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läfst sich das nach Lage der Gesetzgebung nur billigen. Dafs man im Rahmen eines Strafgesetzes, welches, wie das unsere, die Ehre eines jeden und gewifs mit Recht gegen die Verbreitung nicht erweislicher, ihn beleidigender Tatsachen schützt, unmöglich zugunsten der wirksamsten Verbreiterin eine allgemeine Ausnahme lediglich deshalb aufstellen kann, weil deren Lesepublikum ein Interesse an sensationellen Neuigkeiten hat, liegt auf der Hand. Andererseits mufs man zugeben, dafs es zum Beruf der Presse gehört, Mifsstände im öffentlichen Leben, insbesondere auch Mifsbräuche öffentlicher Behörden und Beamten, zur Sprache zu bringen und zu bekämpfen. Aber hierbei ist im öffentlichen Interesse von der Presse zu fordern, dafs sie derartige Mitteilungen nicht frivol und leichtfertig aufnimmt, sondern sich zuvor der Richtigkeit der Mitteilung oder wenigstens der Zuverlässigkeit ihrer Quelle vergewissert. Die Verpflichtung zu einer solchen vorsichtigen und gewissenhaften Prüfung läge der Presse bei Stellung unter den § 193 nicht ob, da dieser auch selbst frivole Anzeigen schützt. Und so ist dem Reichsgericht durchaus Recht zu geben, dafs der Presse hier nicht durch die Rechtsprechung, sondern nur durch die Gesetzgebung geholfen werden kann.

Ist in dieser Frage die Zurückhaltung des Reichsgerichts vor einer ausdehnenden Auslegung des Gesetzes gerechtfertigt, so kann indes nicht verkannt werden, dafs das Reichsgericht sich in manchen andern Fällen auch zu sehr an den Wortlaut des Gesetzes klammert, zu wenig Wert auf die allgemeine Rechtsauffassung und auf den, wenn auch nicht ausgesprochenen, doch vorauszusetzenden Willen des Gesetzgebers legt. Dies gilt vor allem bezüglich der in den Strafgesetzen getroffenen Begriffsbestimmungen der einzelnen Straftaten.

die

Dabei denke ich sowohl an die Nicht-Anwendung einer Straf bestimmung auf einen Tatbestand, der nach der allgemeinen Anschauung, für unter dieselbe fallend angesehen wird, als Ausdehnung einer Strafbestimmung auf einen Tatbestand, der nach dem im Gesetz formulierten Begriff rein logisch unter dieselbe fallen mag, der aber nach dem allgemeinen Rechtsbewusstsein als straflos gilt und dessen Unterstellung unter die Bestimmung nicht im Willen des Gesetzgebers gelegen haben kann.

Was die ersteren Fälle der einschränkenden Auslegung eines Strafgesetzes betrifft, so sind diese weniger bedenklich. Wenn das Reichsgericht denjenigen, der von dem Diebe einen Teil des Geldes, das dieser für die gestohlene Sache erlöst hat, unter Kenntnis des Sachverhalts annimmt oder mit dem Diebe verzehrt, nicht als Hehler bestraft, weil er nicht die Sache, die der Dieb direkt mittels der strafbaren Handlung erlangt hat, an sich bringt1),

1) Urt. I, 15. Nov. 1880 (E. 2 S. 443, Stenglein, StrafrechtsLex. I S. 860 No. 20), II, 29. Juni 1883 (E. 8 S. 443, Stenglein, Strafrechts-Lex. I S. 861 No. 23), II, 4. Juni 1887 (Goltd. 45 S. 270, Stenglein, Strafrechts-Lex. a. a. O. No. 24), I, 11. April 1892 (E. 23 S. 53, Stenglein, Strafrechts-Lex. S. 862 No. 25).

so widerspricht das zwar auch dem allgemeinen Rechtsgefühl und dem Rechtsschutzbedürfnis des praktischen Lebens. Aber bei derartigen Entscheidungen, welche welche eine Strafbestimmung zugunsten des Täters eng in den Schranken ihres Wortlauts halten, kann sich das Reichsgericht, wie in den vielfach angegriffenen Urteilen über die Straflosigkeit des Diebstahls von Elektrizität1), mit Grund darauf berufen, dafs zugunsten des Täters der Grundsatz nulla poena sine lege gelte und dafs hiernach die Rechtsprechung den Mangel gesetzlicher Strafbestimmungen nicht durch analoge Anwendung von Normen ausfüllen dürfe, die für diesen Fall nicht gegeben seien.

