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aus anderen als beruflichen Quellen: aus eigenem, ererbtem, erheiratetem Vermögen, schwer sondern lassen. Der zuverlässigste Weg, wenigstens für Preufsen, nämlich eine Statistik auf Grund der Selbstdeklaration zur Einkommensteuer, ist infolge des Amtsgeheimnisses verschlossen. Es bietet sich indes doch ein wertvolles, bisher kaum beachtetes Hilfsmittel für die Beurteilung der anwaltlichen Einkommensverhältnisse. Wenn der Umfang der Geschäfte, zu deren Erledigung die Anwaltschaft mit berufen ist, zugenommen hat, und in einem Verhältnisse, hinter dem ihr Anwachsen zurückbleibt, sollte damit nicht der Beweis geliefert sein, dafs es ihr wenigstens nicht an Arbeitstoff zur Betätigung und damit an der Möglichkeit, Einnahmen zu erzielen, fehle? In dieser Richtung sind die Zahlen der Justiz-Statistik aus folgender Tabelle äusserst lehrreich:

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der Jahre 1896-1900 1918102 1504622 168670 182892 61027 191721065832 13924 1881-18852034676 957736 109874101586 34610120380689267 8857

Wir haben die Uebersicht auf die Geschäfte der streitigen Gerichtsbarkeit beschränkt, weil sie das tägliche Brot so zu sagen des Anwalts und den Hauptrückhalt für seine Existenz bilden. Die mitgeteilten Ziffern zeigen nun ein solches Anwachsen der Geschäfte, dafs es prozentual das Wachstum der Anwaltschaft übertrifft. Namentlich die Zahl der ordentlichen Prozesse, die vor allem für den Gebührenertrag in Betracht kommen, hat stetig zugenommen.1) Der Stand von 1901 ergibt gegen das Jahr 1881 eine Zunahme von 86,7 % (um 924544 Prozesse). Bei Trennung der Zahlen für die Amts- und Landgerichte ergibt sich folgendes, von der Justiz-Stat. entrolltes Bild. Während in früheren Jahren die starke Vermehrung der ordentlichen Prozesse im wesentlichen auf der Zunahme der Prozesse bei den Amtsgerichten beruhte, machte sich insbesondere seit 1897 auch bei den Landgerichten eine erhebliche Vermehrung bemerkbar. In den Jahren 1900 und 1901 betrug bei den Landgerichten die Zunahme in Prozenten gegenüber dem Jahre 1881 sogar 71,5% und 93,8%, während sie sich bei den Amtsgerichten nur auf 66,4% und 85,9% stellte. Dagegen entfiel in den Jahren 1901 und 1902 die Vermehrung der Zahl der ordentlichen Prozesse überwiegend auf die Amtsgerichte.

1) Für Preufsen liegen die Verhältnisse ganz entsprechend; vgl. die Hauptübersicht im J.-M.-Bl. (August 1904), die sich bis 1. Januar 1904 erstreckt.

Auf welche Gründe die Vermehrung der Zivilprozesse zurückzuführen ist, bleibt für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung unerheblich. Die stete Zunahme führt jedenfalls zu vermehrten Einnahmequellen für die Anwaltschaft. Dazu kommt, dafs sich, ähnlich wie die Zivilprozesse, die Geschäfte der freiwilligen Gerichtsbarkeit, die Konkurssachen (von 5770 im Durchschnitt 1881/85 auf 12951 im Jahre 1901), die Strafsachen, die Privatklagesachen (um über 55% seit 1880), vermehrt haben.

