Page images
PDF
EPUB

standekommen des Gesetzes reichlich Mühe und Arbeit verwendet. Die Bemühungen jener Zeit um die Schaffung der StrPO. sind wert, heute wieder in die Erinnerung zurückgerufen zu werden.

so,

Die Vorgeschichte der StrPO. geht zurück bis auf die Verfassung des Norddeutschen Bundes, in deren Art. 4 Ziff. 13 das gerichtliche Verfahren als Gegenstand der Bundesgesetzgebung aufgeführt wird. Auf dieser Bestimmung fussend, forderte der Reichstag am 18. April 1868 auf Antrag der Abg. Wagner-Altenburg und Planck den Bundeskanzler zur Vorlegung von Gesetz-Entwürfen für Strafprozess und Strafgerichtsorganisation auf. Der Bundesrat trat diesem Beschlusse am 5. Juni 1868 bei; doch gab der Bundeskanzler der Aufforderung erst am 12. Juli 1869 Folge, als der Entwurf eines Strafgesetzbuchs inzwischen bereits seiner Vollendung nahegerückt war, und zwar dafs er das preufsische Justizministerium zur Aufstellung des Entwurfs einer StrPO. veranlafste. Nunmehr wurde durch den preufsischen Justizminister der Präsident Dr. Friedberg, Verfasser des StrGB.- Entwurfs, mit der Ausarbeitung auch dieses Entwurfs beauftragt. Friedberg erledigte seine Aufgabe unter Mitwirkung namentlich von Löwe, dem nachmaligen Kommentator des Gesetzes, und sein Werk wurde dann, in einigen Punkten abgeändert, vom preufsischen Justizminister im Januar 1873 dem Bundesrat überreicht. Diesen Entwurf I" (383 Paragraphen) überwies letzterer am 13. März 1873 einer aus elf Juristen des Deutschen Reichs gebildeten Kommission zur Vorberatung. 1)

Aus den Beratungen ging hervor der „Entwurf II (395 Paragraphen), der im Bundesrate verschiedene Umgestaltungen erlitt, so erlitt, so dass ein "Entwurf III (425 Paragraphen) entstand, der am 29. Okt. 1874 dem Reichstage vorgelegt wurde.

Gleichzeitig wurde auch der „Entwurf II" eines GVG. vorgelegt. Denn wenn auch die Verfassung des Norddeutschen Bundes die Gerichtsorganisation nicht ausdrücklich für den Bund in Anspruch nahm, so stand es doch von Anfang an aufser Zweifel, dafs zu der Regelung des Verfahrens“ i. S. des Art. 413 auch die Regelung der GVerf. gehörte, wie denn auch der Antrag Wagner-Planck auf diese Regelung mitgerichtet war. So war denn unter dem 12. Nov. 1873 ein in seiner ursprünglichen Fassung von dem preufsischen Justizminister Dr. Leonhardt herrührender, freilich demnächst wesentlich umgestalteter, EntwurfI" (172 Paragraphen) eines GVG. von dem Reichskanzler dem Bundesrat vorgelegt worden; im Schofse des Bundesrats wiederum bedeutend verändert, verwandelte sich der erste Entwurf in den Entwurf II" (166 Paragraphen), der

[ocr errors]

1) Der Kommission gehörten an: Friedberg (als Vorsitzender), für Preufsen Vortr. Rat Dr. Förster, Appellationsgerichtsvizepräsident Mager, Prof. Dr. Zachariä, RA. Wiener; für Bayern Appellationsgerichsrat Dr. Staudinger; für Sachsen Generalstaatsanwalt Dr. v. Schwarze; für Württemberg Obertribunalsrat v. Binder; für Baden Ministerialrat Dr. Bingner; für Hessen Oberappellations- und Kassationsgerichtsrat Dr. Zentgraf; für Hamburg Oberstaatsanwalt Dr. Mittelstädt. Einer der Schriftführer war Löwe.

für die Beratungen des Reichstags die Grundlage bildete.

Im Reichstage wurden die Entwürfe auf Gneists Antrag einer 25 gliedrigen Reichstagskommission überwiesen. 1)

Es folgten dann die Kommissionsberatungen mit dem Ergebnis tiefgreifender Aenderungen der Entwürfe und die zweite und dritte Lesung im Plenum des Reichstages, letztere beeinflusst durch zahlreiche Kompromisse mit dem Bundesrat, — und die Gesetze waren unter Dach gebracht.