uns

Bedenklicher ist die zu weite Ausdehnung der Strafbestimmungen zum Nachteil des Täters. In dieser Richtung hat schon Gneist bei Beratung des DStrGB. in der Reichstagskommission (Protokolle S. 640) das System unseres Strafrechts bei manchen Delikten für darauf berechnet erklärt, dafs die Strafverfolgung eine gewisse verständige Diskretion übe. Und Wach macht in seinem Vortrage in der Rheinisch-Westfälischen Gefängnisgesellschaft 19012) der Formulierung der einzelnen Strafbegriffe im StrGB. den Vorwurf, dafs ihre kristallscharfe, harte Bildung dieses Produkt der Besorgnis vor Rechtsunsicherheit und richterlicher Willkür nicht nur in eine Unzahl von Streitfragen verstricke, sondern auch zu folgerichtigen, aber der Gerechtigkeit abträgigen Absurditäten führe. Dazu kommt nun noch, dafs für die Strafverfolgung der Staatsanwaltschaft das, unglückliche Legalitätsprinzip gilt, wonach der Staatsanwalt jede zu seiner Kenntnis gebrachte strafbare Handlung, abgesehen von den nur auf Antrag verfolgbaren Beleidigungen und Körperverletzungen und einigen anderen Fällen, verfolgen mufs und die Verfolgung im einzelnen Falle nicht davon abhängig machen darf, ob denn auch ein öffentliches Interesse an der Verfolgung vorliegt. Die von Gneist mit Recht für die Auslegung und Anwendung der Strafgesetze geforderte Diskretion lassen manche Entscheidungen des Reichsgerichts vermissen. Wenn die Staatsanwaltschaften wie die Gerichte die Strafbestimmungen in streng logischer Konsequenz immer weiter auf Fälle ausdehnten, die bis dahin im öffentlichen Rechtsbewusstsein allgemein für straflos galten, so ist ihnen von dem Reichsgericht zu selten ein Halt zugerufen worden. Der höchste Gerichtshof hat sich m. E. zu sehr auf die Prüfung beschränkt, ob der Fall unter den Begriff des betreffenden Delikts, wie er im Strafgesetz formuliert ist, falle, und sich nicht ständig genug vor Augen gehalten, dass es vor allem auch seine Aufgabe ist, uns vor einer doktrinären, dem Leben und dem allgemeinen Rechtsgefühl fremden Anwendung der Strafgesetze zu schützen. Was ist z. B. unter dieser ausdehnenden Auslegung nicht alles zu einem „gefährlichen Werk

1) Urt. IV, 20. Okt. 1896 (E. 29 S. 111, Stenglein, StrafrechtsLex. II S. 1260 No. 11), und I, 1. Mai 1899 (E. 32 S. 165). 2) 74. Jahresbericht der Gesellschaft S. 130.

zeug" i. S. des § 223 a StrGB. geworden! Vom Bierglas, was gerechtfertigt sein mag, bis zum zugeklappten Taschenmesser und zur ZimmermannsBleifeder. 1) Ein Instanzgericht hat selbst den Stiefel am Fufs oder, richtiger ausgedrückt, den Fufs im Stiefel für ein gefährliches Werkzeug erklärt. 2) Noch gröfser ist die Ausdehnung, welche die Praxis unter Billigung des Reichsgerichts dem Begriff der Urkunde" gegeben hat. Hiernach sind Urkunden: die Plomben des Zollamts 3), ein Privatsiegel auf dem Spundloch eines Fasses *), ein Buchstabe auf dem Rücken eines Kalbes 5), Stimmzettel), eine Schulentschuldigung des Vaters) und selbst Privatbriefe 8). Am meisten Aufsehen haben die Urteile des Reichsgerichts erregt, welche den geschlechtlichen Verkehr von Verlobten der gewöhnlichen Unzucht gleichstellen und Eltern, die einen solchen dulden, wegen schwerer Kuppelei mit Zuchthaus bestraft wissen wollen 9). diese Entscheidungen wurde das Rechtsgefühl des Volkes insbesondere in manchen ländlichen Bezirken Deutschlands entschieden verletzt. Die verurteilten Eltern sind regelmässig begnadigt worden. Dem Reichsgericht ist gewifs zuzugeben, dafs ein solcher Verkehr eine Unsittlichkeit ist, und es mag auch eine Bestrafung der Eltern, die ihm Vorschub leisten oder ihn dulden, angezeigt sein. Aber die Anwendung der Strafbestimmung für Kuppelei war doch zweifellos völlig verfehlt. Bekanntlich hat die Gesetzgebung sich schliefslich durch diese Rechtsprechung des Reichsgerichts genötigt gesehen, mildernde Umstände für den § 181 Abs. 1 No. 2 StrGB. zuzulassen.