Nach den ermittelten Ziffern entfällt auf die Anwaltschaft, wenn man eine gleichmäfsige Verteilung zugrunde legt, wie dies für Durchschnittsrechnungen notwendig ist, eine genügende Anzahl von Geschäften. Das Problem freilich bleibt, wie bei der grofsen sozialen Frage, die Verteilung der Geschäfte auf die einzelnen. Hierfür fehlen Zahlen. Hier wird die subjektive Schätzung Platz greifen, hier werden. verschiedene Temperamente, werden Optimismus oder Pessimismus durch verschiedene Brillen sehen. Nicht zu leugnen ist, dafs namentlich in den Groisstädten sich bei einzelnen in abnormer Weise eine übertrieben grofse Praxis konzentriert. Diese Häufung ist nicht blofs im Interesse anderer, deren Einnahmequellen spärlicher fliefsen, sondern auch im Interesse der Geschäfte selbst zu beklagen, denen der überlastete Anwalt die erforderliche Aufmerksamkeit nicht schenken kann. Gerechte Mittel für eine gerechtere Verteilung zu suchen, wird eine Hauptaufgabe bleiben. Vor allem mufs die Lauterkeit des Wettbewerbes angestrebt und von den Vorständen aufs strengste überwacht werden. Klientenfang, Reklame, Unterbieten, Verbindung mit Winkelkonsulenten, skrupellose Geldgier und ähnliche Dinge müssen verpönt und, wo sie sich zeigen, unerbittlich unterdrückt werden. Die Verteilung der Geschäfte und des Einkommens ist gegenwärtig wenigstens nach unserem Urteil eine solche, dafs die Mehrheit wir haben hier namentlich Preufsen im Auge, dessen Verhältnisse uns bekannter sind nach den ersten Sturm- und Drangjahren der jungen Praxis ihrem Stande gemäfs leben kann. Noch ist der Prozefs nicht, wie in Oesterreich1), ein förmlicher Leckerbissen für den deutschen Anwalt geworden. Freilich ist der Kampf ums Dasein für den Anwalt ein heifser; sicherlich wird auch eine kleine Minderheit mit der Sorge selbst um das tägliche Brot belastet sein. Aber auch in den „goldenen Monopolzeiten" gab es in den preufsischen Grofsstädten einzelne Anwälte, die, um ihr Leben zu fristen, ihren Namen zur Legalisation von Prozefsschriften für 712 Sgr. bis zum gesetzlichen Maximum von 2 Talern hergaben.

III. Und die Entwickelung der letzten 25 Jahre in bezug auf das Ansehen und die soziale Stellung der Anwaltschaft? Das äufsere Ansehen hat gelitten. Einmal ist das Ansehen der Justiz überhaupt gesunken. Dann aber ist mit der Zugänglichkeit des Standes für jeden und mit der Vermehrung der Zahl naturgemäfs die Stellung des 1) Vgl. Benedikt: Die Advokatur unserer Zeit, Wien 1903, S. 60.

Durchschnitts zurückgegangen. Dieser Rückgang ist unabwendlich; er stimmt nicht zur Klage. In unserer Zeit mufs die soziale Bedeutung des Anwaltberufes nicht so sehr in äufserem Rang und verliehenem Flitterglanz, als vor allem in der Stärkung der idealen Momente gesucht werden. Unsere Ehren fliefsen aus unseren Eigenschaften und den Leistungen für die Allgemeinheit. Diese Ehrenstellung hat unter der freien Advokatur nicht gelitten.

Zunächst die Charaktereigenschaften, die sich in der pflichtmäfsigen Ausübung des Amtes widerspiegeln. Sind die freien Anwälte zweitklassig geworden? Lassen wir auch hier die Ziffern sprechen. Die Zahl der ehrengerichtlichen Untersuchungen und Urteile zeigt, abgesehen von unerheblichen Schwankungen, seit 1880 im ganzen eine sinkende Tendenz, und auch an sich ist die Ziffer keine ungünstige. Auf 100 Anwälte kamen noch Mitte der achtziger Jahre durchschnittlich im Jahre zwischen zwei und drei Untersuchungsfälle. Vom Jahre 1899 bis 1903 schwankt die Durchschnittsziffer der Urteile, die auf 100 Anwälte jährlich entfallen, zwischen 1,03 und 1,25. Gewifs keine erschreckende Tatsache, zumal auf die schwerste Strafe der Ausschliefsung verhältnismäfsig selten erkannt zu werden brauchte. Sie nimmt im Jahre 1901 nur 6%, in den Jahren 1902 und 1903 freilich je 10% aller in erster Instanz verhängten Strafen in Anspruch. Schon 1896 konnte für den Bezirk Berlin festgestellt werden, dafs im Laufe der 17 Jahre von 1879 ab unter 30 ehrengerichtlich bestraften Anwälten nur vier in den ersten drei Jahren ihrer Anwaltschaft bestraft wurden. Im Jahre 1903 ist ebenda im ganzen gegen zwölf Anwälte verhandelt worden. Die Vorfälle lagen nur bei dreien etwa 3 bis 4 Jahre, bei zweien schon 7 Jahre und bei den übrigen sieben über 10 Jahre (bis zu 20 Jahren) hinter der ersten Zulassung zurück. Also es ist nicht erwiesen, dafs die jüngeren Elemente leichter der Versuchung erliegen.