Soweit die äufsere Entstehungsgeschichte. Die innere Geschichte, die Geschichte der inhaltlichen Wandlungen vom ersten Entwurf an bis zum Gesetz, bietet ein nicht minder bewegtes Bild. Zahlreiche Autoren ergriffen in literarischen Veröffentlichungen zu den Entwürfen das Wort. 2) Vor allem fehlte es aber in zahlreichen Punkten an Harmonie sowohl zwischen den gesetzgebenden Faktoren unter sich, wie auch zwischen ihnen und den Urhebern der Entwürfe. Hervorgehoben seien namentlich folgende Differenzpunkte, die sich von Entwurf zu Entwurf oder von Entwurf zu Gesetz geltend machten:

Der Entwurf I der StrPO. und der Entwurf I des GVG. sahen für die erste Instanz durchweg Schöffengerichte vor: kleine, mittlere, grofse Schöffengerichte. Aber so leichten Kaufs wollte „das Volk seine Schwurgerichte nicht aufgeben; und wiewohl man im Schofse der Regierung diesen durchaus ablehnend gegenüberstand, schien doch deren Beseitigung in Rücksicht auf die damalige Volksstimmung kaum möglich; die Folge war die, dafs Entwurf II des GVG. und Entwurf III der StrPO. die grofsen Schöffengerichte durch Schwurgerichte ersetzte, dafür aber eine Art Aequivalent — bei den Strafgerichten für Strafsachen mittleren Ranges das Laienelement ganz ausmerzte und hierfür die Strafkammern als reine Juristenkollegien einsetzte. Die Justizkommission des Reichstages versuchte zwar, die grundsätzliche Zuziehung des Laienelements durchzudrücken, indem sie sich für Schwurgerichte grofse Schöffengerichte kleine Schöffengerichte aussprach; an der festen Haltung des Bundesrates scheiterte aber dieser Plan. Das Gesetz folgte dem Entwurf III in seiner Buntscheckigkeit. Dagegen brachte das Gesetz eine Neuerung gegenüber den Entwürfen insofern, als

Dr.

1) Zu Mitgliedern der Kommission wurden die Abg. Obertribunalsrat Dr. Bähr, Oberappellationsgerichtsrat Dr. Becker, LGR. Bernardt, Advokat Eysoldt, Obertribunalsrat v. Forcade de Biaix, Prof. Dr. Gneist, Advokat Dr. Grimm, Kreisgerichtsrat Gaupp, Amtmann Hauck, Bezirksgerichtsrat Herz, Oberpräsident v. Jagow, Kreisgerichtsrat Klotz, Appellationsgerichtsrat Krätzer, Lieber, RA. Dr. Lasker, Prof. Dr. Marquardsen, Appellationsgerichtsrat Mayer, Oberbürgermeister Dr. Miquel, Oberamtsrichter Pfafferot, Appellationsgerichtsrat v. Puttkamer, Obertribunalsrat Reichensperger, Landrat v. Schöning, Generalstaatsanwalt Dr. v. Schwarze, Obertribunalsrat Struckmann, Kreisgerichtsdirektor Thilo. Advokat Dr. Völk, Advokat Dr. Wolffson und Irrenheilanstaltsdirektor Dr. Zinn gewählt. Vorsitzender der Kommission war Miquél.

2) Erwähnt seien: v. Bar, Binding, Dochow, Geyer, Gneist, Heinze, John, v. Kräwel, Hugo Meyer, S. Mayer, Nissen, Ortloff, Schütze, v. Schwarze, v. Seel, v. Stemann, Ullmann, Wahlberg.

der Amtsrichter, der in den Entwürfen keinerlei Funktion als erkennendes Gericht gehabt hatte (scil. ohne Schöffen), für die Eiltälle des § 211 Abs. 2 StrPO. mit Aburteilungsfunktion ausgerüstet wurde.

Das Rechtsmittel der Berufung war sämtlichen drei Entwürfen der StrPO. fremd. Man stand auf seiten der Regierung unter dem Banne der juristischen Doktrin, die die Unverträglichkeit der Berufung mit den Prinzipien der Mündlichkeit, der Unmittelbarkeit und der freien Beweiswürdigung behauptete und die Verbesserung der ersten Instanz für wertvoller hielt als eine zur Nachprüfung der Tatfrage berufene zweite Instanz. Den Freunden der Berufung im Reichstage aber, deren Zahl schon damals nicht klein war, gelang es, die Einführung bezw. Beibehaltung der Berufung wenigstens gegenüber den schöffengerichtlichen und amtsgerichtlichen Urteilen durchzusetzen.

