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sprochen werden kann, wo das Verhalten des Kindes eine Schädigung des Kindes selbst herbeigeführt hat, das Kind an der Schädigung „selbst schuld" ist.

Diese Frage war für das römische und gemeine Recht weniger bedeutsam, als sie es für das BGB. ist. Denn eine Haftung trat dort regelmässig nur infolge Verschuldens ein; hatte der Beschädigte durch sein eigenes Verhalten die Beschädigung herbeigeführt, die äufserlich als Folge der Handlung eines dritten sich darstellte (z. B. wenn ein Kind einem Reiter vor das Pferd lief und vom Pferde zu Boden geworfen und verletzt wurde), so fiel eben ein Verschulden des dritten und damit dessen Haftung weg, oder es wurde der ursächliche Zusammenhang zwischen der Handlung des dritten und dem eingetretenen Erfolg unterbrochen. Die Frage, ob eigenes,,Verschulden" des Verletzten Zurechnungsfähigkeit dieser Person voraussetze, war daher meist nicht von Wichtigkeit; übrigens ist diese Frage für das gemeine Recht mehrfach verneint worden.1)

Das neuere Recht hat aber in einer Reihe von Fällen eine Haftung ohne Verschulden eingeführt, so z. B. im Haftpflichtgesetz und im § 833 BGB.; die Haftung wird aber hier ausgeschlossen, wenn eigenes Verschulden des Verletzten den Unfall herbeigeführt hat (§ 1 des Haftpflichtges.), oder es hängt doch die Verpflichtung zum Schadensersatz und der Umfang des Ersatzes davon ab, ob bei der Entstehung des Schadens ein Verschulden des Beschädigten mitgewirkt hat (§ 254 Abs. 1 BGB.). Verneint man in diesen Fällen die Frage, ob bei einem Kinde von Verschulden die Rede sein könne, so tritt die gesetzliche Haftpflicht ein (wofern nicht etwa zufolge des eigenen Verhaltens des verletzten Kindes der ursächliche Zusammenhang zwischen der Tätigkeit des Haftenden oder seines Tieres und dem eingetretenen Erfolg aufgehoben worden ist).

An diese Fälle namentlich knüpft sich daher die Frage, ob von einem eigenen Verschulden eines Kindes sich sprechen läfst, eine Frage, die mannigfach bejaht wird, die aber das Reichsgericht bisher verneint hat.2) 24151

Das Reichsgericht sagt im Bd. 54 a. a. O: Unter „eigenem Verschulden" sei eine schuldvolle Handlung (oder Unterlassung) zu verstehen; eine solche könne nach § 276 BGB. nur auf Vorsatz oder Fahrlässigkeit beruhen; weiter reiche daher auch nicht die Verantwortlichkeit dessen, der bei der Entstehung eines ihn selbst treffenden Schadens

1) Vgl. Wendt: „Eigenes Verschulden" in Jherings Jahrb. Bd. 31 S. 137 ff. § 8, der unter Bezug auf 1. 61 § 5 D. 47, 2; 1. 1 § 4 D. 9, 3: 1. 25 § 4 D. 19, 2 bemerkt: auch die culpa des röm. Rechts sei nicht immer subjektiv zu verstehen; vgl. auch Croissant, Eigenes Verschulden u. Handlungsfähigkeit S. 11 ff.; 37 ff.: 56 ff.; Unger: Handeln auf eigene Gefahr S. 94; Binding: Normen Bd. 2 § 60 S. 460 Note 665.

2) Vgl. die oben zit. Schriftsteller u. Endemann: Lehrb. d. bürg. Rechts 8. Aufl. Bd. 1 § 132 u. § 130 Anm. 1, Crome: System Bd. 1 § 111 Ziff. 1 a. E. (S. 496, 97); RG. 54 Nr. 104 S. 410-411, JW. 1903 Beil. S. 122 Nr. 270). Es ist sonach nicht richtig, wenn RG. 54 S. 410 sagt: Die Ansicht Endemanns habe in der Literatur weitere Vertreter nicht gefunden.

