecht habe das Ber.-Ger. es unterlassen zu prüfen, ob die Schiedsmänner durch Zubilligung einer besonderen Entschädigung für den Wert des Geschäftes" über den Rahmen ihres Auftrages hinausgegangen seien. Das Gericht habe den Sinn des Vergleichs auf Grund der Umstände und der

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darin angezogenen gesetzlichen Bestimmungen selbständig zu prüfen. Es sei aber auch „offenbar unbillig", wenn Kl. gezwungen würde, ohne das Recht zur Fortführung der Firma und ungeschützt vor Konkurrenz dem ausgeschlossenen Verkl. eine Entschädigung gerade so zu bezahlen, als wenn ihm dieser mit Firma das Geschäft, so wie sie es beide s. Z. von dem Vorbesitzer übernahmen, freiwillig überlassen habe. Ebenso sei es "offenbar unbillig", wenn ihm die Entschädigung (oben b) von 9200 M. voll angerechnet werde, ohne dafs vorher in der Inventur eine gleich hohe Reserve zur Deckung der allmählich während der Funktionsdauer der Maschine eintretenden Einnahmeausfälle eingestellt sei. Möge den Schiedsmännern bei ihren Schätzungen freier Spielraum zu lassen sein, so sei es etwas anderes, wenn sie aus der Passivseite der Bilanz erhebliche Posten auslassen. Ob denselben subjektiv ein Vorwurf zu machen sei, sei gleichgültig; es genüge objektiv vorhandene offenbare Unbilligkeit, und auch darauf komme es nicht an, ob die (von dem Kläger auf 2601,50 M. berechnete) Differenz gegenüber der Gesamtabfindung gering sei. (Urt. VII. 520/03 v. 25. März 1904.)

50. (Sind Zeichnungen von Inländern auf Aktien einer ausländischen Aktiengesellschaft gegen die Gesellschaft wegen Betrugs anfechtbar? Rechtliche Natur einer solchen Gesellschaft.) Zur Ausbeutung von mexikanischen Bergwerken haben Deutsche und Amerikaner in Charleston (NordAmerika) eine Aktiengesellschaft begründet, die dort inkorporiert ist, aber nur einen nominellen Sitz in Washington hat, während sie in Wirklichkeit durch eine Hamburger Agentur (agency) geleitet wird, wo auch der Verwaltungsrat (der hauptsächlich aus Hamburgern besteht) seinen Sitz hat. Eine Zweigniederlassung ist in Hamburg nicht eingetragen, wohl aber haben die Hamburger Bevollmächtigten ihre Vollmacht zu dem Handelsregister in Hamburg eingereicht. Diese ist dort eingetragen und diese Eintragung öffentlich bekannt gemacht. Die Hamburger Agentur hat Inländer zur Zeichnung von Aktien der Gesellschaft (die nach anglo-amerikanischem Recht nach der Inkorporation erfolgen kann) auf Grund von Prospekten vermocht. Die Aktienzeichner fechten wegen Unwahrheit der Prospekte und arglistiger Täuschung die Zeichnungen an. RG. nimmt in Uebereinstimmung mit der Vorinstanz an, dafs auf dieses Rechtsverhältnis zwar deutsches Recht anzuwenden sei, aber nicht das deutsche Aktienrecht. Die Gesellschaft erscheine hier vielmehr als nicht rechtsfähiger Verein. Die Zeichnungen seien im Fall arglistiger Täuschung anfechtbar. (Urt. I. 451/93 v. 31. März 1904.)

