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versagt das Reichsgericht das Teilurteil über einzelne Posten eines Kontokurrentes, wenn auf Zahlung des Saldos geklagt ist, 1) und ebenso bei einer Klage auf Abnahme der Ware und Zahlung des Preises. 2) In beiden Fällen hängt die Rechtsmittelfrage von der Wahl der Urteilsart ab. Auf der anderen Seite das Bemühen, die Partei nicht zwecklos durch deren Versehen leiden zu lassen. Der Parteibetrieb bat die Folge, dafs nur das von ihr Vorgetragene den Prozefsstoff bildet. Es gibt aber Umstände, in denen das Gericht verpflichtet ist, sein Fragerecht auszuüben. Die richterliche Fragepflicht ist in den Händen des Reichsgerichts zum Schutzmittel gegen die Schäden der Verhandlungsmaxime geworden. Schlimmer noch als aus dieser sind die Folgen des Parteibetriebes bei der Versäumung von Fristen. Die ZPO. kennt eine Wiedereinsetzung nur bei Verhinderung durch Naturereignisse oder andere unabwendbare Zufälle. Hiervon kann auch das Reichsgericht nicht befreien. Allein trotzdem findet man die Neigung, unbilligen Ergebnissen durch eine weitherzige Auslegung dieses Begriffs zu entgehen. So namentlich bei einer Versäumung der Frist durch Verspätung der Bewilligung des Armenrechts. Der Verlust eines Rechtes als mittelbare Folge der Armut erscheint als unverdiente Härte.

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Ein gewaltiges Gebiet öffnete sich dem Reichsgericht am 1. Januar 1900 mit dem neuen Zivilrechte. Gewifs ist das BGB. kein revolutionierendes Werk, das sich in bewufsten Gegensatz zu den bisherigen Rechten stellen will. Es ist eine Fortbildung derselben, eine Anpassung der schon seither lebenden Rechtsideen an die heutige Zeit. einer Reihe von Punkten läfst sich auch die Rechtsprechung aus der Vergangenheit in die Gegenwart ohne Sprung hinüberleiten. Aber ebenso unverkennbar ist das neue Recht doch auch ein selbstständiges Produkt der neuen Zeit, dem eine Fülle von Ideen und Gestaltungen eigener Art innewohnt. Dieses neue Gebäude wohnlich zu machen, die leeren Räume auszufüllen, das ist die Aufgabe der Praxis. Das Reichsgericht ist mit Freude an dieses Werk gegangen. Es mag vielleicht Täuschung sein, vielleicht aus der eigenen Seele etwas in die Urteile hineingetragen werden: ich habe den Eindruck, als ob seit der Bearbeitung des neuen Rechts ein besonders frischer und froher Zug durch das Reichsgericht gehe, als ob mit der Arbeitslast auch die Arbeitsfreude gewachsen sei. Und soweit sich sehen und empfinden läfst, trifft die Judikatur des Reichsgerichts im neuen BGB. auf frohe Zustimmung auch in den Kreisen der Beteiligten.

Um diese Worte zu beweisen, müfste man die Möglichkeit haben, eine besondere Arbeit „Das Reichsgericht und das BGB." zu schreiben. Hier bleibt nichts übrig, als einzelne Stichproben zu machen. So findet man jetzt gern ein Erörtern von prinzipiellen Punkten. Es ist z. B. erwogen3), wem die

1) Entsch. 22 S. 400.

2) Seuff. Arch. 46 No. 220.

3) Im Urt. v. 15. Juni 1903 (Entsch. 55 S. 17 ff.).

Eigentümerhypothek beim Nichtbestehen der Forderung zusteht. Das Reichsgericht weist sie dem Eigentümer z. Z. der Eintragung der Hypothek zu, nicht dem z. Z. der Feststellung der Nichtexistenz. Dann wird aber gesagt, dafs die Unterscheidung für den vorliegenden Fall keine Bedeutung habe (S. 222). Ich weifs nicht, ob das Reichsgericht nicht in früheren Jahren die ganze Frage als nicht zur Entscheidung erforderlich umgangen hatte. Aehnlich verfuhr das Reichsgericht, als ihm die Frage vorgelegt wurde, ob bei der Form der Schriftlichkeit die Unterzeichnung mit dem Namen des Vertretenen zulässig sei.1) Der Versuchung, diese für das Zivilrecht wichtige Frage zu meiden, indem der spezielle Fall als handelsrechtlich besonders gelagert behandelt wurde, ist das Reichsgericht nicht erlegen. Es ergriff Partei in der Kontroverse selbst unter voller Würdigung des für beide Meinungen Vorgetragenen.