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Nach § 276 Abs. 1 BGB. hat der Schuldner, sofern nicht ein anderes bestimmt ist, Vorsatz und Fahrlässigkeit zu vertreten". Hieraus wird abgeleitet, dafs das BGB. unter einer durch Verschulden" herbeigeführten Schädigung eine durch Vorsatz oder Fahrlässigkeit verursachte versteht.1) Fahrlässig handelt" - fährt § 276 fort wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt aufser acht lässt“. Wenn jemand über eine von Wagen belebte Strasse geht, ohne sich umzusehen, ob nicht ein Wagen gefahren kommt, so läfst er die im Verkehr erforderliche Sorgfalt aufser acht, und zwar einerlei, ob es ein Mann oder eine Frau, ein Stadt- oder ein Landbewohner, ein Greis oder ein Kind ist der aufgestellte Mafsstab ist rein objektiv. Vgl. Planck a. a. O. S. 36:

„Festgehalten ist dabei der Gesichtspunkt, dass nicht die geistige Beschaffenheit der einzelnen Person entscheidend sein, sondern dafs ein objektiver Mafsstab festgestellt werden solle, der für die erforderte Sorgfalt massgebend sei".

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Man kann gewifs nicht von einem Kind, das in der genannten Weise eine belebte Strafse überschreitet, sagen, es habe die im Verkehr erforderliche Sorgfalt beobachtet; hat es sie aber nicht beobachtet, SO hat es sie „aufser acht gelassen". Wollte man sagen: die erforderliche Sorgfalt „aufser acht lassen" heifst: sie nicht beobachten, obwohl ihre Beobachtung von der betreffenden Person verlangt oder erwartet werden kann, so würde damit der objektive Mafsstab, den das Gesetz aufstellen will, wieder beseitigt, und es müfste in jedem einzelnen Fall untersucht werden, ob von der Person nach ihrem Alter, Geschlecht, Stand, Beruf, Wohnort, Verstand, Charakter usw. die Beobachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt verlangt oder erwartet werden kann.2) Hiergegen wendet sich mit Recht Dernburg, Bürg. Recht Bd. 2 Abt. 1 § 63 II, 2, c, indem er ausruft: „Welche Schwierigkeiten im Leben, wenn man dies alles zu beachten hätte, welche Weitläufigkeit und Unsicherheit im Prozesse!" Würde also § 276 Abs. 1 BGB. nur aus den beiden ersten Sätzen bestehen, so könnte auch eine Haftung eines Kindes für den einem andern verursachten Schaden eintreten; denn dass ein Kind auch vorsätzlich Schaden zufügen kann, unterliegt. keinem Zweifel (z. B. ein 6 Jahre 364 Tage alter Knabe wirft einer Person, die ihm eine Ohrfeige gegeben hat, die Fensterscheiben ein); ebenso kann es aber nach dem Gesagten fahrlässigerweise

1) Vgl. Planck, BGB. (2. Aufl.) Bd. 1 S. 37: Mot. zu §§ 144, 145 BGB. Bd. 1 S. 281; Dernburg, Das bürg. Recht Bd. 2 Abt. 1 § 63 II; aber auch Crome a. a. O.

2) Eine ganz andere Frage ist, welche Sorgfalt im einzelnen Fall im Verkehr erforderlich" ist; das richtet sich nach den konkreten Umständen.

(i. S. des zweiten Satzes des § 276) Schaden zufügen: Vorsatz und Fahrlässigkeit können auch bei einem Geschäftsunfähigen vorhanden sein.

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Die eben erwähnte Schlufsfolgerung aus den beiden ersten Sätzen des § 276 wird aber abgeschnitten durch den dritten Satz: „Die Vorschriften der §§ 827, 828 finden Anwendung." § 827 sagt in seinem ersten Satz: „Wer im Zustand der Bewufstlosigkeit einem anderen Schaden zufügt, ist für den Schaden nicht verantwortlich", und § 828 Abs. 1 sagt: Wer nicht das siebente Lebensjahr vollendet hat, ist für einen Schaden, den er einem anderen zufügt, nicht verantwortlich". Die Bezugnahme auf diese Paragraphen im dritten Satz des § 276 besagt also: „In allen Schuldverhältnissen, auch soweit sie nicht aus unerlaubten Handlungen (§§ 823 ff. BGB.) entspringen, sind Bewufstlose usw., sowie Kinder für den Schaden nicht verantwortlich, den sie einem anderen zufügen" 1). Das Gesetz sagt aber nicht, bei Geisteskranken und Kindern sei ein vorsätzliches oder fahrlässiges Handeln ausgeschlossen; es kann dies auch vernünftigerweise nicht sagen: denn dafs Geisteskranke und Kinder vorsätzlich handeln und Schaden zufügen können, ist aufser Zweifel, und mit dem Ausspruch, ein fahrlässiges Handeln solcher Personen sei ausgeschlossen, würde sich das Gesetz nach dem Ausgeführten mit der im vorhergehenden (zweiten) Satz des § 276 aufgestellten Begriffsbestimmung des fahrlässigen Hand Ins in Widerspruch setzen2); der Satz des Reichsgerichts (Bd. 54 S. 110): durch § 828 werde bei Kindern „die Möglichkeit eines vorsätzlichen oder fahrlässigen Handelns verneint", ist daher m. E. unhaltbar. Wie das StrGB. in §§ 51, 55 bei Kindern und Geisteskranken nicht „die Möglichkeit eines vorsätzlichen oder fahrlässigen Handelns", sondern eben die Strafbarkeit ihrer Handlungen verneint, so spricht § 276, vergl. mit §§ 827, 828, den Kindern, Geisteskranken die Verantwortlichkeit für ihre Handlungen ab, soweit sie dadurch anderen Schaden zugefügt haben, also kurz gesagt die Deliktsfähigkeit.