Durch

Bei der Gläubigerbegünstigung (§ 211, jetzt 241 KO.) hat der Gerichtshof bezüglich der Bestrafung des begünstigten Gläubigers anfangs den natürlichen und sich auch aus den Motiven und Reichstagsverhandlungen als Willen des Gesetzgebers ergebenden Standpunkt festgehalten, dafs der Gläubiger, der die Gefährdung seines Guthabens erkennt und auf Zahlung dringt, sich durch die Annahme der Zahlung, die ihm zukommt, nicht wegen Teilnahme oder Anstiftung an der gegen den Schuldner zu bestrafenden Gläubigerbegünstigung strafbar mache.10) Dann aber hat die strenge Bindung an den Wortlaut des Gesetzes und an die

1) Urt. III, 10. März 1880 (Rechtspr. 1 S. 442, Stenglein, Strafrechts-Lex. I S. 715 No. 1), III, 15. Mai 1880 (Rechtspr. 1 S. 781, Stenglein, Strafrechts-Lex. I S. 716 No. 2), II, 12. Nov. 1880 (Rechtspr. 2 S. 496), Stenglein, Strafrechts-Lex. I. S. 717 No. 4).

2) Mannheim 17. Febr. 1877 (Stengl. Zeitschr. 7 S. 102).

3) Urt. I, 23. Dez. 1885 (E. 13 S. 193, Stenglein, StrafrechtsLex. II S. 1491 No. 31).

4) Urt. II, 4. Jan. 1899 (Goltd. 37 S. 48, Stenglein, StrafrechtsLex. II S. 1480 No. 12).

5) Urt. III, 17. Nov. 1902 (E. 36 S. 15).

6) Urt. III, 19. Okt. 1881 (E. 22 S. 182, Stenglein, StrafrechtsLex. II S. 1400 No. 17).

7) Urt. IV, 28. Nov. 1890 (E. 21 S. 187, Stenglein, StrafrechtsLex. II S. 1211 No. 38).

8) Urt. I, 1. April 1889 (E. 19 S. 113, Stenglein, Strafrechts-Lex. II S. 1207 No. 33), IV, 7. Jan. 1893 (Goltd. 40 S. 440, Stenglein, Strafrechts-Lex. II S. 1213 No. 41).

9) Urt. I, 2. Nov. 1882 (E. 8 S. 172, Stenglein, Strafrechts-Lex.

II S. 1004 No. 1) und III, 21. Mai 1885 (Rechtspr. 7 S. 317).

10) Urt. II, 12. Nov. 1880 (E. 2 S. 439, Stenglein, Strafrechts-Lex. I S. 783 No. 24).

aus diesem logisch zu ziehenden Forderungen das Reichsgericht zu der entgegengesetzten, mit dem praktischen Leben und mit dem allgemeinen Rechtsbewusstsein völlig unvereinbaren Entscheidung gebracht, und zwar lediglich deshalb, weil die allgemeinen Grundsätze des StrGB. über die Bestrafung der Teilnahme an Delikten das ganze Gebiet des Strafrechts beherrschten, soweit nicht in den betreffenden Straf bestimmungen ausdrücklich eine Ausnahme gemacht sei.1) Ausnahmen, die sich aus der Natur der Straftat, aus dem praktischen Leben von selbst ergeben, vermag das Reichsgericht nicht anzuerkennen. In dem Urteil IV, 31. Jan. 18902), scheint das Reichsgericht zu der früheren Anschauung zurückzukehren.