2. Strafsachen.

Mitgeteilt vom Reichsgerichtsrat Unger, Leipzig. 34. (Strafverfolgung während einer Durchlieferung durch Deutschland.) Der Angekl., russischer Untertan, wurde von dem StA. in Br. wegen Verbrechen steckbrieflich verfolgt. Er wurde in Lissabon verhaftet, von Portugal als Verbrecher an Rufsland ausgeliefert, von russischen Polizeibeamten an Bord eines Dampfers zwecks Durchlieferung nach Hamburg geführt und bis zur Durchführung der nötigen diplomatischen Verhandlungen in Polizeigewahrsam genommen. Von dort ist Angekl. nach Br. transportiert und hier abgeurteilt worden. Die Rev. bestritt die Zulässigkeit der Aburteilung, weil Angekl. sich nicht freiwillig auf deutschen Boden begeben habe. Das RG. verwarf den Einwand. A. d. Gründen: Zunächst hat die Frage, ob Angekl. zu Recht von Portugal an Rufsland ausgeliefert ist, als für die Beurteilung der gegenwärtigen Sache bedeutungslos, auszuscheiden. (Folgt nähere Begründung.) Das Recht eines Staates zur Verfolgung solcher Verbrecher, welche sich ins Ausland geflüchtet haben, ist lediglich durch die Tatsache beschränkt, dafs es insolange nicht ausgeübt werden kann, als der Täter nicht in die Gewalt dieses Staates zurückgelangt ist; es ist aber keineswegs dadurch bedingt, dafs der Täter freiwillig zurückkehrt oder rechtmäfsig ausgeliefert wird. Die Tatsache, dafs Angekl. sich nunmehr

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wieder im Machtbereiche der deutschen Behörden es freiwillig oder unfreiwillig befand und damit das einzige das Strafverfolgungsrecht beschränkende Hindernis weggefallen war, genügte, seine weitere Verfolgung in Deutschland zulässig erscheinen zu lassen. (Urt. III. 22/04 V. 8. Febr. 1904.)

35. (Gewohnheitsmäfsige Kuppelei. Ein Fall.) Wenngleich nur ein Fall der Kuppelei zur Aburteilung gelangt ist, findet doch die Annahme des Tatbestandsmerkmals der Gewohnheitsmäfsigkeit ihre Rechtfertigung darin, dafs die Strafk. im Hinblick auf die wiederholte Vorbestrafung der Angekl, wegen Kuppelei die jetzt abgeurteilte Beförderung der Unzucht durch Gewährung von Gelegenheit als den Ausflufs eines kupplerischen Hanges der Angekl. angesehen hat. Ein durch Uebung ausgebildeter Hang, dessen Befriedigung dem Täter bewusst oder unbewusst zur Gewohnheit geworden ist, lässt sich freilich ohne eine Mehrheit von Betätigungen des verbrecherischen Willens nach derselben Richtung nicht denken; die Vorinstanz hat aber auch diesen Hang ersichtlich aus der voraufgegangenen wiederholten Begehung des Vergehens der Kuppelei hergeleitet. Danach ist die Annahme, dafs die Angekl. gewohnheitsmäfsig gehandelt hat, nicht zu beanstanden. (Urt. II. 4848/03 v. 12. Febr. 1904.)

36. (Tatbestandsmerkmal kein Strafzumessungsgrund) Die Rev. hebt mit Recht hervor, dafs die Strafzumessung durch Rechtsirrtum beeinflusst sei. Nach den Urt.-Gründen ist als ,,erschwerend" für die Strafzumessung in Betracht gezogen, dafs der Angekl. vermöge seines Berufs als Kutscher zur Aufmerksamkeit beim Fahren besonders verpflichtet war. Da dieser Umstand zum gesetzl. Tatbestand jeden nach Abs. 2 des § 230 StrGB. strafbaren Vergehens gehört, durfte er nicht nochmals für die Ausmessung der Strafe verwertet werden. Es musste, wie geschehen, (Aufhebung der Strafe) erkannt werden, weil durch diesen Verstofs die Höhe der Strafe beeinflusst ist. (Urt. II. 4645/03 v. 16. Febr. 1904.)

37. (Dienstinstruktion keine Rechtsnorm.) Auf die Behauptung, Bestimmungen der,,Allgemeinen Abfertigungsvorschriften des Deutschen Eisenbahn-VerkehrsVerbandes" seien unrichtig ausgelegt, kann die Revision nicht gegründet werden. Das Rechtsmittel kann nach § 376 StrPO. nur auf die Behauptung gestützt werden, dafs eine Rechtsnorm verletzt sei. Instruktionen der Behörden für das Verhalten ihrer Beamten im inneren Dienst aber stellen keine Rechtsnormen dar. (Urt. II. 4831/03 v. 16. Febr.-1904.)

II. Kammergericht.

1. Zivilsachen.

Mitgeteilt vom Kammergerichtsrat Falkmann, Berlin.