Wenn nun aber das Reichsgericht daraus, dass Kinder, Geisteskranke usw. für den Schaden nicht verantwortlich sind, den sie anderen durch ihr Verhalten zufügen, den Schlufs zieht, bei solchen Personen könne auch der Schaden, den sie selbst durch ihr Verhalten erleiden, nicht als ein durch eigenes Verschulden d. h. vorsätzlich oder fahrlässig herbeigeführter angesehen werden, so erscheint dieser Schlufs ungerechtfertigt. Der Wortlaut der §§ 827, 828 gibt zu einer solchen Schlufsfolgerung keinen Anlafs, im Gegenteil: hier, wo von unerlaubten Handlungen" die Rede ist, kann der Gesetzgeber an Handlungen, durch die der Täter sich selbst schädigt, nicht gedacht haben, „da die Selbstbeschädigung keine unerlaubte Handlung ist"

1) Wohl aber ist verantwortlich, wer wegen Geisteskrankheit entmündigt, in Wirklichkeit aber nicht geisteskrank ist.

2) Anders läge es, wenn das Gesetz lautete: Fahrlässig handelt, wer die von ihm zu erwartende (oder: zu verlangende) Sorgfalt aufser acht läfst."

(Crome a. a. O.). Eine (rechtliche) Verantwortlichkeit eines Menschen sich selbst gegenüber gibt es überhaupt nicht, man kann also nicht davon sprechen, dafs jemand für den Schaden, den er sich selbst zufügt, verantwortlich oder nicht verantwortlich ist.

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Ein eigenes Verschulden des Verletzten i. S. des § 1 des Haftpflichtges. u. des § 254 BGB. liegt nach dem Bisherigen vor, wenn der Verletzte den Unfall oder Schaden vorsätzlich oder durch Nichtbeobachtung (Aufserachtlassung) der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt herbeigeführt hat; in solcher Weise kann aber auch ein Geisteskranker und ein Kind einen Unfall oder Schaden herbeiführen (z. B. ein Geisteskranker schlägt sich in religiösem Irrwahn auf Grund von Matth. 5 Vers 30 vorsätzlich die rechte Hand ab). Dafs solcher Vorsatz oder solche Fahrlässigkeit bei Kindern und Geisteskranken nicht als Verschulden“, d. h. nicht als Vorsatz oder Fahrlässigkeit gelten soll, sagt das Gesetz nirgends. Eine unmittelbare Anwendung der §§ 827, 828 BGB. ist ausgeschlossen, weil diese Paragraphen von der Verantwortlichkeit für den einem anderen zugefügten Schaden handeln. Es könnte also nur eine entsprechende Anwendung dieser Paragraphen in den Fällen in Frage kommen, da jemand durch eigenes Verschulden Schaden leidet. Der Rechtssatz würde hier lauten: „In den Fällen, da jemand für den einem anderen zugefügten Schaden haftet, diese Haftung aber durch eigenes Verschulden des Verletzten ausgeschlossen oder in ihrem Umfang beschränkt wird, schliefst das eigene Verschulden Vorsatz oder Fahrlässigkeit - des Verletzten, sofern er im Zustand der Bewufstlosigkeit usw. gehandelt oder das siebente Lebensjahr noch nicht vollendet hat, die Haftung des dritten nicht aus und beschränkt sie nicht." Allein das wäre doch wohl nicht mehr blofs eine entsprechende Anwendung der §§ 827, 828 (von der übrigens weder in § 276 noch in § 254 BGB. die Rede ist), sondern ein selbständiger Rechtssatz: denn daraus, dafs das Gesetz Kinder und Geisteskranke mangelnder Zurechnungsfähigkeit nicht für einen Schaden, den sie anderen zugefügt haben, Ersatz leisten lassen will, folgt nicht, dafs das Gesetz andere für den Schaden, den sie Kindern oder Geisteskranken zugefügt haben, ersatzpflichtig sein lassen will, obwohl diese Ersatzpflicht wegfiele, wenn eine andere Person sich in gleicher Weise, wie das Kind oder der Geisteskranke, benommen hätte. Mit Recht hebt Crome a. a. O. Note 14 hervor, dafs gegen die Annahme, bei einem Kind könne von einem ,,eigenen Verschulden" keine Rede sein, die Existenz des § 829 BGB. spreche: Wird der Unzurechnungsfähige unter Umständen sogar positiv ersatzpflichtig, so mufs seine Tätigkeit, wenn sie den Schaden vorzugsweise verursachte, auch für den dritten ersatzausschliefsend wirken können." Und Unger a. a. O. S. 87, 94 führt für das Haftpflichtgesetz aus: Der Unternehmer hafte für alle Betriebsunfälle, die aus der eigenen Schuld (im objek