Auch bei der „Erpressung" hat die weitgefafste Begriffsbestimmung zur Verfolgung von Handlungen geführt, welche alltäglich im Rechtsverkehr vorkommen und für ein gesundes Rechtsgefühl nichts. Strafbares an sich haben. Insbesondere ist daran die strenge Folgerichtigkeit schuld, wonach unter ,,rechtswidrigem" Vermögensvorteil, wenn in anderen Strafbestimmungen, notwendig auch im § 253 jeder Vermögensvorteil zu verstehen sei, auf den kein begründetes Recht bestehe. So findet das Reichsgericht in der Drohung, einen Dieb wegen des von ihm begangenen Diebstahls anzuzeigen, wenn er nicht zur Sühne einen bestimmten Geldbetrag an die Armenkasse zahle, einen Erpressungsversuch, beziehungsweise, wenn die Drohung Erfolg hat, eine Erpressung.3) Früher allerdings entgegengesetzt. 4) Auch soll es Erpressungsversuch sein, wenn Arbeiter, die ohne Rechtsverletzung die Arbeit niedergelegt haben, von dem Arbeitgeber Lohn für eine Zeit, während deren sie nicht gearbeitet haben, oder Verzicht auf das Kündigungsrecht verlangen und dem Arbeitgeber androhen, dass andernfalls die Wiederaufnahme der Arbeit seitens sämtlicher Arbeiter unterbleibe.5) Ebenso, wenn ein Verband mehrerer Firmen einem Kaufmann die Verweigerung der Lieferung von Waren androht, falls er gleiche Waren auch von anderen Firmen beziehe.) Bei einer solchen Auslegung des § 253 müfste folgerecht auch ein Hypothekargläubiger wegen Erpressung bestraft werden, der seinem Schuldner das Kapital zu kündigen droht, falls er dasselbe nicht ferner zu einem höheren wenn auch durchaus nicht wucherlichen Zinsfufs verzinsen wolle. Vor einer so weit gehenden Folgerichtigkeit ist das Reichsgericht allerdings in einem ähnlichen Falle selbst zurückgeschreckt.7)

1) Urt. I, 27. Jan. 1881 (E. 4 S. 1, Stenglein, Strafrechts-Lex. I

S. 784 No. 25), I, 21. März 1881 (Rechtspr. 3 S. 153), II, 10. Jan. 1882 (Rechtspr. 4 S. 28), II, 10. Febr. 1882 (E. 5 S. 435, Stenglein, Strafrechts-Lex. I S. 785 No. 26).

2) E. 20 S. 214, Stenglein, Strafrechts-Lex. II S. 785 No. 27.
3) Urt. I, 7. Jan. 1895 (E. 26 S. 354, Stenglein, Strafrechts-Lex.

II S. 1676 No. 25).

4) Urt. I, 12. Okt. 1891 (E. 22 S. 171, Stenglein, Strafrechts-Lex. I S. 626 No. 19).

5) S. das bereits zit. Urt. III, 6. Okt. 1890 (E. 21 S. 114).

6) Urt. I, 29. Nov. 1900 (E. 34 S. 15).

7) Urt. III, 23. Sept. 1897 (Goltd. 45 S. 363, Stenglein, Strafrechts-Lex. II S. 1677 No. 27).

In einem wohltuenden Gegensatz zu derartigen Entscheidungen, welche die gesetzliche Begriffsbestimmung einer Straftat zu folgerichtig auf Fälle erstrecken, wofür die Strafe nicht pafst und bestimmt ist, steht die verständige und tapfere Art, mit der das Reichsgericht im § 360 No. 11 StrGB. den kautschukartigen Begriff des „groben Unfugs" eingeschränkt und der Anwendung dieser Strafbestimmung als einer Aushilfe für alle möglichen Fälle eines Recht oder Ordnung verletzenden Handelns ein Ende gemacht hat.1)

stehenden Frage, auch wenn keine Meinungsverschiedenheit der Senate besteht, die Entscheidung des Plenums zu beantragen berechtigt und das Reichsgericht in einem solchen Falle dem Antrage zu entsprechen gehalten ist.

Und so möge denn der höchste deutsche Strafrichter, wenn er sich als Träger und Hüter des Strafgesetzes über dem Kampf und Streit der Parteien und Volksklassen und über jeder tendenziösen Gesetzesauslegung hält, doch stets den Blick offen. halten für das praktische Leben und seine Rechtmit dem Rechtsbewusstsein seines Volkes!

B. Die Reichsjustizgesetze.
Die Zivilprozefsordnung 1879 bis 1904.

Ein Rückblick, ein Ausblick.

Ohne Zweifel tragen die strenge Objektivitätsprechung immer in engem Zusammenhang erhalten und Unparteilichkeit, das unerschütterliche Festhalten am Gesetz ohne politische, konfessionelle oder soziale Tendenz, welche einen Ehrentitel für unseren höchsten Gerichtshof bilden, mit Schuld an seiner Scheu, sich selbst da, wo der Zweck der Strafbestimmung wie das praktische Leben es fordern, von dem Wortlaut des Gesetzes loszumachen. Ebenso trägt auch das Sich-binden des Reichsgerichts an die einmal von ihm festgestellte Rechtsprechung, das nicht minder ein Ruhm für den Gerichtshof und ein Segen für die Strafjustiz ist, dazu bei, dafs das Reichsgericht sich den Anforderungen einer neuen Entwickelung des Rechtslebens schwer anschmiegt. So sind die Vorzüge der Rechtsprechung des Reichsgerichts zugleich die Ursachen ihrer Mängel.