Die Privatklage sollte nach den Entwürfen einmal als prinzipale bei Beleidigungen und Körperverletzungen, sodann als subsidiäre bei allen Antragsdelikten und den Delikten, bei denen auf Bufse erkannt werden kann, zugelassen sein. In ihrer letzteren Funktion ging sie in das Gesetz nicht über. Statt ihrer fand die Anrufung des Gerichts behufs Entscheidung der Frage, ob die Staatsanwaltschaft die öffentliche Klage zu erheben habe (das Klageprüfungsverfahren nach §§ 170 ff. StrPO.), Eingang; in Verbindung hiermit proklamierte Entwurf III das Legalitätsprinzip. Das in Entwurf I und II vorgesehene Adhäsionsverfahren (Anschlufs des Verletzten als Zivilkläger) war bereits im Entwurf III verschwunden, dafür gewann die Nebenklage erhöhte Bedeutung.

Schwankungen zeigten sich hinsichtlich der zur Verurteilung erforderlichen Majorität. Gegenüber den ersten beiden Entwürfen, die sich durchweg für jede dem Beschuldigten nachteilige Schuldfrage-Entscheidung mit 2/3-Majorität begnügten, setzte der Justizausschufs des Bundes für die Strafkammern das Erfordernis der Stimmeneinheit ein; dieser Vorschlag blieb indes ohne Folgen, da bereits der Bundesrat hierin seinem Justizausschufs nicht beitrat.

Den Umfang der Beweisaufnahme sollte nach den Entwürfen das Gericht durchweg frei bestimmen. Demgegenüber band das Gesetz in § 244 in der fraglichen Beziehung dem Gericht stark die Hände.

Das Amt der Staatsanwälte wollte Entwurf I des GVG. durch Richter auf Grund eines dauernden, aber widerruflichen Auftrags versehen lassen. Schon Entwurf II beseitigte diese Gestaltung der staatsanwaltschaftlichen Tätigkeit.

Nach Entwurf II des GVG. sollten gewisse schwurgerichtliche Strafsachen an die Strafkammer überweisbar sein. Das wurde nicht Gesetz.

Einen besonderen Streitpunkt bildete die Zuständigkeit für Prefsdelikte. Er wurde durch das Kompromifs geschlichtet, dafs der Landesgesetzgebung freie Hand gelassen wurde, insofern partikularrechtliche Bestimmungen, die solche Delikte dem Schwurgericht zuwiesen, aufrecht erhalten wurden.

[ocr errors]

Diese Liste von streitig gewordenen Einzelfragen bedarf natürlich der Ergänzung durch ein „usw.“. Es ist begreiflich, dafs bei dem jungen Gesetzeswerk von ungeteiltem Beifall nicht die Rede sein konnte. Dennoch ist unverkennbar, dafs es, als Ganzes genommen, wohl allgemeine Anerkennung fand. Hierzu mochte wohl auch der Umstand wesentlich beigetragen haben, dafs einerseits ein bestimmtes partikulares Strafprozefsgesetz nicht zugrunde gelegt war, andererseits aber gleichwohl an das in deutschen Landen bestehende Recht angeknüpft war. Schon die Motive zum I. Entwurf betonten, dafs der Gesetzgeber sich nicht durch ein Streben nach Originalität bestimmen lassen dürfe, möglichst Neues schaffen zu wollen, dafs er vielmehr einem Gebote gesunder Gesetzgebungspolitik folge, wenn er das in anderen Gesetzen vorhandene Gute sich aneigne und so das neue Werk als eine Fortbildung und einen Ausbau des bestehenden erscheinen lasse." Und die Elferkommission, die den Entwurf I zum Entwurf II überführte, wagte nach Zachariäs Wort in ihrer Mehrheit nicht, den Graben zu überspringen, der zwischen ihr und der konsequenten Durchführung der grundlegenden Prinzipien lag. Radikal verfuhr man auch weiterhin nicht. Vielmehr begnügte man sich in vielfachen Beziehungen mit prinziplosen Halbheiten.