Durch alle Entscheidungen zieht sich das Bestreben, im Geiste des neuen Rechts zu urteilen, dem deutschen Volke ein praktisch brauchbares, seinen Interessen entsprechendes Recht zu geben. Man bemerkt mit Freude eine Ablehnung formalistischer Jurisprudenz. So entspricht es dem Rechtsgefühl, wenn das Rechtsgeschäft eines Vertreters mit sich selbst als der Genehmigung des Vertretenen fähig anerkannt wird.2) So tritt das . Reichsgericht dem Versuche, auch die obligatorischen Geschäfte des Immobiliarsachenrechts an eine Form zu binden, entgegen.3) So lehnt es die Ausdehnung des § 313 BGB. auf Aufträge zur Erstehung von Grundstücken, die allerdings eine Verpflichtung zur Auflassung desselben an den Auftraggeber zur Folge haben, ab,) wie überhaupt das Reichsgericht einer weitgehenden Ausdehnung dieser Formvorschrift des Liegenschaftsverkehrs nicht geneigt ist. Auch wo es eine Erklärung für ungenügend hält, weil aus der Urkunde der Wille, eine Bürgschaft zu übernehmen, für sich allein schlechterdings" nicht zu entnehmen sei, sondern erst aus der Korrespondenz erkannt werden könne, 5) fügt das Reichsgericht doch bei, dafs es nur die Angaben des „, wesentlichen“ rechtlichen Inhaltes verlange. Es warnt also selbst wieder vor einer Ueberspannung dieses Gedankens. Die Beispiele lassen sich ohne Mühe verdrei- und vervierfachen.

Wo das Gesetz Lücken aufweist, wird auf dem Wege der Analogie und der Ausdehnung dem Bedürfnisse des Verkehrs und dem praktischen Rechtsempfinden Rechnung getragen. Nirgends im BGB. steht es mit ausdrücklichen Worten, dafs im Gebiete des Vertragsrechts einer wider Treu und Glauben verstofsenden Rechtskonsequenz die Anerkennung zu versagen sei. Aber dem Geiste des Gesetzes entspricht dieser aus einer Reihe von Einzelvorschriften zu erkennende Satz. Das Reichsgericht hat ihn wiederholt an

1) Entsch. 50 S. 57. 2) Entsch. 56 S. 107.

3) Entsch. 50 S. 77.

4) Entsch. 54 S. 75.

5) Jur. Wochenschr. 1904 S. 232 No. 4.

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erkannt. So in neuester Zeit, wenn es auch nach Umflufs der Anfechtungsfrist dem Getäuschten die allgemeine Einrede der Arglist und des Verstofses gegen Treu und Glauben gibt.1) So, indem es die Ausnutzung des Prinzips, dafs nur die dem andern Teile rechtzeitig zugegangene Erklärung Rechtswirkung habe, verhütet. „Wenn der zur Entgegennahme der Erklärung Verpflichtete deren Zugang absichtlich verhinderte oder das Unterbleiben des Zugangs nur in Umständen seinen Grund hat, die er zu vertreten hat“, so kann sich diese Partei nicht auf die infolge dieser Momente eintretende Verspätung der nachträglich gelungenen Erklärung berufen.2) Aehnlich im Gebiete des Deliktrechts. Wer sich selbst einer Gefahr aussetzt, hat deren Folgen zu tragen. Es liegt ein eigenes Verschulden vor. Trotzdem gibt das Reichsgericht dem Verletzten dann den Anspruch auf Schadensersatz, wenn sein Eingreifen in Erfüllung einer sittlichen Pflicht, zur Abwendung einer gemeinen Gefahr erfolgte.3) Auch das steht nicht im Gesetze. Aber die logischnackte Konsequenz wäre hier ebenso unannehmbar wie bei den Fällen des Rechtsgeschäfts. Die Beschädigung eines Grundstücks durch das Funkensprühen der Lokomotive läfst sich nicht als unerlaubte Handlung der Eisenbahn ansehen. Das Reichsgericht gibt dennoch der Schadensersatzklage statt „nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen". Da dem Eigentümer das Recht entzogen sei, diese Eingriffe in sein Eigentum abzuwehren, so müsse ihm notwendigerweise" hierfür ein anderweiter Ersatz gegeben sein.*) Die Entscheidung entspricht dem Rechtsgefühl. Aber nur das RG. kann es sich erlauben, so die Ergänzung des Gesetzes zu treffen.