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wegen

tiven Sinn) des Betriebs entstehen, nicht aber für die durch fremde Schuld (im objektiven Sinn) entstandenen, und meint, es sollte kein Zweifel darüber sein, dafs der Unternehmer für einen Unfall, an dem der unzurechnungsfähige Verletzte ,,selbst schuld" war, nicht aufzukommen hat. Das Ergebnis der vorstehenden Ausführungen ist: eigenes Verschulden i. S. des § 254 BGB. ist eigener Vorsatz und eigene Fahrlässigkeit; die Meinung, dafs bei Kindern (und anderen Geschäftsunfä igen) von eigenem Verschulden keine Rede sein könne, beruht auf der Annahme, dafs ein vorsätzliches und fahrlässiges Handeln eines Geschäftsunfähigen nicht möglich sei. Diese Annahme erscheint aber unrichtig: Ein Geschäftsunfähiger kann sowohl vorsätzlich als fahrlässig (i. S. des § 276 Satz 2 BGB.) handeln, das Gesetz versagt nur mit Rücksicht auf die geistige Unreife oder den geistigen Defekt der betreffenden Person ihren Willenserklärungen die rechtliche Gültigkeit (§ 105 Abs. 1 BGB.) und spricht ihr die Verantwortlichkeit für die Folgen ihrer unerlaubten Handlungen i. S. der §§ 823 ff. BGB. ab; soweit aber bei der Verletzung oder Schädigung einer Person deren,,eigenes Verschulden" in Betracht kommt, räumt das BGB. der Geschäftsund Deliktsunfähigkeit des Verletzten keinen Einflufs ein; vielmehr hat, wenn ein Geschäftsunfähiger die eigene Schädigung vorsätzlich oder fahrlässig herbeigeführt hat, dies die gleichen rechtlichen Folgen, wie wenn es seitens einer geschäftsfähigen Person geschehen ist.

Das Hilfsrichtertum in Preussen. Vom Landgerichtsrat Dr. Gumbinner, Berlin. Grofse Ereignisse werfen ihre Schatten voraus: Lange bevor die Bewilligung und die parlamentarischen Verhandlungen bezüglich des Etats für das kommende Jahr in den einzelnen Bundesstaaten sich vollziehen, pflegen die Tageszeitungen sich mit der Frage des Hilfsrichterun wesens, insbesondere in Preufsen, zu beschäftigen. Diese Mitteilungen ähneln dem Mädchen aus der Fremde, das jedes Jahr wiederkehrt, jedoch mit dem Unterschiede, dafs es nicht jedem eine Gabe austeilt, sondern jedes Jahr mehr verlangt einen höheren Etat, um dem Hilfsrichterunwesen ein Ende zu machen. Besonders in den letzten Jahren haben sich die Aeufserungen in der Tagespresse so stark vermehrt und die Beratungen in den einzelnen Landtagen hierüber einen so breiten Raum eingenommen, dafs es doch erforderlich erscheint, auch einmal an dieser Stelle die Materie unter die Lupe zu nehmen oder, wie wir von vornherein bekennen müssen, auch von dieser Stelle aus die Hand auf diese offene Wunde an einem so wichtigen Teile unseres Staatskörpers zu legen und die Forderung nicht verstummen zu lassen, bis endlich einmal Abhilfe und Heilung gebracht wird, nicht blofs teilweise und nach und nach, sondern sofort und vollständig.