Aber was für den Augenblick wohl berechtigt und weise war, weil es sich um die erstmalige Schaffung von Reichsstrafprozefsrecht handelte, das mufste doch auf der anderen Seite der eben erst gewonnenen StrPO. den Charakter eines blofs provisorischen Gesetzes verleihen. Kaum war das Gesetz da, da setzte auch schon eine immer stärker werdende Reformbewegung ein. Unter allen Reformwünschen errang sich das Postulat der Einführung der Berufung gegen Strafkammerurteile die führende Stellung. 1883 tauchte im Schofse des Reichstags zum erstenmal ein dahingehender Antrag auf, der, 1884 wiederholt, 1885/86 nach umfänglicher Kommissionsberatung im Reichstagsplenum Annahme, beim Bundesrat aber Ablehnung fand. 1892 erschien der Antrag wieder auf dem Plan, blieb aber infolge der Reichstagsauflösung unerledigt. Dagegen wurde 1894/95 eine Gesetzesvorlage wegen Einführung der Berufung bei dem Reichstage eingebracht, die aber von dem Schlufs des Reichstags ereilt wurde, bevor sie aus der Reichstagskommission verabschiedet war. Eine neue Vorlage der verbündeten Regierungen 1895/96 scheiterte daran, dass der Reichstag die fünfgliedrige erstinstanzliche Strafkammer nicht zugunsten der dreigliedrigen aufgeben mochte. Auch weitere Anläufe in der Sitzungsperiode 1897/98 sowie in der darauffolgenden Session gelangten zu keinem Ziel.

Inzwischen hatten sich aber zahlreiche andere Reformwünsche dem Rufe nach Einführung der Berufung ankrystallisiert. Schon die Regierungsvorlage von 1894 hatte umfassenderen Charakter, insbesondere deshalb, weil man meinte, bei Gewährung der Berufung zahlreicher bisheriger Garantieen" des

[ocr errors]

Verfahrens erster Instanz fortan entraten zu können. Immer neue Probleme wurden in den Bereich des Reformplanes einbezogen, und in einigermafsen greifbare Nähe wurde eine umfassendere Umgestaltung der StrPO. und des GVG. gerückt durch die Reichstagskommissionsbeschlüsse von 19011). Einen weiteren Schritt vorwärts bedeutete die Einsetzung einer Kommission durch das Reichsjustizamt im Jahre 1902 mit dem Auftrage, zahlreiche bestimmt formulierte Reformpunkte einer Vorberatung zu unterziehen2). Die Kommission hat ihre erste Lesung beendet, doch sind ihre Beschlüsse nicht bekannt gegeben worden.

Wenig zahlreich sind gegenüber den angestrebten die wirklich durchgeführten gesetzlichen Neuerungen. Sie betreffen u. a. die Sonderregelung des Gerichtsstandes bei Prefsdelikten, die Entschädigung unschuldig Bestrafter und aus neuester Zeit die Entschädigung für ungerechtfertigte Untersuchungshaft.

[ocr errors]

Dafs eine Revision der StrPO. heute eine Forderung weitester Kreise ist, ist sicher. Das beweist schon die immer mehr anschwellende Masse von Schriften zur Strafprozessreform. Demgegenüber ist freilich festzustellen, dafs die Zahl der Freunde des geltenden Gesetzes namentlich in den Reihen der Praktiker nicht klein ist, und dafs dort das Bedürfnis nach einschneidenden Aenderungen nicht selten geleugnet wird. Immerhin ist jedenfalls eine allgemeine Zufriedenheit mit der StrPO. nicht vorhanden. Gewifs sind nun Zufriedenheit und Unzufriedenheit gerade gegenüber den Sätzen des Strafprozefsrechts oft eine fragwürdige Gröfse. Wer ist der kompetente Beurteiler, der sagen kann, ob wirklich Schäden hervorgetreten sind? Das Volk" sicherlich nicht, weil es oft utopische Wünsche hat und über dem Einzelnen das Gemeinsame, das not tut, nicht sieht, und so der „civium arvor prava jubentium" hier oft in reinster Blüte auftritt. Der Kathedermann wird vielleicht nicht selten der Gefahr erliegen, gegenüber unabweisbaren Bedürfnissen des Lebens die Prinzipien zu hoch zu halten und so einen Idealprozefs verwirklichen zu wollen, der sich nicht durchführen läfst. Der Staatsanwalt wird vielleicht geneigt sein, das Urteil über die Güte einer StrPO. davon abhängig zu machen, ob sich die Strafgewalt frei genug entfaltet. Beschuldigte und Verteidiger werden umgekehrt gern das Erfordernis des Schutzes des Individuums in den Vordergrund stellen. Endlich der Richter wird geneigt sein, die Individualität des Richters als das Ausschlaggebende, die rechtliche Regelung des Verfahrens als minder bedeutsam anzusehen und das Gesetz vorwiegend unter dem Gesichtspunkt zu betrachten, ob es nicht etwa unnötige Fesseln für ihn schaffe. So werden Reibungspunkte nie zu vermeiden sein. Eine Verständigung aber wird gleichwohl möglich sein, wenn man sich in allen Lagern der

1) Vgl. Gaulke in d. Bl. 1901 S. 197.