11. (Befugnis des Testamentsvollstreckers, welcher Miterbe ist, zu Verfügungen über den Nachlafs.) Das Kammergericht hat bereits wiederholt ausgeführt, dafs die Stellung des Testamentsvollstreckers als Amt zu betrachten ist und daraus gefolgert, dafs der Testamentsvollstrecker dasselbe nicht zu eigenen Gunsten ausüben darf. Auf Grund einer Verfügung zu eigenem Nutzen hat daher der Grundbuchrichter eine Eintragung zu versagen und zwar nicht blofs dann, wenn dieselbe unmittelbar für den Testamentsvollstrecker erfolgt, wie eine Auflassung an ihn selbst oder Löschung einer Nachlafshypothek auf seinem Grundstück auf Grund einer von ihm selbst ausgestellten löschungsfähigen Quittung, sondern auch, wenn sich aus dem Antrage sonst ergibt, dafs er zu eigenen Gunsten gestellt ist, z. B. die Bewilligung einer Hypothek für eine persönliche Schuld des Testamentsvollstreckers. Andererseits darf das Verbot des Handelns zu eigenen Gunsten nicht soweit ausgedehnt werden, dafs grundsätzlich gar kein Interesse des Testamentsvollstreckers vorliegen darf. Er übt das Verfügungs- und Verwaltungsrecht zwar in Gemäfsheit der Anordnungen des Erblassers, aber immer unter Wahrnehmung der Interessen der Erben Ist er selbst Miterbe, so übt er seine Verwaltung notwendig zugleich im eigenen Interesse. Wollte man das für unzulässig halten, so könnte ein Miterbe überhaupt

aus.

nicht Testamentsvollstrecker sein. Ein Handeln im Interesse der Erbengesamtheit ist auch mit seinem Amte nicht unvereinbar, selbst wenn er Teilnehmer der Gesamtheit ist. Im Widerspruch mit seinem Amte steht nur ein Handeln im Sonderinteresse, bei dem er über den Nachlafs oder über Nachlafsteile für sich verfügt, mag er damit zugleich auch Verfügungen über andere Nachlafsteile zugunsten der anderen Erben verbinden. (Beschl. I Y 199/04 v. 28. März 1904.)

2. Strafsachen.

Mitgeteilt vom Senatspräsidenten Lindenberg, Berlin. 22. (Zur Tragweite des § 3995 StrPO.) Angekl. ist wegen Urkundenfälschung verurteilt. Er hat mehrere Urkunden mit dem Namen B. unterzeichnet, während er nach der Annahme der erkennenden Strafkammer L. heifst und den Namen B. nicht führen darf. Vor den in Deutschland verübten Urkundenfälschungen ist Angekl. in England gewesen. Dort hat er angeblich an Stelle seines alten Namens L. den neuen Namen B. angenommen, und er hat schon in der Hauptverhandlung geltend gemacht, dafs nach englischem Recht eine solche Namensänderung ohne jede Beschränkung und Förmlichkeit möglich und zulässig sei. Der erkennende Richter hat Ermittelungen angestellt und ist auf Grund einer Auskunft des deutschen Generalkonsuls in London zu der Annahme gelangt, dafs die Behauptung des Angekl. unrichtig sei. Das Reichsgericht hat die Revision des Angeklagten zurückgewiesen. Der Wiederaufnahmeantrag des Angekl. gründet sich auf § 399 Ziff. 5 StrPO. Er stellt von neuem die Behauptung auf, dafs der Name B. in England rechtswirksam angenommen sei, und legt zum Beweise die Erklärung eines englischen Rechtsanwalts vor, aus der hervorgehe, dafs Namensänderungen in England ganz formlos und unbeschränkt zulässig und wirksam seien. Dieser Antrag entspricht nicht den gesetzlichen Vorschriften. Der § 399 Z. 5 ist nur anwendbar, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht sind. Der Angekl. macht aber lediglich geltend, dafs ein gewisser englischer Rechtssatz existiere, der zu seinen Gunsten laute. Er behauptet, dafs die erkennende Strafk. im Irrtum gewesen sei, wenn sie diesen Satz als nicht bestehend angenommen habe. Auf die Behauptung des Rechtsirrtums kann aber der Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens niemals gestützt werden. Und es macht keinen Unterschied, ob die streitige Norm dem inländischen oder dem ausländischen Recht angehört, ob sie also ohne weiteres von dem Richter zu kennen ist, oder ob sie von diesem nicht gekannt wird und erst durch Beweise zu ermitteln ist. Ein solcher Rechtsbeweis ist nicht ein Beweis im Sinne der StrPO., und die Beweismittel sind insbesondere nicht Beweismittel im Sinne des § 399 Z. 5, nämlich nicht Mittel, um Tatsachen aufzuklären. Die Sache ist genau so zu beurteilen, wie wenn der Angekl. die rechtsirrtümliche Nichtanwendung einer Norm des deutschen Rechts behauptet und zum Beweise dieses Irrtums Urkunden (z. B. Reichstagsbeschlüsse) vorgelegt hätte. Die Frage des Rechtsirrtums war zu erörtern vor der erkennenden Strafkammer und in der Revisionsinstanz vor dem Reichsgericht. Dort ist sie erledigt. Im Wiederaufnahmeverfahren kann sie nicht von neuem aufgeworfen werden. (Beschl. W. 79/04 v. 4. Febr. 1904.)