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Neben diese juristische. Aufgabe des Reichsgerichts tritt aber eine weitere. Der Richter hat nicht nur logisch aus dem Gesetze das subjektive Recht abzuleiten. Es bedarf für ihn einer Fülle „aufsergerichtlichen Wissens". Neben den Juristenverstand tritt der Laienverstand. Nicht wenig Erkenntnisse werden sich finden lassen, in denen Dinge besprochen und beurteilt sind, die unmittelbar mit der Rechtswissenschaft nichts zu tun haben. Je mehr ein Gesetz den Richter, statt feste Regeln zu geben, auf die Anschauungen des Verkehrs verweist, desto mehr wird diese Seite der richterlichen Funktionen hervortreten. In wie hohem Masse dies bei dem BGB. der Fall, ist sattsam bekannt. Die Urteile des Reichsgerichts, und nicht nur die nach dem 1. Januar 1900 für das Gebiet des neuen Rechts erlassenen, sind ein Niederschlag dieser Verkehrsauffassung, auch hier die notwendige Ergänzung des Gesetzgebers. Es handelt. sich dabei nicht nur um Erläuterung von Erscheinungen des Lebens, die das Gesetz nicht näher umschreibt, wie „des Bauwerks"5) oder des „Einfügens".")

1) Jur. Wochenschr. 1904 S. 89 No. 3.

2) Jur. Wochenschr. 1904 S. 337 No. 4.

3) Entsch. 50 S. 219, Jur. Wochenschr. 1904 S. 356 No. 6.

*) Jur. Wochenschr. 1904 S. 360 No. 16.

5) Entsch. 56 S. 41.

6) Jur. Wochenschr. 1904 S. 89 No. 6.

Es kommen vollständige Regeln in Betracht, die als Ausflufs des Verkehrs und seiner Auffassung in den Urteilen des Reichsgerichts an den Tag treten. Ob ein Verhalten einer Partei eine Willenserklärung ist, bestimmt die Auffassung des Verkehrs. So würdigt das Reichsgericht das Entsenden eines Omnibusses an die Eisenbahn durch einen Gastwirt1) und die Aufstellung eines Fahrstuhles durch den Eigentümer eines Balllokales. 2) So wird, besonders für den Handelsverkehr, der Grundsatz durchgeführt, dass das Stillschweigen eines Teiles auf die Willenserklärung des anderen Teiles als Einverständnis aufgefafst wird. 3) Der in ständiger Praxis festgehaltene Satz, dafs die nicht in eine Vertragsurkunde aufgenommenen Punkte nicht zum Inhalte eines Rechtsgeschäfts gehören, spricht nicht minder eine lediglich dem Leben entnommene Anschauung des Verkehrs aus. 4)

Bei der Anfechtung des Rechtsgeschäfts wegen Irrtums spielt die Anschauung des Verkehrs herein (§ 119), wenn die Eigenschaften der Sachen oder Personen in Betracht kommen. Die Kenntnisse von der Auffassung des Verkehrs hat auch das Reichsgericht nur aus den allgemeinen Lebenserfahrungen, nicht aus dem Gesetzbuche. So wird beim Ankauf von Bergwerkskuxen angenommen, dafs die Unkenntnis über das Bergwerk betreffende ungünstige Ereignisse" (ein Laugeneinbruch, der den Betrieb nur vorübergehend gestört hatte) keinen Irrtum über Eigenschaften begründe, die im Verkehre als wesentlich angesehen werden. 5) Wenn dabei das Reichsgericht seine Argumentation mit dem Satze beginnt: Bergwerkskuxe sind Spekulationspapiere, bei denen jederzeit mit dem Eintritte ungünstiger Ereignisse gerechnet werden mufs", so ist dies das Musterbeispiel für eine These, die lediglich der allgemeinen menschlichen Erfahrung entstammt. Am zahlreichsten finden sich diese Ausflüsse der Verkehrsauffassung bei der Auslegung der Rechtsgeschäfte. Sind doch die dispositiven Auslegungsregeln des Gesetzes auch nur kodifizierte Verkehrsauffassungen und verweist das BGB. selbst wieder überall da, wo solche fehlen, auf die Verkehrssitte (§ 157, § 242 BGB.). Bekannt ist die Auslegung des Reichsgerichts in den österreichischen Couponsprozessen. Man findet dort eine Reihe von Ausführungen über Währung, über den Stand der österreichischen Finanzen usw.) Zu dem Telephon war das Reichsgericht genötigt, Stellung zu nehmen, als sich die Frage aufwarf, ob der Vermieter verpflichtet war, die Anbringung dieser damals neuen Erfindung zu gestatten.) Es geht auf die nach der Verkehrsauffassung aus der Miete fliefsenden Befugnisse des Mieters ein. „Dafs Bilder aufgemacht, Kronleuchter angeschraubt, Spiegel aufgehängt werden dürfen,

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gilt als selbstverständlich", heifst es hierbei. Und dieses selbstverständlich" zeigt wieder, dafs hier kein Rechtssatz, aber ein Satz der Verkehrssitte in Frage ist.