2) Vgl. Reichsanzeiger v. 5. Dez. 1902. Zu den wichtigsten Fragen des Programms ist in der D. Jur.-Ztg. in den letzten Jahren Stellung genommen worden.

Grenzen des eigenen Horizonts bewusst wird. Erfreuliche Anzeichen deuten an, dafs diese Höhe des Standpunkts heute immer mehr an Selbstverständlichkeit gewinnt. Staatsanwälte, die für Erweiterung der Rechte der Verteidigung eintreten, Verteidiger, die der Anklage freie Bahn zugestehen, Richter, die für Bindung des richterlichen Handelns eintreten, Theoretiker, die Ausnahmen von sonst hochgehaltenen Prinzipien einräumen, haben gerade in letzter Zeit öfter das Wort ergriffen.

[ocr errors]

Es kann hier nicht die Aufgabe sein, den augenblicklich besonders akuten Reformfragen Zuziehung des Laienelements - Schwurgerichte oder Schöffengerichte Beseitigung der Voruntersuchung Einführung der Berufung Einschränkung oder Ausdehnung der Wiederaufnahme des Verfahrens Erweiterung der Rechte der Verteidigung - Beseitigung des Eröffnungsbeschlusses - Beseitigung des Legalitätsprinzips Freiheit oder Unfreiheit des Gerichts bei Bemessung des Umfangs der Beweisaufnahme Vor- oder Nacheid Beseitigung des konfessionellen Eides Beseitigung der Vereidigung unglaubwürdiger Zeugen - Erweiterung oder Beseitigung der Privatklage usw. inhaltlich näher zu treten. Aber einige Leitsätze werden hier ihre Stelle finden dürfen, die jedenfalls werden voranschweben müssen:

[ocr errors]

-

[ocr errors]

1. Strafprozefsrecht und materielles Strafrecht müssen exakt ineinander eingreifen. Es geht nicht an, dafs die Unklarheit darüber, ob jugendliches Alter, Verjährung, Strafantrag, Rechtskraft usw. materiellrechtliche oder nur Bedeutung für die Strafverfolgung haben, perpetuiert wird.

2. Das neue Gesetz mufs in sich harmonisch und geschlossen sein. Es mufs den Spott herausfordern, wenn das geltende Recht in kleinen Strafsachen die Berufung gewährt, in gröfseren versagt; entweder ganz oder gar nicht! Es mufs den Spott herausfordern, wenn die Strafsachen auf Schöffengerichte, Strafkammern und Schwurgerichte verteilt werden, als ob das Problem der Laienzuziehung und der Art und Weise der Beteiligung der Laien ein verschiedenes wäre je nach der Schwere der Tat. Erinnert sei ferner an die Prinziplosigkeit des geltenden Rechts hinsichtlich der Wahrung der Unmittelbarkeit, an die Prinziplosigkeit hinsichtlich der Entscheidungs- (Urteils- oder Beschlufs-) form bei Formalentscheidungen usw.

3. Der Prozefsökonomie ist Rechnung zu tragen. Es ist sinnlos, mehrere Beamte zur Einarbeitung in die Sache zu nötigen, wenn doch nur einer dadurch informiert werden soll und er in der Lage ist, selber alle Erhebungen zu besorgen. Diese Erwägung ergibt einen wichtigen Fingerzeig für die Gestaltung des Vorverfahrens. Weshalb die wertvollen Informationen durch den Untersuchungsrichter, die Polizei, den Amtsrichter erheben lassen, wenn diese ihre erworbene Kenntnis von der Sachlage doch nicht in einer Entscheidung verwerten sollen? Weshalb andererseits den Staatsanwalt auf fremde Erhebungen verweisen, wo er doch derjenige ist, der sich auf

Grund der Vorerhebungen entschliefsen soll, ob er einstellt oder Klage erhebt?