23. (Sind Wahlkomitees Vereine?) Sie können es sein, auch wenn sie nur für eine bestimmte, nicht lange Spanne Zeit wirken sollen (Urt. des Senats v. 1. Okt. 1903 S. 900/03). Aber nicht jedes sog. Wahlkomitee ist ein Verein. Die zu einer Vereinsbildung stets erforderliche vertragsmässige Bindung kann allerdings auch stillschweigend zustande kommen, aber allemal müssen die mehreren Personen, um einen Verein zu bilden, übereinstimmend ihre gegenseitige Bindung, d. h. die Unterwerfung unter ein selbst geschaffenes Gesetz, wollen und irgendwie sich einem, wenn auch nicht schriftlich fixierten Vereinsstatut als dem Gesamtwillen der organisierten Einheit unterordnen (Johow 26 S. C. 33 ff.). Im vorliegenden Falle ist durch die Annahme der Wahl seitens der Angekl. ein Verein noch nicht geschaffen; die Annahme

der Wahl stellt nur die Annahme des in der Wahl liegenden Auftrages dar. Auch dadurch, dafs die Gewählten tätig wurden und mit den anderen Fühlung nahmen, kam ein Verein noch nicht zustande. Denn daraus folgt an sich nur, dafs der Gewählte den Aufträgen seiner Wähler gemäfs handelte, nicht, dafs er sich mit anderen zu einem Verein zusammenschlofs. Aufhebung und Zurückverweisung mangels tatsächlicher Feststellungen über den vertraglichen Zusammenschlufs der Komiteemitglieder. (Urt. S. 52/04 v. 18. Febr. 1904.)

III. Preussisches Oberverwaltungsgericht. A. I.-IV. u. VIII. Senat. Mitget. v. Senatspräsidenten des OVG. Dr. Schultzenstein, Berlin. 45. (Polizeistunde.) Durch polizeiliche Verfügung darf allerdings, auch ohne dafs vorher eine Polizeiverordnung wegen der Polizeistunde erlassen ist, einem einzelnen Schankwirt eine Polizeistunde gesetzt werden. Die Polizeibehörde kann dies jedoch nicht nach freiem Ermessen tun, so dafs die Verfügung mittels der Verwaltungsklage nur dann mit Erfolg anfechtbar wäre, wenn Willkür oder Schikane dargetan würde. Ein solches freies Ermessen folgt namentlich noch nicht daraus, dafs der § 365 StrGB. das Verweilen und das Dulden von Gästen über die gebotene Polizeistunde hinaus mit Strafen bedroht. Die Verfügung hat vielmehr zur der Prüfung des Verwaltungsrichters unterliegenden Voraussetzung, dafs besondere Gründe vorhanden sind, welche es rechtfertigen, zur Wahrung der öffentlichen Ordnung (§ 10 II. 17 ALR.) dem betreffenden Wirte eine Polizeistunde zu setzen. (Urt. III. 2354 v. 10. Dez. 1903.)