Aber auch aufserhalb des Gebietes der Rechtsgeschäfte spielt die Verkehrsauffassung herein. Auch WO sie nicht im Gesetze besonders anerkannt ist, kann sie das Reichsgericht nicht entbehren. Die Frage des Verschuldens bei der unerlaubten Handlung lässt sich nur mit Hilfe des Erfahrungswissens beantworten. Die besonderen Eigenschaften des Automobils führen zur Verpflichtung, sich bei der Anstellung eines Führers auch über dessen Charaktereigenschaften zu vergewissern.1) Bei Gebäuden wird verlangt, dafs für solche Teile, welche Gefahr bringen, Steingebilde, Vorsprünge, Dachaufsätze, eine häufige Untersuchung stattfinde.2) Interessant sind die Urteile aus dem Gebiete des Nachbarrechts. Auch hier spricht der Mensch, nicht der Jurist das Urteil. 3) Ob der „normale Durchschnittsmensch", mit dem dabei operiert wird, ein glücklicher Griff ist, darüber kann man geteilter Ansicht sein. Im Grunde kommt die Entscheidung darauf hinaus, dafs nach den Anschauungen des Verkehrs auf besondere Gewohnheiten, wie die, bei offenen Fenstern zu schlafen, keine Rücksicht zu nehmen ist. Auch hier regt sich der leise Zweifel, ob in der Tat dies der Anschauung des Verkehrs entspricht. Solche Zweifel sind möglich, weil eben schliefslich ein unkontrollierbares Moment hereinspielt, die aus einer Summe von Einzeltatsachen gebildete Erfahrung und Kenntnis des Richters vom Leben und seinen Bedürfnissen. Doch, von Ausnahmefällen abgesehen, was die juristischen Urteile des Reichsgerichts auszeichnet, gilt in gleichem Mafse auch von seiner Wiedergabe der Verkehrssitten. Es pulsiert überall frisches Leben. Nirgends kommt das Gefühl auf, dafs vom grünen Tische aus geurteilt werde. Je länger das neue Recht in Kraft ist, desto mehr wird gerade dieser Teil der Judikatur des Reichsgerichts auf die Untergerichte befruchtend wirken.

Die dritte und letzte Aufgabe des Reichsgerichts ist vielleicht die idealste von allen. Nicht nur die Auffassung des Verkehrslebens soll der höchste Gerichtshof festsetzen. Auch die sittlichen Grundsätze der Nation spiegeln sich in seinen Urteilen. Es gibt eine Ethik auch der Rechtsprechung. Der höchste Ausdruck derselben liegt in den Aussprüchen des Reichsgerichts. Zweifellos sind Recht und Moral verschiedene Gebiete. Aber sie sind wie zwei Kreise, die sich schneiden. Ein gemeinsames Stück ist vorhanden. Es ist nicht die Aufgabe des Gesetzes, ein sittliches Ideal zu verwirklichen. Aber es reagiert gegen das Unsittliche. Daher die Bestimmung, dafs alle Rechtsgeschäfte, die gegen die guten Sitten verstofsen, nichtig sind. Daher die Bestimmungen, dafs jeder, der einen anderen in

1) Jur. Wochenschr. 1904 S. 288 No. 4.

2) Das. S. 91 No. 10.

3) Jur. Wochenschr. 1904 S. 143 No. 12 und S. 384 No. 6.

einer gegen die guten Sitten verstofsenden Weise vorsätzlich schädigt, schadensersatzpflichtig ist; daher die Rückforderung des aus unsittlicher Ursache Gegebenen, falls nicht der Geber selbst unsittlich handelt usw. Ueberall unterliegt es der Nachprüfung des Reichsgerichts, ob der Gedanke des Sittlichen richtig erfafst ist. Auf der anderen Seite ist das Familienrecht, das Verhältnis von Mann und Weib, Eltern und Kindern kodifiziertes Sittengesetz. Die Auslegung dieses Gebietes kann wieder nur ethischer Basis aus geschehen. Es wäre eine interessante Aufgabe auch für den Ethiker, die Urteile des Reichsgerichts auf diesen Gehalt an Prinzipien der Sittengesetze zu durchsuchen.