Ob

4. Es ist unerlässlich, dass fortan die Gesetzeslücken ausgefüllt werden. Weshalb z. B. der Modus der Abstimmung im Kollegialgericht (ob Totalabstimmung oder Abstimmung nach Gründen) nicht gesetzlich festgelegt werden soll, ist nicht abzusehen. dritte ihren Körper anderen als durch die Zeugnispflicht umschriebenen Prozefszwecken, dienstbar machen müssen und eventuell, ob sie dafür entschädigt werden, will deutlich bestimmt sein.

Der Wunschzettel liefse sich natürlich mit Leichtigkeit noch gewaltig verlängern. Jedenfalls sind wir berechtigt, an die zweite StrPO. des Deutschen Reiches erheblich höhere Anforderungen zu stellen, als an die erste. Spannen wir freilich unsere Erwartungen nicht zu hoch! Schon manchmal war eine „Reform" eine reformatio in pejus, und vielleicht wird die StrPO. des 20. Jahrhunderts manchen zum Lobredner der StrPO. v. 1. Februar 1877 machen!

[blocks in formation]

Die Ereignisse von 1870, die zur Einheit des Reiches führten, brachten zugleich die Notwendigkeit, den festen Reif eines gemeinsamen deutschen Rechts um die neue Schöpfung zu legen. Zunächst galt es, die äufsere Organisation der Gerichte und das gerichtliche Verfahren einheitlich zu gestalten. Das war die Bedeutung der Reichsjustizgesetze. Eine deutsche Gerichtsverfassung, ein gemeinsames Verfahren in Zivil- und Strafsachen war aber ohne eine einheitliche Anwaltschaft nicht möglich. Den inneren Zusammenhang stellt auch die Entstehungsgeschichte der Rechtsanwaltsordnung klar zutage. Den ganzen Stoff, der in dem am 6. Februar 1878 von Bismarck eingebrachten Entwurf der RAO. niedergelegt war, hatte schon die Reichstagskommission zur Beratung der Justizgesetze in den wichtigsten Teilen durchgearbeitet, als es sich darum handelte, das GVG. festzustellen. In der Kommission safs Gneist; seinem Namen gilt die erste Stelle, nennt man die um die deutsche Anwaltschaft verdienstvollsten Männer. In bezug auf die Hauptprinzipien beherrschten seine Anschauungen über die Freie Advokatur" die Kommission. Sie siegten auch in den weiteren Stadien. Insbesondere das Hauptprinzip: die Freigebung der Rechtsanwaltschaft blieb unangefochten. So wurde die Rechtsanwaltsordnung v. 1. Juli 1878 in einem Geiste geschaffen, der nicht besser als mit Gneists Worten charakterisiert werden kann: ,,Nie wird man das Ziel der Advokatur hoch genug stecken, wenn man tief durchdrungen ist von der

[ocr errors]

Hoheit des Rechts als der höchsten Verwirklichung der Staatsidee."

Jetzt, nach dem ersten Vierteljahrhundert, während dessen die RAO. ihren praktischen Befähigungsnachweis geliefert hat, sammelt sich alles Interesse wie im Brennpunkt in der Kernfrage: Hat die Freigebung der Anwaltschaft die Hoffnungen, die man auf sie gesetzt, verwirklicht, oder die Befürchtungen, die dagegen laut geworden, gerechtfertigt? Die Antwort kann nur ein objektiver Rückblick auf die Entwickelung der Anwaltschaft in den letzten 25 Jahren geben: die Entwickelung des ziffern mäfsigen Wachstums, der wirtschaftlichen Lage, der sozialen Stellung.

I. Nirgends wird mehr mit Schlagworten gekämpft als bei den nicht selten leidenschaftlichen Erörterungen, ob die freie Advokatur ein normales Wachsen der Anwaltzahl oder ob sie eine schädliche Ueberfüllung gezeitigt hat. Vermeiden wir ein Urteil nach dem „sentiment", suchen wir die Antwort, soweit es irgend geht, aus amtlichen Ziffern und Tatsachen-Material.1)

Gespensterfurcht war die Besorgnis, es werde die Freizügigkeit zu einer Ueberfülle in den Grofsstädten führen, das Bedürfnis der kleineren Städte aber nicht decken. Klagen darüber, dafs dort, wo ein Bedürfnis vorhanden, Mangel an Anwälten herrsche, sind überhaupt kaum laut geworden. Aber es ist auch - wenn man die Ziffern zu Rate zieht und den Durchschnitt ins Auge fafst - die Zahl der Anwälte über das Bedürfnis hinaus, in einer den Erwerb der Anwälte und die Interessen der Rechtspflege ersichtlich gefährdenden Weise nicht angewachsen, selbst in den Grofsstädten nicht.