Wenn wir heute unserem höchsten Gerichtshof zu seinem Jubiläum von Herzen Glück wünschen und diesen Glückwunsch dahin auslaufen lassen, dafs der Gerichtshof sich die volle Unabhängigkeit nach unten wie nach oben, die unerschütterliche Hochhaltung des Gesetzes wie die Einheitlichkeit seiner Rechtsprechung, die sein Ruhm und das Heil des deutschen Volkes sind, stets erhalte, so möchten wir zugleich den Wunsch aussprechen, dafs er immer mehr, Verständnis und Mut für eine Auslegung und Anwendung der Strafgesetze gewinne, welche dem Zwecke des Gesetzes und den Forderungen des allgemeinen Rechtsbewusstseins den Wortlaut und die logische Folgerichtigkeit opfert.

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1) So Urt. I, 27. April 1880 (E. 1 S. 400, Stenglein, StrafrechtsLex. I S. 826 No. 1), IV, 17. April 1888 (Rechtspr. 10 S. 304, Stenglein, Strafrechts-Lex. I S. 828 No. 5), und namentlich nach einigem Schwanken IV, 21. Mai 1889 (Goltd. 37 S. 197, Stenglein, Strafrechts-Lex. I S. 829 No. 6), und IV, 5 Juni 1894 (E. 25 S. 404, Stenglein, Strafrechts-Lex. I S. 831 No. 9) - auch bezüglich der Presse, Urt. III, 3. Juni 1889 (E. 19 S. 294, Stenglein, Strafrechts-Lex. I S. 829 No. 7), IV, 14. Juni 1898 (E. 31 S. 191), am Schlufs IV, 7. April 1899 (E. 32 S. 100), und II, 28. April 1903 (E. 36 S. 213).

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Von Professor Dr. Lothar Seuffert, München. Am 1. Oktober 1904 vollendet sich das erste Vierteljahrhundert, seit die Zivilprozefsordnung für das Deutsche Reich in Kraft getreten ist. An diesem Tage geziemt es, auf die Entstehung des Gesetzes zurückzublicken. Die fünfundzwanzig Jahre der praktischen Handhabung ermöglichen aber auch ein Urteil über den Wert des Gesetzes und regen die Frage an, ob und eventuell in welcher Richtung eine Reform des Gesetzes anzustreben sei.

Es war gegen Ende des Oktober 1874, als der Reichskanzler dem Reichstag den Entwurf einer Zivilprozefsordnung vorlegte. Dieser Entwurf war das Ergebnis langjähriger Vorarbeiten.

Schon im Jahre 1862 beschlofs der Bundestag, es solle eine Kommission von Delegierten der bundesstaatlichen Regierungen zusammentreten, um den Entwurf einer allgemeinen deutschen Zivilprozefsordnung auszuarbeiten. Dem Bundestage fehlte die gesetzgebende Gewalt. Die Vereinheitlichung des Rechts konnte die Bundesversammlung nur auf dem Weg anbahnen, dafs sie Gesetzentwürfe ausarbeiten liefs, die dann von den Regierungen der verbündeten Staaten unter Mitwirkung der für die Einzelstaaten berufenen Gesetzgebungsfaktoren zu Gesetzen erhoben wurden. Auf diesem Wege war die Einheit auf dem Gebiete des Wechselrechts und des Handelsrechts erreicht worden. Nun wollte die Bundesversammlung versuchen, auf demselben Wege die Einheit des Verfahrens in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten in den zum Bunde gehörenden Staaten herzustellen. Der Plan ging von den Mittelstaaten aus. Oesterreich, die Präsidialmacht des Bundes, unterstützte den Plan. Preufsen bekämpfte ihn aus politischen Gründen und lehnte es auch ab, sich an den Kommissionsarbeiten zu beteiligen.

In Gemäfsheit des Beschlusses der Bundesversammlung trat im September 1862 zu Hannover eine Kommission von zehn praktischen Juristen zur Ausarbeitung des Entwurfs zusammen. Aus den Beratungen der Kommission ging der im Jahre 1866 veröffentlichte sog. hannoversche Entwurf hervor.