Auf den Seiten 511 und 533 1903 dieses Blattes hat LGDirektor Dr. Aschrott die Justizverhältnisse im Reich und in Preufsen einer statistischen Betrachtung unterzogen. Die Ergebnisse, zu denen er gelangt, sind wenig erfreulich; die Dauer der Prozesse nimmt zu, die Vermehrung der Richter entspricht weder der Zunahme der Bevölkerung noch der Geschäfte, und Preufsen insbesondere steht nicht besser, sondern schlechter da, als das Reich im Durchschnitt. Zum Schlusse weist Aschrott auf die grofse Zahl der Hilfsrichter in Preufsen hin.

Hilfsrichter zur Vertretung von Richtern, die auf längere Zeit an der Ausübung ihres Berufes durch Krankheit, militärische oder parlamentarische Tätigkeit oder sonstwie gehindert sind, werden immer erforderlich sein; und ich nehme an, dass, wenn der Reichstagsabgeordnete Dr. Müller (Meiningen) in der Sitzung des Reichstags v. 2. März 1904 erklärt hat: wir haben in Bayern überhaupt keine Hilfsrichter", er damit nicht diese Fälle einer notwendigen Vertretung (§ 69 Abs. 1 GVG.) im Auge gehabt hat, sondern den Fall des § 69 Abs. 2, die Beiordnung eines nicht ständig angestellten Richters, sei es auf bestimmte Zeit oder auf unbestimmte, solange das Bedürfnis dauert.

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Auch hier hat das Gesetz offenbar nur an den

Fall gedacht, wo eine vorübergehende Aushilfe ausnahmsweise nötig wird, wie z. B. die Belastung einer Strafkammer durch eine wochenlang dauernde Verhandlung u. dgl. m.; aber nie und nimmer an die Anstellung von Hilfsrichtern deshalb, weil die ständig angestellten Richter das regelmässige Pensum nicht mehr bewältigen können.

Nach § 58 GVG. sollen die Landgerichte besetzt. werden mit einem Präsidenten und der erforderlichen Anzahl von Direktoren und Mitgliedern, sie werden aber meist besetzt mit einem Präsidenten und einer Anzahl von Direktoren, Mitgliedern und Hilfsrichtern. Ob alle zusammen die erforderliche Anzahl bilden, steht noch dahin. Nicht anders ist es bei den Oberlandesgerichten und den gröfseren Amtsgerichten. In welchem Verhältnis steht nun gar bei manchen Gerichten die Zahl der ständigen Richter zu der der Hilfsrichter? Aschrott erwähnt als trauriges Beispiel ein Gericht mit 20 Richtern und 11 Hilfsrichtern, und im preufsischen Abgeordnetenhause hat am 26. Febr. 1904 der Abg. Oeser die Zustände der Frankfurter Gerichte eingehend beleuchtet, die ebenso traurig sind: Beim OLG. 16 Richter, 6 Hilfsrichter; beim LG. 27 Richter, 13 Hilfsrichter, so dafs letztere also 27 und 32% aller Richter bilden. Das Verhältnis ist sogar noch schlimmer, wenn man den Präsidenten abrechnet, der sich bei solch grofsen Gerichten der Rechtsprechung nicht viel widmen kann. Was hat nun der Minister auf diese Darstellungen erwidert?

„Die eingehende Schilderung der Geschäftsverhältnisse beim Frankfurter Gericht, wie sie eben Herr Oeser gegeben hat, ergibt ja kein ganz erfreuliches Bild von den dortigen Zuständen. Ich kann nicht bezüglich aller Einzel

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heiten, die Herr Oeser angeführt hat, ihre Richtigkeit bestätigen, habe aber auch keinen Grund, sie in wesentlichen Punkten zu beanstanden; es wird im grofsen ganzen so sein."