46. (Ueberweisung von Unfallrente wegen Kindergeldes.) Wegen des Kindergeldes, welches ein Knappschaftsverein seinen invaliden Mitgliedern zu gewähren hat, kann nicht Ersatz durch Ueberweisung von Unfallrente gemäfs § 25 des Gewerbe-Unfallversicherungsges. beansprucht werden, weil eine solche Ueberweisung nur wegen gleichartiger Leistungen zulässig ist, Kindergeld und Unfallrente aber nicht gleichartig sind. (Urt. III. 2366 v. 14. Dez. 1903 mit näherer Begründung)

47. (Polizeiliche Zuständigkeit gegenüber Kleinbahnen.) Die klagende Gesellschaft hat sich den sämtlichen Bestimmungen des Gesetzes über die Kleinbahnen v. 28. Juli 1892 unterworfen. Danach untersteht sie gemäfs 22 dieses Gesetzes der Aufsicht des Regierungspräsidenten und der Eisenbahnbehörde. Nun besteht freilich darüber kein Zweifel, dafs die Kleinbahnen auch der allgemeinen polizeilichen Ueberwachung durch die Ortspolizeibehörden unterstehen. Diese Ueberwachung bezieht sich aber nur auf diejenigen Gebiete der Polizeigewalt, welche nicht von der Vorschrift des § 22 a. a. O. umfafst werden. Die Ortspolizei kann also unbedenklich im Rahmen der gewöhnlichen Strafsen- und Verkehrspolizei gegen die Kleinbahn einschreiten wie gegen jedermann sonst. Die hier streitige Anordnung fordert aber, dafs an 17 Stellen der Bahn Sammelbassins in den Bahnkörper eingebaut, dabei die Schienen zum Durchlassen des Wassers mit Schlitzen von 25 cm Länge versehen und die Unterlagen der Schienen auf einer Länge von 35 cm teils mehr, teils weniger beseitigt werden. Hier handelt es sich also um einen Eingriff in den Bahnkörper selbst, um Veränderungen an den Schienen und an ihrem Unterbau. Der Bahnkörper und die Schienen unterstehen aber wie in ihrer Anlage, so auch in ihrer dauernden Unterhaltung lediglich den besonderen Aufsichtsbehörden des Kleinbahngesetzes. Die Ortspolizei kann also konstruktive Aenderungen an dem Bahnkörper und den Schienen nicht vorschreiben. Dabei kann es auch nicht darauf ankommen, dafs durch die Aenderungen die Tragfähigkeit der Schienen und des Unterbaues nicht beeinträchtigt würde. Denn eine Prüfung und Entscheidung über die Erheblichkeit solcher Eingriffe in den Bahnkörper steht der Ortspolizeibehörde nicht zu. Die beklagte Polizeiverwaltung hat sich dem gegenüber noch darauf berufen, dafs der Regierungspräsident und die Eisenbahndirektion die Genehmigung zur

Anbringung der geforderten Entwässerungsvorrichtungen erteilt haben. Aber diese Genehmigung kann die Befugnisse der Ortspolizei nicht erweitern; die gedachten Aufsichtsbehörden können ihre Zuständigkeit nicht auf die Ortspolizei übertragen. Aus der Genehmigung würde allerdings folgen, dafs nunmehr die Klägerin berechtigt wäre, ihrerseits die Vorrichtungen in den Bahnkörper einzubauen (vgl. §§ 4, 7 der Genehmigungsbedingungen). Aber die Ortspolizei wird dadurch nicht berechtigt, von der Klägerin die Ausführung dieser Entwässerungsanlagen mit Zwangsverfügungen zu fordern. Zu solcher Forderung würden vielmehr trotz jener Genehmigung immer nur die Aufsichtsbehörden selbst befugt sein; andernfalls würde auch das Rechtsmittelsystem, wie es nach § 52 des Kleinbahinges. v. 28. Juli 1892 geordnet ist, durchbrochen werden. Denn gegen die Anordnung der Aufsichtsbehörden würde nach Satz 1 des § 52 lediglich die Beschwerde an den Minister der öffentlichen Arbeiten zulässig sein. (Urt. IV. 1977 v. 21. Dez. 1903.)

B. V. VII. Senat (Staatssteuersachen). Mitgeteilt vom Wirkl. Geh. Oberregierungsrat Fuisting, Senatspräsidenten des Oberverwaltungsgerichts, Berlin.

(Einkommensteuersachen.)