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Wiederholt betont das Reichsgericht, dafs es bei der Frage, ob etwas sittlich sei oder nicht, nicht auf die besondere Anschauung der Standesgenossen ankomme, sondern auf die zur Zeit überhaupt im Volke anerkannte und geübte Moral.1) Das Reichsgericht ist sich bewufst, dafs es kein sittliches Ideal fordern darf. Auf die tatsächlich geübte Moral legt es den Nachdruck. Man muss sich damit begnügen, dafs gute Sitten herrschen". Die Handlungsweise vornehm denkender" Käufer dürfe dagegen nicht hereingezogen werden.2) Dieses Volksbewufstsein im Gebiete des Sittlichen wird aber wieder vom Reichsgericht auf Grund seines eigenen Empfindens erkannt und festgestellt. So grofs die Versuchung wäre, jene Ethik des Reichsgerichts zu skizzieren, ich mufs hier darauf verzichten. Ich begnüge mich mit dem einen, für unsere Zeit so wichtigen Gebiet, dem des gewerblichen Lebens. Was ist hier im Wettbewerbe sittlich erlaubt, was verboten? Der Mafsstab, den das Reichsgericht hier anwendet, ist die Auf-, fassung unbeteiligter, billig und gerecht denkender Menschen".) Aber auch das persönliche Empfinden spielt bedeutend herein. Während der II. Zivil-" senat es nicht als unsittlich ansieht, wenn ein Arbeitgeber seine Arbeiter entläfst, um dadurch auf Beendigung des bei einem anderen ausgebrochenen Streikes hinzuwirken (a. a. O.), sieht der VI. Zivilsenat in der Herbeiführung der Arbeitssperre über einen Arbeiter durch seinen Arbeitgeber innerhalb eines Verbandes einen Verstofs gegen die guten Sitten.) Die letztere Entscheidung verlangt als sittliches Gebot die Einhaltung von Schranken auch in den Kämpfen des gewerblichen Wettbewerbes. Unzulässig sind auch die Kampfmittel, „die nach den allgemein bestehenden Sittenanschauungen schlechthin oder doch unter den gegebenen Umständen als unbillig und ungerecht erscheinen". Auf ähnlichen Gedanken beruht die Beurteilung der Syndikate und Kartelle.5) Unsittlich ist es, wenn der Ring nicht dem berechtigten Bestreben der Gewerbetreibenden auf Stärkung und Erhaltung ihrer wirtschaftlichen Existenz dient, son

1) Jur. Wochenschr. 1904 S. 256 No. 1.

2) Jur. Wochenschr. 1903 Beil. 14 S. 120 No. 265.

3) Entsch. 54 S. 259.

4) Jur. Wochenschr. 1904 S. 293 No. 16.

5) Entsch. 28 S. 243, 38 S. 155, Jur. Wochenschr. 1897 S. 194 No. 28, Seuff. Arch. 44 S. 16.

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dern die Vernichtung der Existenz anderer, aufserhalb des Ringes Stehender erstrebt. Erlaubt ist aber das Zusammenfinden, um gegenseitigen Preisunterbietungen zu begegnen. Man sieht überall auf diesem Gebiete die Art des Empfindens des Reichsgerichts. Es reagiert gegen die schrankenlose Ausbeutung des Schwächeren durch den Stärkeren, auf welchem Gebiete des wirtschaftlichen Lebens sie sich auch abspielt.