Das Mafs der Verfehlungen ist aber selbstverständlich nur ein negativer Mafsstab; positiv kommt es für die Mehrung des Ansehens auf die Leistungen der freien Anwaltschaft an.

Auf seinem eigensten Gebiete: in der Beistandschaft für den Rechtsuchenden hat der freie Anwalt die geschlossene Advokatur vielfach überflügelt. Neben dem Richteramt ist die Anwaltschaft berufen, die Gerechtigkeit zu hüten: dem Unterdrückten eine Stütze, dem Unterdrücker eine Geifsel. Das Vertrauen darauf, dafs sie nicht im Solde der Mächtigen, sondern unerschrockene Kämpferin für das Recht eines jeden ist, bildet den Grundpfeiler ihres Ansehens. Unter der freien Advokatur ist er nicht erschüttert, sondern stark befestigt worden. Das alte Bild des verhafsten, streitsüchtigen, in Ränken und Kniffen versierten Beutelschneiders" verblafst immer mehr. Haben doch schon die geänderten allgemeinen Zeitströmungen die Ausübung des Berufes gehoben. Man mag den Geist unserer Zeit aus vielen Gründen schelten. Aber

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wer wird leugnen, dafs er selbst im ökonomischen Interessenkampf dem sozialen Mitempfinden Bahn gebrochen, im Rechts- und Wirtschaftsleben den ethischen Mächten Gehör verschafft hat? Wer will, höhne über diesen Geist. Aber die Ausübung auch unseres Berufes hat er geadelt. Dazu die Oeffentlichkeit und Mündlichkeit des Verfahrens. Licht und Luft, wie sie im Krankensaal zur Gesundung beitragen, lassen auch im Gerichtsaal die Bazillen widerwärtiger Prozefsführung nicht leicht aufkommen. „Littera non erubescit," hiefs es mit Recht für das frühere schriftliche Verfahren. Eine andere Gerichtsverfassung ein anderer Advokat.

Und hat etwa das rechtsuchende Publikum unter den neuen Zuständen gelitten? Sein Interesse ist doch das ausschlaggebende. Der Anwalt, früher nur wenigen Personen zugänglich, ist jetzt für jedermann zu sprechen. Dadurch haben die breiten Massen des Volkes an Rechtsschutz gewonnen. Diese Demokratisierung, die unausbleibliche Folge allgemeiner Zeitströmungen, mag des Advokaten äufsere Rangstellung und seine Einnahme mindern, aber sie verschafft weiten Volkskreisen Hilfe. Wie war es früher? Die Rechtsanwaltschaft reichte nicht aus, die kleinen Leute waren auf den Winkeladvokaten angewiesen. Im Jahre 1867 waren in Berlin neben 59 Anwälten für Stadt- und Kreisgericht 300 bis 400 Rechtskonsulenten tätig. In der Nähe aber des stolzen Anwaltspalastes nisteten sich, wie in der Umgebung der Kathedralen des Mittelalters die Buden und Schlupfwinkel, die Schreibstuben der Unzünftigen ein. Sie boten keine der Garantieen, die den Sachwalterstand umgeben. Es ist ein sozialpolitisch nicht zu unterschätzender Fortschritt, dafs heute die Dienste des Rechtsanwalts auch den kleinen Leuten zur Verfügung stehen.

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Diese Dienste sind deswegen, weil sie vielen geleistet werden, nicht minderwertiger geworden. Die Leistungen der freien Advokatur im Fürsprechamt entsprechen der Höhe dieses Amtes. Schon dafs die Kräfte zahlreicher sind, sichert den einzelnen Sachen eine gründlichere Behandlung. Consulter et plaider" mit diesen Worten kennzeichnet man treffend die Hauptzweige der anwaltlichen Tätigkeit. Das Beraten" ist sicherlich nicht schlechter geworden. Gut Raten setzt gut Zuhören voraus. Und der heutige Anwalt hat Zeit zum Hören. Das „Plaidieren" freilich ist jetzt ein anderes. An Stelle des Schwunges und Pathos ist Sachlichkeit und Nüchternheit getreten. Der Anwalt folgt damit einem allgemeinen Zuge der Zeit. Aber wenn er nur klar und sachlich, kurz und bündig, klug und geschickt seine Vorträge hält wird seine Wirkung. nicht versagen. Tüchtige Leistungen genug verzeichnet. die freie Anwaltschaft in der Lösung ihrer hohen Aufgabe, der gerechten Sache zum Siege zu verhelfen.