48. (Der Abzug einer von dem Ehemanne zufolge gerichtlichen Urteils an seine nicht geschiedene, aber in dauernder Trennung lebende Frau zu zahlenden Rente ist nicht gestattet) Die ohne Scheidung getrennt von ihrem Manne lebende und von ihm unterhaltene Ehefrau bleibt seine Angehörige. Die zum Unterhalte Angehöriger gemachten Ausgaben sind aber im § 9 II 2 des EinkStGes. für nicht abzugsfähig erklärt und bleiben vom Abzuge ausgeschlossen, auch wenn die gesetzliche Verpflichtung zur Unterhaltsgewährung durch Gerichtsurteil ausgesprochen wird. Der Mann hat der Frau nach Mafsgabe seiner Lebensstellung, seines Vermögens und seiner Erwerbsfähigkeit Unterhalt zu gewähren (BGB. § 13601), und zwar, wenn die Ehegatten (ohne Scheidung) getrennt leben, durch Entrichtung einer Geldrente (§ 13611 a. a. O.). Die so bereits durch Gesetz geschaffene (oder anerkannte) Verpflichtung wird also nicht erst durch das Gerichtserkenntnis ins Leben gerufen. Dieses stellt nur das unter den gegebenen Verhältnissen des Einzelfalles notwendige und ausreichende Mafs des Unterhalts fest; und mit der Geldrente (BGB. § 1361 1) ist nur die Art und Form des Unterhalts für den Trennungsfall bestimmt. (Urt. XIII. c. 44 v. 19. Nov. 1903.) IV. Bayerisches Oberstes Landesgericht in München.

Mitgeteilt vom Ministerialrat Dr. v. Henle, München.

4. (Fürsorge des Nachlafsgerichts für den Nachlafs.) Der Erblasser hatte zur Sicherheit der Ansprüche des Gläubigers A seines Sohnes B dem A seine Forderung aus einer Lebensversicherung bis zum Betrage von 4000 M. verpfändet. Der Sohn und Miterbe C, welcher die Ansprüche des A nicht anerkannte, stellte bei dem Nachlafsgerichte den Antrag, der Schuldnerin die Auszahlung des als Sicherheit bestimmten Betrags zu untersagen, bis die Ansprüche des A von den Erben anerkannt seien. Das Nachlafsgericht entsprach diesem Antrage. In dem von den Erben veranlafsten Aufgebotverfahren meldete A seine Ansprüche gegen B an und machte die Haftung des Nachlasses aus der Verpfändung der Lebensversicherung geltend. Auf Antrag der widersprechenden Erben veranlafste das Nachl.-Gericht die Schuldnerin der Versicherungssumme, die von den Erben bewilligten Auszahlungen an eine Reihe von Gläubigern zu leisten und den Ueberschufs der gerichtlichen Hinterlegungsstelle zu überweisen, indem es unter Entlastung der Schuldnerin die Haftung für die Verwendung des Ueberschusses, insbesondere gegenüber dem Pfandgläubiger A übernahm. Die Schuldnerin nahm die Entlastung an und vollzog das Ansinnen. A stellte nun an das Nachl.-Gericht den Antrag, aus der hinterlegten Summe an ihn den Betrag von 3756 M. nebst

Für die Redaktion verantwortlich: Otto Liebmann.