Die Kommission beschlofs, ihren Beratungen die Allgemeine Prozefsordnung für das Königreich Hannover v. 8. Nov. 1850 zugrunde zu legen. Der Verfasser dieses Gesetzes, Dr. Leonhardt, den Hannover zur Kommission delegiert hatte, wurde zum Referenten gewählt. Durch diese Beschlüsse erlangte das hannoversche Gesetz den gröfsten Einfluss auf die Kommissionsarbeiten; es ist daher geboten, auf die Quellen dieses Gesetzes zurückzugehen. Sie liegen im Auslande. Die hannoversche Prozefsordnung war das erste Gesetz, welches französischen Wein in deutsche Schläuche füllte. Napoleons Code de procédure civile vom Jahre 1806 und die von dem Schweizer Bellot hergestellte Bearbeitung des französischen Gesetzes, die Genfer Prozefsordnung von 1819, dienten als Vorbild. Wie das im Code civil enthaltene französische Zivilrecht, so war auch das französische Prozefsrecht in den Rheinprovinzen Preufsens, Bayerns und Hessens in Geltung geblieben, als diese, dem französischen Kaiserreich einverleibt gewesenen Territorien wieder unter die Herrschaft deutscher Fürsten gelangt waren. Das Verfahren wurde von den rheinischen Juristen überschwänglich gepriesen. Dem deutschen Liberalismus aber erschien das französische Verfahren mit seiner Oeffentlichkeit und Mündlichkeit als eine Errungenschaft des Revolutionszeitalters und als ein gewaltiger Fortschritt gegenüber dem in Deutschland geltenden Prozefsrecht. Dafs der Code in seinen wesentlichsten Bestimmungen die grande ordonnance civile Ludwigs XIV. von 1667 reproduzierte, wufsten die wenigsten. So ward um die Mitte des 19. Jahrhunderts die Reform des Prozessrechts nach französischem Muster auf das Programm des deutschen Liberalismus geschrieben. Befreiung des Richteramts von allen aufserhalb der Rechtsprechung liegenden Funktionen, Oeffentlichkeit und Mündlichkeit des Verfahrens: das waren die klingenden Schlagworte, mit denen man die Reform einläutete. Die Zusage einer Reform nach dieser Richtung wurde in die Frankfurter Reichsverfassung (§ 178) und in verschiedene Verfassungsgesetze einzelner Bundesstaaten aufgenommen. Es lag also im Zuge der Zeit, wenn der Verfasser des hannoverschen Prozefsgesetzes seinen Blick nach Westen wandte und französisches Recht nachbildete.

Ganz nach französischem Muster ist im hannoverschen Gesetze die Stellung des Gerichts gegenüber den Parteien geregelt. Die Gerichte sind als blofse Spruchbehörden konstruiert, denen die Parteien die Unterlagen des Urteils vorlegen. Die Vorbereitung der Verhandlung fällt den Parteien. und den Gerichtsvögten (huissiers) zu, ebenso die Vollstreckung der Urteile. Den Schlufsstein dieses Systems bildet der für alle Kollegialgerichte eingeführte Anwaltszwang. Die Mündlichkeit des Verfahrens trieb der Verfasser des hannoverschen Gesetzes auf die Spitze, indem . er das dem französischen Recht absolut unbekannte Prinzip aufstellte: die alleinige Urteilsunterlage solle das vor dem erkennenden Gericht gesprochene Wort der

Parteien bilden. Von der Eventualmaxime des gemeinen deutschen Prozesses wurde nur ein kleiner Ueberrest in bezug auf die prozefshindernden Einreden beibehalten. Abweichend vom französischen Gesetze zerlegte der Verfasser des hannoverschen Gesetzes das Verfahren durch ein, dem deutschen Recht nachgebildetes Beweisurteil in zwei Teile, deren erster die Behauptungen, der zweite die Beweisantretung und die Beweisaufnahme umfafste. Das Beweisurteil war für das Gericht bindend, konnte jedoch erst mit dem Endurteil zur Kognition der höheren Instanz gebracht werden.

Auf den Fundamenten des hannoverschen Gesetzes wurde der Entwurf einer allgemeinen deutschen Zivilprozefsordnung aufgebaut, welchen die Kommission im Frühjahr 1866 fertig stellte. Von dem hannoverschen Gesetze wich der Entwurf in manchen Einzelheiten, von dessen Grundlage aber nur darin ab, dafs die Cäsur des Verfahrens durch ein Beweisurteil aufgegeben wurde. Der Entwurf verlangte die Verbindung der Beweisantretung mit den Behauptungen und setzte an Stelle des bindenden Beweisurteils die prozefsleitende Beweisverfügung, welche, obwohl für sie die Urteilsform vorgeschrieben war, ihrem Wesen nach dem Beweisbeschlusse des geltenden Rechts entspricht. Von der Bundesversammlung wurde noch beschlossen, den Entwurf den Bundesregierungen zur Rückäufserung mitzuteilen. Die Auflösung des Deutschen Bundes setzte dem Plan ein unvorhergesehenes Ende. Aber die Arbeit der hannoverschen Kommission war nicht verloren.