Hüter des Rechts, nicht nur Vertreter seiner Partei sei der Advokat. Hat dies in den Zeiten der freien Advokatur der deutsche Anwalt vergessen? Mit gerechtem Stolz darf es verneint werden. Er arbeitet an seinem Teil mit an der Fortbildung des Rechts, an der Verwirklichung einer gerechteren

Zukunft. Lücken und Unvollkommenheiten, Härten und Grausamkeiten der geltenden Gesetze deckt er auch seinerseits auf und bekämpft sie. Das unerschrockene Wort der Kritik gegenüber den Aussprüchen der Richter fehlt ihm nicht. An der Mitarbeit, um mangelhafte Rechtszustände zu bessern, sieht man ihn in gesetzgebenden Versammlungen und in Selbstverwaltungskörpern.

Vor allem aber ist in seiner Hand die Waffe der Wissenschaft nicht gerostet, die am stärksten zum Hütertum im Tempel des Rechts ausrüstet. Wenngleich eine Reihe glanzvoller Namen die Reihe der Anwälte vor dem 1. Oktober 1879 ziert, so hat die Zeit nachher einen weiteren Aufschwung der wissenschaftlichen Leistungen der Anwaltschaft gebracht. Mehr Kräfte sind zur Verfügung. Der einzelne fühlt im Wettkampf einen stachelnden Sporn; „rast' ich, so rost' ich". Hinter dem Eifer steht der Erfolg nicht zurück. Wenn die wissenschaftlichen Arbeiten des Anwalts zumeist die Form des Kommentars haben, so bleibt nicht zu vergessen, dafs dies die nächste Aufgabe der Wissenschaft nach Vollendung grofser Gesetzeswerke ist. Auf diesem Gebiete hat aber auch die Anwaltschaft Glanzvolles geleistet. Ist doch durch einen Sohn der freien Advokatur, den unvergesslichen Staub, eine neue Art der Kommentierungskunst bahnbrechend geworden. Uebrigens mag des Guten nicht selten zu viel getan werden. Vor Vielschreiberei sei gewarnt; multum, non multa. Aber die Pflege des wissenschaftlichen Geistes ist eine Schutzwehr gegen das Banausentum. Ein Ruhmesblatt bleibt es für den freien Anwalt, dafs er die Wissenschaft „nicht hinter sich läfst, die Schule zu hüten.“

IV. Der Rückblick auf die tatsächliche Entwickelung rechtfertigt keineswegs den nicht selten gehörten Ruf: „wir steuerten offen dahin, ein Anwalts-Proletariat zu erhalten" (Sächs. Justizminister Dr. Otto im März 1904). Für Deutschland im ganzen trifft dies Urteil nicht zu, in welchem Sinne man auch von Proletariat rede: ob im eigentlichen einer Ueberfüllung oder einer wirtschaftlichen und sozialen Verelendung. Gewifs, die Reihen der Anwaltschaft sind voll besetzt. „Raum für alle“ hat sie nicht; bedenklich wäre ein übermäfsiger Zustrom. Aber man kleide Warnungen nicht in die Form mafsloser Uebertreibung. Vorhandenen und drohenden Uebelständen wer wollte diese leugnen? - steuert man nicht durch das nutzlose Mittel der Warnung vor neuem Zuzug", sondern durch innere Reformen. Noch gefährden gesetzliche und tatsächliche Hemmnisse verschiedenster Art das gesunde Ausleben der freien Advokatur. Aufserhalb des Rahmens unserer Aufgabe hier liegt ein genaueres Eingehen auf die Mittel der Besserung. 1) Nur Stichworte seien hier genannt: die Lösung von jeder Beamtenfessel, wozu auch das Notariat gehört; der Wegfall von Titel und Orden; die volle Freizügigkeit von Bundesstaat zu Bundesstaat; die Durchführung der

1) Vgl. hierüber Stranz: Deutschlands Anwaltschaft an der Schwelle des 20. Jahrhunderts, DJZ. 1901 No. 16/17.

freien Zulassung beim Reichsgericht; strenge Selbstdisziplin; die Ablehnung geschäftlicher Spekulationen; die Erweiterung des Wirkungskreises namentlich auf das Feld der Verwaltungssachen und der Sozialgesetze.