Zinsen auszahlen zu lassen Das Nachl.-Gericht und das Beschwerdegericht lehnten den Antrag ab, weil es nicht Sache des Nachl.-Gerichts sei, über die streitigen Ansprüche zu entscheiden. Die weitere Beschwerde hatte Erfolg: Die Verwaltung des Nachl, stand den Erben zu und war nicht dadurch, dafs das Nachl.-Gericht die Auseinandersetzung zwischen ihnen zu vermitteln hatte, auf das Nachl.-Gericht übergegangen. Zur Vermittelung der Auseinandersetzung mufste es die Einigung der Erben über die Berichtigung der Nachlafsverbindlichkeiten (BGB. § 2046) herbeizuführen suchen, es war aber nicht berufen, die Befriedigung der Nachl.-Gläubiger selbst in die Hand zu nehmen, zu diesem Zwecke Nachl.-Forderungen einzuziehen und sich in das Rechtsverhältnis einzumischen, das zwischen einem Pfandgläubiger, dem eine Nachl.-Forderung verpfändet war, und dem Drittschuldner bestand. Erachtete ein Erbe zur Abwendung einer Gefährdung des Nachlasses es für geboten, den Pfandgläubiger an der Einziehung zu hindern, so mochte er bei dem zuständigen Gerichte eine einstw. Verfügung erwirken; dem Nachl.-Gerichte kam es aber nicht zu, eine Anordnung zu erlassen, die wie eine einstw. Verf. wirken sollte. Das Nachl.-Gericht hat daher seine Befugnisse überschritten und die Rechte des A beeinträchtigt. Da das Nachl.-Gericht die Ablieferung der Versicherungsdie Hinterlegungsstelle veranlafst und die Sorge für die den begründeten Ansprüchen gemässe Verwendung übernommen hat, mufs es entweder die Versicherungssumme unter Zurücknahme seiner früheren Verfügung der Schuldnerin wieder zur Verfügung stellen oder selbst die Verfügung treffen, die ohne sein unberechtigtes Eingreifen die Schuldnerin zu treffen gehabt hätte. Indem es diese Verfügung trifft, entscheidet es ebensowenig über die zwischen dem Erben C und dem Gläubiger A streitigen Ansprüche auf die Versicherungssumme, wie die Schuldnerin derselben eine solche Entscheidung treffen würde, sondern es versetzt nur den A und C in die Rechtslage, in der sie sich ohne sein Eingreifen befinden würden. (Beschl. I. ZS. Reg. III 72/02 v. 18. Dez. 1902.) V. Oberlandesgericht Braunschweig.

summe an

Strafsachen.

Mitgeteilt vom Stadtrat v. Frankenberg, Braunschweig.
3. (Sonntagsruhe bei Bahnsteigautomaten.)
Unter dem Gewerbebetriebe der Eisenbahnunternehmungen
i. S. des § 6 RGewO. ist der Betrieb desjenigen Ge-
werbes zu verstehen, das die Beförderung von Personen
und Sachen mittels Eisenbahnen zum Gegenstande hat.
Der gewerbliche Betrieb von Unternehmungen und An-
stalten, die nicht ausschliefslich
- wenn auch nur
mittelbar, wie z. B. das Hilfsgewerbe einer Maschinen-
werkstatt, RGEntsch. 8 S. 150 - Transportzwecken
dienen, gehört nicht zu dem fraglichen Gewerbebetriebe.
Insbesondere können nicht alle Veranstaltungen, die zum
Betriebe des Eisenbahnunternehmens in eine rein äufser-
liche Verbindung gebracht sind, ohne in dem Transport-
zwecke ihre notwendige Basis zu finden, dazu gerechnet
werden. Findet mittels solcher Veranstaltungen ein ge-
werbsmässiger Betrieb statt, so unterliegen sie den
Bestimmungen der RGewO., mögen sie auch zur Be-
friedigung der neben der Reiselust einhergehenden Be-
dürfnisse des Publikums dienen und das Reisen angenehmer
und bequemer gestalten. Der Warenverkauf mittels Auto-
maten steht, auch wenn ihn die Eisenbahnverwaltung
selbst betreiben sollte, nur in rein äufserlicher Beziehung
zu dem Bahnunternehmen. Nicht Fürsorge für den Trans-
port der Reisenden, sondern lediglich das finanzielle Inter-
esse des Gewerbetreibenden hat zu dem Anschlufs an den
Eisenbahnbetrieb geführt; zwischen beiden besteht ein be-
grifflicher Zusammenhang durchaus nicht; vgl. auch OLG.
Köln, Urt. v. 28. Dez. 1901; Stuttgart v. 11. Okt. 1902;
Frankfurt a. M. v. 6. Febr. 1903; Naumburg v. 7. März
1903; Landmann, RGO. 4. Aufl. § 6 unter No. 10; a. M.
OLG. Jena v. 11. Nov. 1902. (Urt. des StrSen. No. 553
v. 28. April 1903.)

Verlag von Otto Liebmann.
Sämtlich in Berlin.

Druck von Pass & Garleb.