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Im Gebiete des Familienrechts ist eine umfangreiche Rechtsprechung für die relativen Ehescheidungsgründe des § 1568 BGB. erwachsen. Die Praxis des Reichsgerichts erhebt diese Stelle zu einer der wichtigsten des Eherechts. Die Erschwerung der Scheidung wird ein wenig wieder ausgeglichen durch die Möglichkeit, die Ehe zu trennen, wenn ihr Fortbestand mit dem sittlichen Wesen der Ehe unvereinbar, mit anderen Worten gegen die guten Sitten wäre. Charakteristisch ist dabei aber, wieder von dem Gesichtspunkte aus, dafs es sich um ethische Momente handelt, wie das Reichsgericht eine schablonenhafte Regelung vermeidet und jeden Fall auf die subjektive Seite hin prüft. So wird die Aufgeregtheit1) oder der krankhafte Zustand des beklagten Ehegatten2) berücksichtigt. Sie können den Vorwurf der Verletzung der ehelichen Pflichten beseitigen. Beim Durchlesen der Einzelfälle findet man überall denselben Grundgedanken, die Beurteilung der Ehe vom sittlichen Gesichtspunkte aus. Wie weit das Reichsgericht darin gehen wird, ob es für besonders feinfühlende Naturen auch da das Zusammenleben als ein dem sittlichen Geiste der Ehe Widerstrebendes ansehen wird, wenn die Verletzung sich nur als für den anderen Teil in seiner Individualität schwer darstellt, bleibt noch abzuwarten. Doch wird man heute schon den Eindruck haben, dafs das Reichsgericht eine freie und weite Auslegung des § 1568 BGB. erstrebt, gerade weil ihm das Zusammenschmieden zweier Ehegatten bei zerrütteter Ehe als gegen die guten Sitten erscheint. Derselbe Gedanke ist leitend bei der Anfechtung der Ehe. Sie wird der Ehefrau wegen Irrtums über Eigenschaften des Mannes zugesprochen, wenn der Ehemann vor seiner Verheiratung ein ehebrecherisches Verhältnis mit einer anderen Frau hatte.3) „Es kann nicht bezweifelt werden, dafs die aus der Begehung eines Ehebruchs nach allgemeiner Anschauung hervorgehende Achtungsverminderung auch des Mannes für ein anständiges Mädchen regelmäfsig ein Grund ist, sie von Eingehung der Ehe mit dem bescholtenen Manne abzuhalten.“ Man sieht aus den Wendungen dieser Begründung, dafs auch hier nur ein Satz allgemeiner Lebenskenntnis ausgesprochen wird, hervorgehend aus dem eigenen sittlichen Empfinden des Gerichts, aber gestützt auch auf die Erfahrungen des Lebens selbst. Auch die Gefühle des „, anständigen Mädchens" bleiben dem Reichsgericht nicht fremd.

So wie hier, so überall in seiner Rechtsprechung. Mag es sich um Auslegung des Gesetzes, um Fest

1) Jur. Wochenschr. 1901 S. 55.

2) Jur. Wochenschr. 1903 Beil. S. 27.

3) Gruchot, Beitr. 48 S. 609.

stellung der Verkehrsauffassung, um Erkenntnis des. Sittengebotes handeln, allüberall steht das Reichsgericht in unmittelbarer Fühlung mit dem rechtlichen und sittlichen Empfinden des Volkes. Keine chinesische Mauer trennt es von ihm. Wir spüren in seinen Urteilen den Pulsschlag der Nation. Auch der oberste deutsche Gerichtshof weifs sich eins mit seinem Volke, auch er ein Souverän in seinem Reiche.

Die Rechtsprechung des Reichsgerichts in Strafsachen.

Vom Oberlandesgerichtspräsidenten Dr. Hamm, Köln. Will die Deutsche Juristen-Zeitung" zum 25jährigen Jubiläum des Reichsgerichts einen Rückblick werfen auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs in Strafsachen, so muss es ein Rundblick vom Berge in weite Fernen sein, wo die Einzelheiten verschwimmen und nur ein Gesamtbild vor das Auge tritt. Es hat hierfür keinen Wert, aus den bis jetzt erschienenen 36 Bänden Strafentscheidungen besonders wichtige zu einer eingehenden Besprechung herauszugreifen; sondern es läfst sich nur im allgemeinen, wenn auch unter beispielsweiser Anführung einzelner Entscheidungen, die Art und Weise vor Augen führen, in welcher das Reichsgericht als höchster Strafrichter auf die vor sein Forum gelangenden Fragen die Entscheidung sucht und findet.

Und dabei möchte vor allem die Rechtsprechung auf dem Gebiete des materiellen Strafrechts zu berücksichtigen sein, da es sich bei den Entscheidungen über den Strafprozefs mehr um rein technischjuristische Dinge handelt.