Alsbald nach der Gründung des Norddeutschen Bundes, dessen Verfassung das gerichtliche Verfahren der Bundesgesetzgebung zuwies, beantragte Preufsen bei dem Bundesrate, eine besondere, aus acht Juristen bestehende Kommission zu berufen zur Ausarbeitung des Entwurfs einer Prozefsordnung in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten für die Staaten des Bundes. Der Bundesrat entsprach dem Antrage Preufsens. Im Januar 1868 trat die Kommission unter dem Vorsitze Dr. Leonhardts, der zum preufsischen Justizminister ernannt worden war, zu Berlin zusammen. Ihr war vom Bundesrat empfohlen worden, den in den Jahren 1861 bis 1864 im preufsischen Justizministerium ausgearbeiteten „Entwurf einer Prozefsordnung in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten für den preufsischen Staat“ zur Grundlage zu nehmen. Auch dieser Entwurf basierte auf dem französischen Prozefsrecht. Die norddeutsche Kommission beschlofs aber trotz der Empfehlung des Bundesrats nicht den preufsischen, sondern den hannoverschen Entwurf ihren Beratungen zugrunde zu legen. Im Juli 1870 wurde der nach zweieinhalbjähriger Arbeit fertiggestellte Entwurf einer Prozefsordnung in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten für den Norddeutschen Bund dem Bundesrat übergeben. Der sog. norddeutsche Entwurf stellt eine sorgfältige Ueberarbeitung des hannoverschen Entwurfs dar, dessen Hauptgrundsätze er übernahm.

Mit der Gründung des Deutschen Reiches war die Zivilprozefsgesetzgebung Sache des Reiches geworden.

Schon ehe von Reichs wegen ein offizieller Schritt geschah, war der norddeutsche Entwurf im preussischen Justizministerium neu bearbeitet worden. Minister Leonhardt trat hierbei wieder selbst in Tätigkeit. Die Aufgabe, die er sich stellte, war die Herstellung eines Entwurfs, der eine Einigung der verbündeten Regierungen und des Reichstags gewährleistete. Das eigene Ideal des Schöpfers der hannoverschen Prozefsordnung mufste dabei zurücktreten. Die allgemeine Strömung im deutschen Juristenstande verlangte eine weitere Entfesselung des Verfahrens. In dem im Jahre 1871 erschienenen ersten Entwurf einer ZPO. für das Deutsche Reich fielen die noch im norddeutschen Entwurf aufgestellten Schranken für neues Vorbringen nach dem Beweisbeschlusse; der Gedanke, dafs das ganze Verfahren von der Klage bis zum Urteil als einheitliche Verhandlung aufzufassen sei, wurde in schärfster Konsequenz durchgeführt. In diesem Entwurf ist aber die Berufung auf Urteile der Amtsgerichte beschränkt; gegen Urteile der Landgerichte ist nur die revisio in iure zugelassen. Darüber stand die Ober-Revision zum Reichsgericht für den Fall der Difformität der Urteile erster und zweiter Instanz.

Im Mai 1871 beschlofs der Bundesrat, eine neue Kommission von zehn Mitgliedern zu bestellen, die unter Zugrundelegung dieses Entwurfs den Entwurf einer ZPO. definitiv feststellen sollte. Der von dieser Kommission 1872 beendigte, sog. zweite deutsche Entwurf steht auf dem Boden des ersten Entwurfs, dem er sich auch äufserlich anschliefst. Der Bundesratsausschufs für Justizwesen hat dann noch einiges geändert; insbesondere hat er beschlossen, als Rechtsmittel gegen alle Endurteile der ersten Instanz die Berufung mit unbeschränkter Zulassung neuen Vorbringens zu gewähren. In dieser Gestalt wurde der Entwurf dem Reichstag unterbreitet.