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Der frühere badische Bevollmächtigte Bundesrat, Herr von Jagemann, hat Vorträge über die Deutsche Reichsverfassung, welche er im vorigen Jahre an der Heidelberger Universität gehalten hat, durch den Druck veröffentlicht. Sie enthalten ein Gemenge von politischen und staatsrechtlichen Bemerkungen; die ersteren bilden den überwiegenden Bestandteil; der Verfasser bringt durch sie die Ansichten, welche er in seiner langjährigen Tätigkeit im Bundesrat gewonnen hat, zum Ausdruck. Dafs diese Bemerkungen eine stark subjektive Färbung haben, liegt in ihrem Wesen. Die eigentlich staatsrechtlichen Ausführungen werden von ihnen beherrscht und haben unter dieser Verquickung zu leiden; die Kraft strenger Folgerichtigkeit und geschlossener systematischer Einheit fehlt ihnen; der Verfasser gestattet sich bei den verschiedenen Materien unter den in der Literatur vertretenen Ansichten einen weitgehenden Eklektizismus, meistens. ohne tiefere Begründung und ohne Erörterung der praktischen und theoretischen Konsequenzen der von ihm bevorzugten Ansicht. Doch wir beabsichtigen nicht, an dieser Stelle eine Kritik des Buches zu schreiben; es hätte gleich vielen anderen Schriften über die Reichsverfassung ein literarisches Stillleben geführt, wäre in anderen Schriften zustimmend oder ablehnend zitiert worden, hätte aber die öffentliche Meinung nicht beschäftigt und die Politiker nicht aufgeregt, wenn nicht eine vom Verfasser geäufserte Ansicht die beiden angesehenen Vertreter des Staatsrechts der Heidelberger Universität, Jellinek und Anschütz, veranlafst hätte, eine Entgegnung in der Frankfurter Zeitung zu veröffentlichen. Dies rief eine Gegenerklärung v. Jagemanns, eine Replik von Anschütz usw. hervor, die Zeitungspresse beschäftigte sich mit der Angelegenheit, das Erscheinen der Jagemannschen Schrift wurde zu einem Tagesereignis, und den reichstreuen Zeitungsleser überlief eine politische Gänsehaut, denn er sah durch v. Jagemann den Abgrund vor Augen gerückt, in welchem das Deutsche Reich

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ZEITUNG

EN-ZE!)

1896

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plötzlich versinken und zerschellen kann. Wegen dieses unvermuteten sensationellen Effektes, welcher der v. Jagemannschen Schrift, oder vielmehr der S. 30 derselben, zuteil geworden ist, wollen wir auch hier die Streitfrage unseren Lesern vor Augen führen. Es handelt sich um folgendes:

"

Das Reich sagt v. Jagemann ist errichtet worden durch einen Bund der deutschen Fürsten; der Bund ist die Voraussetzung der Verfassung"; jeder Vertrag, ausgenommen die Eheschliefsung und unter gewissen Voraussetzungen Verträge zugunsten dritter, könne durch den übereinstimmenden Willen aller derer, die ihn geschlossen haben, wieder aufgehoben werden; folglich sei auch der Bund, der das Fundament des Reichsbaues bilde, mutuo dissensu (soll heifsen: contrario consensu) auflösbar. Wird der Bund aufgelöst, so ist es auch das Reich, welches nach der Eingangsformel der Reichsverfassung damit identisch ist, und so entfällt auch die Reichsverfassung, da ihre Voraussetzung weggefallen wäre; das sei keine Aenderung, sondern ein Erlöschen. Die Möglichkeit, wenn Verfassungseinrichtungen nicht mehr fungieren, durch einstimmige Aufhebung des einen Bundes und Schliefsung eines neuen die Lebensfähigkeit frisch zu gewinnen, erscheint nicht als nationale Schädigung. Die Frage, inwieweit die Einzellandtage der Aufhebung des Bundes, welche ihre Rechtszuständigkeit nur mehren, und einer Neuschöpfung, welche sie dann wieder mindern würde, zustimmen müssten, sei eine Frage nicht des Reichs-, sondern des Landesstaatsrechts. Der Ansicht v. Seydels, dafs die Verfassung übereinstimmendes Landesgesetz aller Gliedstaaten geworden sei, könne er nicht beipflichten. Die Einzellandtage haben vielmehr ihr Einverständnis zu Verträgen auf Schaffung von Reichsrecht gegeben."

Läfst man zunächst die Richtigkeit aller dieser Sätze dahingestellt, so sieht man doch sofort, dafs der Verf. einer Frage, welche für die Durchführbarkeit seiner Ansicht von ausschlaggebender Bedeutung ist, aus dem Wege geht, indem sie als eine Frage des Landesstaatsrechts unbeantwortet läfst. Die deutschen Fürsten haben das

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