Was den Strafprozefs betrifft, so soll blofs das als ein hohes Verdienst des Reichsgerichts hervorgehoben werden, dafs es in der ihm obliegenden Prozefsführung sich streng an das Gesetz, streng in den durch die StrPO. gezogenen Schranken des Rechtsmittels hält. Eine Nachprüfung der von dem Instanzrichter getroffenen tatsächlichen Beurteilung der Sache wird von ihm stets abgelehnt und das Instanzurteil nur aufgehoben, wenn es auf einer falschen rechtlichen Beurteilung beruht, andererseits aber auch nicht vor einer Urteilsfassung Halt gemacht, welche sich durch schematische Wiederholung der vom Reichsgericht aufgestellten allgemeinen Rechtssätze gegen die Aufhebung decken will, sofern die Anwendung dieser Sätze auf den vorliegenden Fall eine falsche Auslegung derselben erkennen lässt. Es ist ein Segen für unsere Strafjustiz, dafs die Strafsenate des Reichsgerichts durch diese strenge Selbstbeschränkung die auf der mündlichen Verhandlung beruhende freie Beurteilung des Tatsächlichen vor jedem Angriff auf Grund des Inhalts der Akten gesichert und damit Mündlichkeit wie freie Beweiswürdigung als Grundlagen unseres Strafverfahrens unerschütterlich festgelegt haben.

Von grofsem Wert für die Strafrechtspflege ist weiter auch die Sorgfalt, mit der die einzelnen Senate unter wesentlicher Mithilfe der Reichsanwaltschaft der Rechtsprechung der anderen

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Senate ständig folgen und die Treue, mit der sie sich durchweg an diese, so lange nicht eine anderweite Plenarentscheidung ergangen ist, gebunden erachten. Auf diese Weise erhält das Reichsgericht dem deutschen Volke das hohe Gut einer einheitlichen Rechtsprechung.

Mit der gleichen Festigkeit wie im Verfahren, hat sich das Reichsgericht auch auf dem Gebiete des materiellen Strafrechts stets streng an das Gesetz gehalten und sich nicht durch politische, konfessionelle oder soziale Tendenzen oder durch ein angebliches öffentliches Interesse von dem Wege abdrängen lassen, die Entscheidung der strafrechtlichen Fragen lediglich im Gesetz zu suchen. So heifst es in dem Beschlusse der Ver. Strafsenate v. 6. Juni 1891 (E. 22, 65), der den Redakteuren den Einwand des mangelnden dolus öffnete:

,Dafs mit solcher wesentlichen Erweiterung des zulässigen Exkulpationsbeweises zugunsten der Redakteure die Gefahren einer möglichst unverantwortlich redigierten Tagespresse sich mehren können, ist nicht verkannt worden. Der Beruf des Strafrichters, die repressive Kraft des Strafgesetzes ungeschwächt zu erhalten, vermag sich indes nicht weiter zu betätigen, als dem Strafgesetze selbst repressive Kraft beiwohnt."

Mit voller Objektivität und Unparteilichkeit hat das Reichsgericht den Schutz des § 166 StrGB. einesteils den verschiedenen Religionsgesellschaften ohne Unterschied gesichert und anderenteils innerhalb der vom Gesetz gewollten Schranken gehalten. Der katholischen Kirche gewährt das Reichsgericht1) Schutz gegen die Beschimpfung der Reliquienverehrung oder des Instituts der kirchlich approbierten Orden im allgemeinen als eines Gebrauchs der katholischen Kirche, versagt ihn aber gegen die Beschimpfung einer bestimmten Reliquie oder eines bestimmten einzelnen Ordens. Bei der evangelischen erkennt es2) an, dafs die Bezeichnung der geistbefreienden Kraft des evangelischen Glaubens als Humbug eine Beschimpfung dieses Glaubens und damit der evangelischen Kirche selbst enthalte. Ebenso3) wird der § 166 auf die Behauptung, dafs der Ritualmord eine Einrichtung der jüdischen Religionsgesellschaft sei, als eine Beschimpfung dieser Religionsgesellschaft anwendbar erklärt. Durch diese ruhige, gleichmässige Anwendung ist dem § 166 seine grofse, gerade gegenwärtig besonders wichtige Bedeutung als eines Mittels, den Kampf der Konfessionen gegen einander zu mäfsigen, ungeschmälert geblieben. Wenn der III. Senat in dem noch später zu besprechenden Urteil1) Arbeiter, welche von dem Arbeitgeber durch die Drohung, den Streik fortzusetzen, Vorteile erzwingen wollen, des Erpressungsversuchs für schuldig erachtet, so hat der nämliche Senat dagegen ein landes

1) Urt. IV, 24. Nov. 1891 (E. 22 S. 238 und Stenglein, Strafrechtslexikon I S. 335 No. 13), I, 13./20. Febr. 1893 (E 24 S. 15 und Stenglein, Strafrechtslexikon I S. 336 No. 14), und II, 27. März 1900 (E 33, S. 221).

2) Urt. I, 24. Jan. 1897 (Goltd. 45 S. 34, Stenglein, StrafrechtsLexikon I S. 340 No. 20).