Der Reichstag verwies den Entwurf ebenso wie die gleichzeitig vorgelegten Entwürfe einer StrPO. und eines GVG. an eine Kommission von 28 Mitgliedern, die durch ein besonderes Gesetz ermächtigt wurde, auch zwischen den Reichstagssessionen fortzuarbeiten. In dieser Kommission wurden Einzelheiten geändert, aber die Grundlagen des vorgelegten Entwurfs blieben unverrückt. Die bedeutsamsten Aenderungen betrafen die Einführung einer Revisionssumme von 1500 M. an Stelle des im Entwurf enthaltenen Erfordernisses difformer Vorentscheidungen und die Gestaltung des Entmündigungsverfahrens. Nachdem sich Reichstagskommission und Bundesrat über einige von diesem beanstandete Punkte geeinigt hatten, wurde der Entwurf nach den Kommissionsbeschlüssen vom Reichstag en bloc angenommen. Das am 30. Januar 1877 veröffentlichte Gesetz brachte dem deutschen Volke die lang. ersehnte Einheit auf dem Gebiete des Zivilprozesses.

Jedes Verfahren setzt eine gewisse Organisation der Gerichtsbehörden voraus, auf die das Verfahren zugeschnitten ist. Die ZPO. bedurfte daher zu ihrer Ergänzung eines Gesetzes über die Gerichtsverfassung. Die Schöpfung eines solchen Gesetzes

Von mehreren

stiefs aber auf Schwierigkeiten. Staaten, insbesondere von Bayern, wurde bestritten, dafs die in der Reichsverf. Art. 4 No. 13 nicht besonders angeführte Organisation der Gerichtsbehörden überhaupt zur Kompetenz des Reiches gehöre. Schliesslich einigte man sich im Bundesrat auf ein Gesetz, das aufser den Bestimmungen über die Gerichtsorganisation auch die Vorschriften über die sachliche Zuständigkeit in Zivil- und in Strafsachen, über die Oeffentlichkeit, die Sitzungspolizei und über Gewährung der Rechtshilfe in sich aufnahm. Der im preufsischen Justizministerium ausgearbeitete Entwurf teilte die Schicksale des dem Reichstag vorgelegten Zivilprozefsentwurfs. In der Justizkommission des Reichstags wurde vieles daran geändert. Die einschneidendsten Aenderungen betrafen die Strafgerichtsbarkeit. An Stelle der in dem Entwurfe projektierten besonderen Handelsgerichte setzte die Kommission die den Landgerichten einverleibten Kammern für Handelssachen.

In der Fassung von 1877 galt die ZPO. mit zwei unbedeutenden Zusätzen, die die Vollziehung des Arrestes und der einstweiligen Verfügung (Ges. v. 30. April 1886), dann die Pfändung von Gehaltsforderungen der Privatbediensteten (Ges. v. 29. März 1897) betrafen, bis zum 1. Januar 1900.

Die mit diesem Tag in Kraft getretene neue Redaktion des Prozefsgesetzes (Fassung der Bekanntmachung v. 20. Mai 1898) wurde veranlafst durch die Einführung des BGB. Bei den Vorarbeiten hierzu ergab sich das Bedürfnis, die ZPO. durch verschiedene Aenderungen und Zusätze dem neuen bürgerlichen Recht anzupassen. Zuerst beabsichtigte man, die Aenderungen in dem Einführungsgesetze z. BGB. unterzubringen. Nachdem aber die mit der zweiten Lesung des Entwurfs zum BGB. betraute Kommission beschlossen hatte, eine Reihe von Vorschriften des ersten Entwurfs, die dem breiten Grenzgebiete zwischen dem bürgerlichen Recht und dem Prozefsrecht angehörten, aus dem BGB. in die ZPO. zu verpflanzen, und aufserdem von seiten verschiedener Bundesstaaten noch weitere Aenderungen angeregt worden waren, die nicht mit der Einführung des neuen bürgerlichen Rechts zusammenhingen, war die Zahl der Aenderungen und Zusätze so stark gewachsen, dafs man es für angemessen erachtete, sie zu einem besonderen Gesetze zu gestalten.

Die Prozefsnovelle wurde im Dezember 1894 vom Reichstag einer Kommission überwiesen. Diese nahm die grofse Mehrzahl der Vorschläge an und beschlofs noch einige weitere Aenderungen. Abgelehnt hat die Kommission den im Entwurfe für das Verfahren vor den Landgerichten vorgeschlagenen Vortermin, durch den eine Scheidung der Kontumazialsachen von den kontradiktorischen Prozessen herbeigeführt werden sollte. Der Reichstag trat den Beschlüssen seiner Kommission bei; nur die von ihr angenommene Erhöhung der Revisionssumme von 1500 auf 3000 Mark wurde im Plenum abgelehnt. Das Prozefsgesetz neuer Redaktion weicht von dessen ursprünglicher Fassung mehrfach ab, die

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