Am 1. Januar 1903 belief sich die Gesamtzahl der Anwälte (abgesehen vom Reichsgericht) auf 7235. Folgende Aufstellung vergegenwärtigt das Wachstum. seit dem 1. Januar 1880:

Am 1. Januar . 1880 1885 1891 1895 1897 1899 1901 1903 Zahl der Anwälte 4091 4536 5317 5795 6166 6602 6800 7235

Die Zahl stieg durchschnittlich jährlich vom 1. Januar 1880 bis 1885 um 89, bis 1891 um 130, bis 1895 um 120, bis 1897 um 186, bis 1899 um 218, bis 1901 um 99, bis 1903 um 218. Diese Gesamtziffern zeigen schon an sich kein schreckhaftes Bild. Freilich hat ein starker Zuwachs stattgefunden. Es ist dies aber keine beängstigende Kongestion, da früher Blutarmut geherrscht hat. Die allgemeine Zunahme belief sich, als der Sättigungspunkt erreicht war, seit etwa 1895 auf durchschnittlich etwas über 3% jährlich, ja in den Jahren 1899 und 19002) sogar nur auf etwa 12%.

Um die Vermehrung näher würdigen zu können, mufs man ihre Verteilung über die 28 Kammerbezirke, vor allem die Gröfse der Orte und die Art

1) Die Zahlenangaben des Aufsatzes sind entnommen der „Deutschen Justiz-Statistik (Jahrg. XI, 1903), dem Statist. Jahrb. für das Deutsche Reich (Jahrg. 24, 1903, Jahrg. 25, 1904) und den Beilagen der Jur. Wochenschrift.

2) Der auffallende Rückgang in diesem Jahre erklärt sich ans der Neubesetzung und Vermehrung von Richterstellen, welche die Einführung des BGB. mit sich brachte.

der Gerichte berücksichtigen, bei denen sie eingetreten ist.

Von allen Rechtsanwälten entfielen am 1. Januar 1903 auf Berlin 11,9%, auf die übrigen Orte mit mehr als 100 000 Einwohnern 33,7%, die Orte mit 70 000 bis 100 000 Einwohnern 4,5%, die Orte mit weniger als 70 000 Einwohnern 49,9%. Man wird diese Verteilung im ganzen und grofsen natürlich von einzelnen Ausnahmen abgesehen als eine normale betrachten dürfen. Noch einleuchtender wird dies, wenn man die Verteilung nach der Art der Gerichte in Betracht zieht. Je mehr die Amtsgerichte bedacht sind, desto gesünder sind die Verteilungsverhältnisse. Am 1. Januar 1903 befanden sich unter den 1933 Amtsgerichten 1187 oder 61%, in deren Bezirk Anwälte wohnten. Die Zahl der Amtsgerichte, in deren Bezirk Rechtsanwälte nicht wohnen, ist stetig gefallen. Sie betrug am

[blocks in formation]

Die Zahl der Amtsgerichte, bei denen Rechtsanwälte zugelassen sind, hat gegen den Stand v. 1. Januar 1880 zugenommen um 273,4%, die Zahl der Zulassungen bei den Landgerichten hat in der gleichen Zeit sich um 41,7% vermehrt. Ja die Vermehrung, die von 1880 bis 1885 in der Zahl der Anwälte eintrat, entfiel zu 19/20 auf die Amtsgerichte.

Diese Ziffern beweisen deutlich, dafs auch in den kleineren Orten und bei den Amtsgerichten dem rechtsuchenden Publikum für die Regel ausreichender Anwaltschutz zur Verfügung steht.