Eines Kommentars bedürfen diese Worte nicht. Nun mögen die Verhältnisse nicht überall so liegen wie in Frankfurt, normal sind sie aber z. B. auch in Berlin nicht. Vor einigen Jahren erzählte man, dafs ein Anwalt beim Kammergericht beim Eintritt in den Sitzungssaal zu dem gegnerischen Anwalt geäufsert habe: „Seit wann geht denn die Berufung vom Landgericht ans Amtsgericht?" Drei oder gar vier Beisitzer des Senats sollen nämlich Amtsrichter gewesen sein. Se non è vero, è ben trovato. Heut steht die Sache zwar besser, doch ist auch jetzt noch meist einer der Senatsbeisitzer ein Land- oder Amtsrichter. Beim Landgericht I sind die Direktoren der Strat kammer dauernd verhindert, einmal in der Woche den Vorsitz zu führen, beim Amtsgericht I waren Anfang 1904 zur Erledigung der Prozesse 78 Richter und 17 Assessoren, für die Vormundschafts- und Nachlafssachen 15 Richter und 4 Assessoren bestimmt. Glücklicherweise (oder soll man sagen unglücklicherweise) hat das Reichsgericht bisher diese Verwendung von Hilfsrichtern gebilligt. In dem Urt. v. 23. Februar 1904 erklärt es: Eine Verletzung der Vorschriften über die Gerichtsbesetzung kann daraus, dafs 3 Gerichtsassessoren als Mitglieder der Strafkammer tätig gewesen sind, nicht hergeleitet werden. Dabei mag das RG. zwar wohl mit Recht davon ausgegangen sein, dafs nicht von ihm, sondern von der Justiz-Verwaltung zu entscheiden ist, inwieweit und wie lange ein Bedürfnis nach Hilfsrichtern gemäfs § 69 Abs. II GVG. vorliegt. Aber das ändert doch nichts an der Tatsache, dafs in Preufsen von der Einrichtung der Hilfsrichter in einer Weise Gebrauch gemacht wird, die vielleicht noch eben mit dem Wortlaut, aber sicher nicht mit dem Sinne des GVG. in Einklang zu bringen ist.

Nun wird man fragen, wodurch vergeht man sich gegen die Absicht des Gesetzes? Die Richter gehen alle aus dem Assessorenstande hervor, und der Name tut nichts zur Sache.

Wenn der Abg. Oeser demgegenüber (a. a. O.) in erster Linie darauf hingewiesen hat, dafs den Assessoren die Menschenkenntnis, die Erfahrung und die Abgeklärtheit des Urteils fehlen, so trifft das nicht ganz den Kern der Sache. Alles das sollen und können die jungen Juristen ja gerade erst durch die Praxis erlernen. Die feste Anstellung hilft hierzu nicht. Das, was Oeser rügt, müfste gerade zu einer Verteidigung des Hilfsrichtertums führen; je länger die Assessoren an einem Landgericht zusammen mit älteren Richtern arbeiten, desto mehr Menschenkenntnis und Erfahrung sammeln sie.

Das ist es nicht, was gegen das Institut der Hilfsrichter spricht, vielmehr in erster Linie ihre mangelnde Unabhängigkeit. Der Richter soll nur dem Gesetz unterworfen sein. Der Assessor ist verpflichtet, jedes Kommissorium anzunehmen, das

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ihm der Minister bestimmt, und von diesem hängt es ab, ob er überhaupt angestellt wird. Nun hat man aber die Unabhängigkeit der Richter mit so vielen Schutzwehren umgeben, die Zuziehung der Hilfsrichter beim Reichsgericht ganz verboten, gerade um dem Volke klar zu machen, dafs die Verwaltung keinen Einfluss auf die Rechtsprechung haben kann. Das Vertrauen in eine gute, unparteiische Rechtspflege, eines der heiligsten Güter, soll erhalten und geschützt werden, und dabei ist auch schon der leiseste Schein zu vermeiden, als ob die Verwaltung durch Anstellung von Hilfsrichtern hier einen Einfluss gewinnen wolle. Sicher denkt jetzt an mafsgebender Stelle niemand daran; sicher existiert kein Assessor, der seiner Beförderung zuliebe gegen seine Ueberzeugung urteilt; aber das genügt nicht, es mufs dem in diese Verhältnisse nicht eingeweihten Laien auch die Furcht genommen werden, es könne so etwas geschehen.1) Darum widerspricht es dem Geist des Gesetzes, wenn man dauernd Hilfsrichter verwendet statt ständiger Richter.