3) Urt. II, 2. Juni 1896 (E. 28 S. 403, Stenglein, Strafrechts-Lex. I S. 339 No. 19).

4) Urt. III, 6. Okt. 1890 (E. 21 S. 114, Stenglein, StrafrechtsLex. I S. 625 No. 18).

gesetzliches Strafgesetz gegen das Streikpostenstehen als mit dem reichsgesetzlich gewährten Koalitionsrecht in Widerspruch stehend für ungültig erklärt.1)

Wo das Strafgesetz lückenhaft ist oder zu Zweifeln Raum läfst, sucht die Rechtsprechung des Reichsgerichts die Entscheidung in den von der Wissenschaft und dem gemeinen Recht aufgestellten strafrechtlichen Grundsätzen. Vor allem hält sie, sofern keine positive Gesetzesvorschrift etwas anderes bestimmt, mit einer, die höchste Anerkennung verdienenden Entschiedenheit daran fest, dafs eine Straftat stets ein subjektives Verschulden voraussetzt. In dem bereits oben erwähnten Urteil der vereinigten Senate hat das Reichsgericht diesen Grundsatz selbst gegenüber der im Prefsgesetz aufgestellten fiktiven Verantwortlichkeit der Redakteure durchgeführt und dabei ausgesprochen:

„Einen Redakteur, welcher erwiesenermassen an der Herstellung und Veröffentlichung eines Prefserzeugnisses strafbaren Inhalts in keiner Weise vorsätzlich mittätig geworden ist, dennoch zum dolosen Täter des Strafdelikts stempeln zu wollen, würde zweifellos eine so wesentliche Durchbrechung der gemeinrechtlichen Grundsätze vorsätzlicher Verschuldung enthalten, wie sie nur auf dem Boden unzweideutiger politischer Gesetzesnormen für statthaft erachtet werden könnte.“

Wenn das Reichsgericht bei der „üblen Nachrede" angesichts der positiven Bestimmung des § 186 StrGB. in dem guten Glauben des Täters an die nicht erweisliche Behauptung keine Entlastung finden kann, so hat es aber dann in den Fällen des $ 193 entschieden darauf gehalten, dafs gegen den Täter aus Form oder Umständen der Aeufserung die beleidigende Absicht dargetan werden müsse. Immer wieder haben die Instanzrichter, insbesondere bei frivolen Anzeigen gegen Beamte, in dem Bestreben, den zu Unrecht beschuldigten Beamten eine Genugtuung zu verschaffen, eine Bestrafung wegen der diesen durch die Anzeige objektiv zugefügten schweren Beleidigung ausgesprochen, indem sie aus der Schwere der dem Beamten vorgeworfenen Strafhandlungen und aus der Bestimmtheit der Beschuldigung die Absicht, den Beamten zu beleidigen, folgerten. Aber stets haben die Strafsenate mit vollberechtigter Konsequenz diese Urteile aufgehoben, weil in den Fällen des § 193 die Absicht zu beleidigen nie aus dem Inhalt der Aeufserung, sondern aus der Form zu entnehmen sei und die Instanzrichter Form und Inhalt der Aeufserung verwechselten. 2)

Soweit das Reichsgericht den Schutz des § 193 der Presse versagt und dies damit begründet, dass dieser ein allgemeines Recht, vermeintliche Uebelstände öffentlich zu rügen, und jedes Vorkommnis, auch wenn es andere in ihrer Ehre verletzt, in die Oeffentlichkeit zu bringen, nicht zugestanden werden könne3),

1, Urt. III, 4. Febr. 1891 (E. 34 S. 121).

2) Urt. IV, 10. Juni 1890 (E. 21 S. 1. Stenglein, Strafrechts-Lex. II S. 961 No. 54), II, 5. Febr. 1892 (E. 22 S. 329, Stenglein, Strafrechts-Lex. II S. 963 No. 57).

3) Urt. II, 16. Dez. 1881 (E. 5 S. 239, Stenglein, StrafrechtsLex. II S. 939 No. 12), II. 3. Juli 1883 (Rechtspr. 5 S. 490, Stenglein, Strafrechts-Lex. II S. 940 No. 15), II, 21. Sept. 1883 (Rechtspr. 5 S. 541, Stenglein, Strafrechts-Lex. II S 941 No. 16), IV, 10. Okt. 1884 (Rechtspr. 6 S. 615, Stenglein, Strafrechts-Lex. II S. 941 No. 17), II, 5. Nov. 1886 (E. 15 S. 15, Stenglein, Strafrechts-Lex. II S. 942 No. 19).

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