Auch der Vergleich mit der Bevölkerungsziffer zerstreut die Befürchtungen. Nach der Volkszählung vom 1. Dez. 1900 hatte das Reich 56 367 178 Einwohner. Vom 1 Dez. 1880 (damals 45 234 061) ist die Bevölkerung um 24,6% gestiegen. Die Steigerung entfällt aber vor allem auf die Städte, während die ländliche Bevölkerung zurückgegangen ist. Seit der Gründung des Reichs hat sich ihre Einwohnerzahl mehr als verdoppelt (von 14,8 auf 30,6 Millionen). Unter den Städten marschieren wiederum die Grofsstädte mit über 100000 Einwohnern an der Spitze. 1870 gab es 8 solcher Grofsstädte, 1900 bereits 33 (mit 8 Millionen); ihre Zunahme an Einwohnern betrug 128%. Die Zahl der Anwälte ist in den beiden letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts von 4091 auf 6800, also um 66,21% gestiegen. Wird man in diesem Prozentsatz, verglichen mit der Steigerung der Bevölkerungsziffern, ein hypertrophisches Wachstum, eine bösartige Neubildung erblicken können? Sicherlich nicht, zumal gerade der Verkehr der Städte, die in weit höheren Proportionen gewachsen sind, das Bedürfnis nach Anwälten steigert. Und man vergesse nicht: Preufsen, das die volkreichsten Bezirke umfafst und an der Zunahme der Bevölkerung und der Grofsstädte am stärksten beteiligt ist, war gerade derjenige Staat, der vor dem 1. Okt. 1879 eine durchaus anormale Unterzahl von Anwälten aufwies.

Wie stellt sich endlich der Vergleich mit der

Zahl der Richter? Gneist erklärt es als Zeichen normaler Entwickelung und mit Recht, dass die Advokatur stets in einer überwiegenden Zahl dem Richteramt gegenüberstehen müsse, wie sie auch seinerzeit in Frankreich die Richterzahl um das dreifache überstiegen habe. Am 1. Januar 1903 gab es im Reich 8397 Richter, also mehr Richter als Anwälte (7235). Und man berücksichtige, dass die Klage einer nicht genügenden Vermehrung der Richterstellen eine allgemeine und für Preussen, das mindestens 600 Hilfsrichterstellen in feste umwandeln müfste,1) chronische ist.

Und das Fazit aus allen bisherigen Ziffern? Ueberfüllung und krankhaft ungleichmäfsige Verteilung sind Behauptungen, für welche der Beweis fehlt. Freilich sei mit Nachdruck betont, dafs wir nur Durchschnittsziffern mitteilten, dafs wir das Bild aus der Vogelperspektive sahen, die ein genaues Unterscheiden der Einzelorte nicht gestattet. Sicherlich ist an dem oder jenem Orte, in dem oder jenem Landesteile das Bedürfnis entweder überreich oder zu mangelhaft gedeckt. Aber das Gesamtbild ist für unsere Untersuchung das Entscheidende.

II. Wenden wir uns nun zu der Entwickelung der wirtschaftlichen Lage der Anwaltschaft während der letzten 25 Jahre. Früher war die Anwaltschaft ein Monopol, die Einnahme aus ihr kam wenigen, von der Regierung Begünstigten zugute. Nunmehr verteilen sich die Einnahmen auf viele; für die grofse Mehrheit sinkt daher das Niveau. Nur einzelnen ist es gegönnt, grofse, fast fürstliche Einnahmen zu erzielen. Die entscheidende Frage aber ist die, ob ein standesgemässes kein luxuriöses

Einkommen der Mehrheit verbleibt. Entgegen schweren und beachtenswerten Zweifeln - gilt doch heute vielen die Not des Anwaltstandes wie seine Ueberfüllung als Axiom sind wir geneigt, die Frage zu bejahen.

An einer Erörterung der wirtschaftlichen Lage kann nicht vorübergegangen werden. Die freie Advokatur mufs auch in diesem Hauptpunkt ihre Probe bestehen. Nicht die Not des einzelnen, so beklagenswert sie sei, spricht an sich das entscheidende Wort. Denn in einer wirtschaftlichen Organisation, wie der unsrigen, mufs der freie Mann die guten und schlechten Chancen seiner freien Wahl selbst vertreten. Aber die Not birgt Gefahren für den Beruf; sie kann die Ausübung herabziehen, schädigt den Stand, schädigt die Klientel. anderer Stelle 2) ist bereits nachgewiesen, dafs der Einzug der freien Advokatur verhältnismäfsig gröfsere Verfehlungen nicht gezeitigt hat. An dieser Stelle handelt es sich um Ermittelung eines Weges, der, abseits von willkürlichen Schätzungen, zu einer, auf ziffernmäfsiger Grundlage sich aufbauenden Aufklärung über die ökonomischen Erwerbsverhältnisse der Anwaltschaft führt. Getrübt wird eine sichere Aufklärung schon dadurch, dafs sich die Einnahmen

1) Gumbinner in der DJZ. 1904, No. 15 S. 721.

An

2) Von Jacobsohn in der Festschrift zum Deutschen Anwaltstage, Berlin 1896.

« EelmineJätka »