Aber es kommt noch ein zweites hinzu: Die Rechtsprechung selbst leidet unter dem Hilfsrichtertum. Nicht, dafs die Assessoren im Durchschnitt schlechter arbeiteten als die Richter, aber sie wechseln naturgemäfs häufiger, und den Kammern wird so die Möglichkeit verschlossen, dafs sich die Mitglieder miteinander einarbeiten, und dafs sich dadurch eine gewisse Praxis über grundsätzlich wichtige Fragen bildet. Es ist vorgekommen, dafs eine Zivilkammer, der zur Aushilfe für einzelne Sitzungstage ein Hilfsrichter zugewiesen war, als Berufungsinstanz eine streitige Rechtsfrage entgegengesetzt entschieden hat, je nach der zufälligen Besetzung. Noch schlimmere Wirkung mufs es für die Rechtspflege haben, wenn so etwas beim Senate eines Oberlandesgerichts vorkommt, dem zur Entlastung der Mitglieder ein Hilfsrichter beigeordnet ist. Nicht immer ist eine Revision möglich, namentlich, wenn erst die Revisionssumme auf 3000 M. erhöht ist.

Aber nicht nur die Rechtsprechung mufs mangelhaft werden, auch die Richter leiden, die Hilfsrichter, weil sie häufig ihre Tätigkeit in den verschiedenen Kammern oder Senaten wechseln und sich immer wieder in neue Sachen einarbeiten müssen, wodurch viele Arbeitskraft unnütz vergeudet wird. Wer vor seiner Beförderung zum Oberlandesgerichtsrat bei verschiedenen Senaten tätig gewesen war, fühlt sicher, wie seine Arbeitskraft ermattet ist. Aber auch die ständigen Richter leiden. Der Vorsitzende einer Kammer wird leicht geneigt sein, diesen die gröfseren Sachen zuzuschreiben, wenn das Kommissorium des Hilfsrichters seinem Ende sich nähert, und man noch nicht weifs, wer sein Nachfolger wird. Mir hat bald nach meiner Ver

1) Es ist mir darum unbegreiflich, wie Kade, der so warm für eine Verbesserung der Rechtspflege und der richterlichen Stellung eintritt, in seinem Buche „Der deutsche Richter die Absetzbarkeit der Präsidenten befürworten kann. Die Träger der Disziplinargewalt zur Verfügung der Verwaltung! Man denke auch den Fall, dafs in politisch bewegten Zeiten einmal ein Präsident angewiesen wird, sich vor Beginn des Jahres einer Strafkammer anzuschliefsen (§ 61 GVG.), vor der ein wichtiger Prozess zur Verhandlung kommen soll.

setzung an das Landgericht der andere Beisitzer der Zivilkammer gesagt: „Es ist gut, dafs die Kammer nun endlich zwei Richter hat, bisher habe ich die grofsen Prozesse fast allein bearbeitet." Der sich darüber beklagte, war noch ein junger und in jeder Beziehung hervorragend tüchtiger Richter. Ich glaube auch nicht, dass solche Fälle vereinzelte sind.

Wie ist nun da Abhilfe zu schaffen? Es ist sehr erfreulich, dafs allen denen, die auf eine Beseitigung des Hilfsrichterunwesens dringen, ein mächtiger Bundesgenosse in der Person des Justizministers selbst entstanden ist. Er erklärte in der erwähnten Sitzung des Abgeordnetenhauses:

„Meine Bemühungen werden immer weiter dahin gerichtet sein, alles zu tun, dafs jedes Gericht eine ordnungsmässige und ausreichende Besetzung erhält. Der Erfolg meiner Bestrebungen liegt ja nicht überall in meiner Hand. Manches geht über meine Kraft dabei Erfolg müssen wir daher abwarten."

den

Nun sollte man meinen, die ordnungsmäfsige und ausreichende Besetzung der Gerichte sei etwas so Selbstverständliches und unbedingt Notwendiges, dafs der Minister, der nur diese verlangt, dabei überhaupt keinen Widerstand finden wird; aber es scheint doch so: „manches geht über meine Kraft", das heifst m. a. W.: Es ist kein Geld

da. Wenn 600 Hilfsrichterstellen in feste Stellen umgewandelt werden, so wird das vielleicht 2 bis 3 Mill. M. jährlich mehr kosten. Sollte dieser Betrag wirklich eine Rolle spielen bei dem gewaltigen Etat, der glänzenden Finanzlage Preufsens, dem wachsenden Erträgnis seiner Staatsbahnen, die, wenn ich nicht irre, diese Summe an einem Tage reichlich verdienen? Mit gerechtem Stolz weisen wir auf die zunehmende Bevölkerung Deutschlands, die immer steigende Bedeutung seiner Industrie und seines Handels hin; wenn sich aber als notwendige Folge dieser Zunahme der Einwohner und des Verkehrs auch die Prozesse an Zahl und an Kompliziertheit vermehren, so ist kein Geld dazu da, einige hundert Richter mehr anzustellen und demgemäss zu besolden. Man verwendet lieber billigere und nicht einmal immer an Zahl genügende Hilfskräfte und lässt es geschehen, dafs die Dauer der Prozesse ständig zunimmt.

Mit verhältnismäfsig wenig Geld kann ein grofser Uebelstand beseitigt werden. Man kann aber dabei sogar noch Richter sparen, freilich nicht dadurch, dass man sie überlastet, sondern durch Entlastung von unnützen Arbeiten.

Zu diesem Zwecke möchte ich vorschlagen: 1. Die Kostenfestsetzungsbeschlüsse kann der Gerichtsschreiber ebensogut machen, wie er die Gerichtskostenrechnung aufstellt.

2. Der weitläufige Tatbestand bei Versäumnisund Anerkenntnis-Urteilen kann fortfallen. Im ersten Falle könnte er als Schlufs des Protokolls etwa so lauten: „Der geladene, aber nicht erschienene Beklagte wird dem Klageantrag gemäfs auf Grund der schlüssigen Klagebehauptungen verurteilt usw." Die Klage müfste dann natürlich bei der Vernichtung

der Akten erhalten bleiben. Man wende nicht ein, dafs Versäumnisurteile keine Arbeit machen. Bei den Amtsgerichten, bei den Kammern für Handelssachen ist ihre Zahl manchmal recht bedeutend, erdrückend wird sie geradezu in den Gerichtsferien, wenn z. B. eine Ferienkammer das Pensum von fünf Kammern für Handelssachen abmachen muss. Noch mehr Arbeit würde erspart, wenn auch beim Tatbestand der kontradiktorischen Urteile die Bezugnahme auf Schriftsätze im weitesten Umfang gestattet würde.

Freilich gehörte zu alledem auch eine Reform der ZPO., und diese ist notwendig; hat doch Grat Posadowsky im Reichstag am 8. Juni 1904 erklärt: „Nun hat sich unzweifelhaft ergeben, dafs unser Amtsgerichtsverfahren zum Teil sehr langsam und schleppend ist, die Schuld liegt am Gesetz,

das nächste Ziel mufs sein eine Reform unseres Amtsgerichtsverfahrens." Wenn nun demgegenüber der Staatssekretär des Reichs-Justizamts nicht das Wort zur Verteidigung dieses Verfahrens ergreift, so bleibt nur übrig, sobald als möglich ein Notgesetz als Novelle zur ZPO. auszuarbeiten und dem Reichstag bei seinem Wiederzusammentritt vorzulegen. In diesem könnten jene hier gemachten Vorschläge, wenn sie Billigung finden, mit berücksichtigt werden. Worauf wartet man denn noch? Grofse Streitfragen wie beim Strafrecht und Strafprozefs sind doch hier nicht zu erwarten und zu erledigen, und dafs ein schlechtes Amtsgerichtsverfahren so schnell als möglich verbessert werden mufs, bedarf doch keines Beweises. So wenig wie unsere Heeresverwaltung schlechte Waffen duldet, darf es die Justizverwaltung tun, und das Prozessverfahren ist die Waffe im Kampf ums Recht.

3. Wird die Zuständigkeit der Schöffengerichte erweitert1), so wird man für eine gröfsere Anzahl von Strafsachen künftig nur einen Richter gebrauchen statt fünf.

Zu alledem kommt noch eins. Wird die Hilfsarbeiterschaft bei den Amts-, Land- und Oberlandesgerichten auf den Fall einer notwendigen Vertretung beschränkt, so wird die Rechtsprechung eine schnellere und bessere werden, damit werden auch die Berufungen und die Revisionen abnehmen und eine Entlastung der Oberlandesgerichte und des Reichsgerichts eintreten ohne Erhöhung der Revisionssumme.

Man sieht vielleicht aus alledem, dass das Geldopfer, das dem Staat zugemutet wird, nicht einmal so grofs ist, als es auf den ersten Blick erscheint, und die Beschränkung des Hilfsrichtertums auf die Fälle einer notwendigen Vertretung bei einigermafsen gutem Willen nicht so schwierig ist. Wenn die öffentliche Meinung in den Fachzeitschriften, der Tagespresse und in den Parlamenten den nur das unbedingt Notwendige fordernden Justizminister wieder und wieder unterstützt, so wird es gewiss gelingen, den Widerstand des Finanzministers end

1) Vgl. die Abhandlung des Präsidenten v. Bomhard S. 565 d. Bl.

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