Endlich aber, last not least, ein anderer Kurs in der Verwaltungspraxis. Jedem Befähigten und Charaktervollen steht nach dem Gesetz der Eintritt in die Richter- und in die Verwaltungslaufbahn frei. In Wirklichkeit aber spielen nicht Talent und Charakter, sondern die Konfession bei der Zulassung eine entscheidende Rolle. Der von der Regierung beklagte Zustrom von Anwälten in die Grofsstädte wird von ihr dadurch gefördert, dafs sie den Eintritt in andere Laufbahnen, also ein Ventil gegen die Ueberfüllung, verschliefst. Und, welche Ironie! je gröfser die Zahl, desto gröfser das Mifswollen gegen die freie Anwaltschaft. Das Monopol, der numerus clausus, hat immer noch Freunde, die freie Advokatur Feinde und Angreifer. Mit Unrecht freilich, wie die Ziffern und Tatsachen gezeigt haben. Die Angriffe sind aber nicht nur unberechtigt, sondern versprechen auch wenig Erfolg. Denn jeder Art von Auswahl türmen sich fast unübersteigliche Schwierigkeiten entgegen. Wie soll der Minister die Anwaltstellen vergeben? Nach der Anciennität? Die Ersitzung pafst wahrlich nicht für ein Amt, in das man, wie kaum in ein anderes, mit dem Wagemut der Jugend eintreten soll. Nach Bedürfnis? Dies läfst sich nicht ermitteln. Nach Verdienst? „Aber der König kann nicht alle verdienten Männer kennen." Geheime Berichte mit ihren Zufälligkeiten, Protektion, politisches Wohlverhalten, Konfession entscheiden. Aehnliche Gründe, wie gegen eine Ernennung, sprechen aber auch gegen eine Wahl durch den Kammervorstand. Auch sie würde zu einem kastenartigen Abschlufs führen. Nein, die Pforte bleibe offen. Aber man möge sie nicht als goldene Eingangspforte in ein Schlaraffenland ansehen. „Arbeiten und sich bescheiden" dieses Motto steht über dem Tor zur freien Anwaltschaft. Mögen alle den Marschallstab im Tornister tragen, nur wenige können Marschall werden. In diesem Sinne gilt auch für die heutige Advokatur die Vulgata-Uebersetzung der bekannten Bibelstelle: Multi sunt advocati, pauci tamen electi.“

Juristische Rundschau.

Gesetzgeberische Anregungen aur Schritt und Tritt. Unter der Fülle seien einige herausgegriffen, denen rasche Verwirklichung beschieden sei.

Vertagen, aber nicht einsargen konnte der vorige Juristentag das Kartellproblem. Le roi me reverra. Wieder erschien es in Innsbruck. Dort ist auch der Juristentag zu einem immerhin dankenswerten Ergebnis gelangt. Der Verschleppungseinwand der Unzuständigkeit wurde mit Fug verworfen. Ebenso der weitere, die Sache sei noch nicht genügend geklärt. Soll denn der Juristentag mit dem Aussprechen einer Wahrheit warten, bis die Spatzen sie von den Dächern pfeifen? Kann dieser Frage Kleins, dessen flammender Feuereifer zündete,

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Stichhaltiges entgegengesetzt werden? Der Beschlufs des Juristentages erkennt Notwendigkeit und Rechtsbestand der Kartelle ausdrücklich an, verschliefst sich also nicht dem mächtigen Zuge der modernen industriellen Entwicklung. Aber er erklärt sich mit Entschiedenheit gegen den Standpunkt, die Kartelle als Blümchen rühr mich nicht an" zu behandeln. Er gibt dem Staate, was des Staates ist: ein Aufsichts- und Einspruchsrecht zur Verhütung der Kartellschäden. Die Ausgestaltung dieses Rechts soll der Verwaltungspolitik und der WirtschaftsGesetzgebung zufallen. Ohne sich in Einzelheiten zu verlieren, werden mit Geschick wichtige positive Forderungen herausgeschält: die Koalitionsfreiheit auch für die Arbeitnehmer, die Rechtsfähigkeit auch für die Arbeiterverbände und staatliches Eingreifen gegen übertriebene Preissteigerungen. Man darf es bedauern, dafs die Beschlüsse an zwei der gegenwärtig fühlbarsten Kartellauswüchse vorübergegangen sind: dem Boykott gegen Händler und Abnehmer, der nicht selten über sie bis zu ihrer Vernichtung verhängt wird; der Besteuerung des inländischen Konsumenten zugunsten des Auslandes unter Ausnutzung der Ausfuhrprämien. Unbegründet aber ist der Vorwurf des Mangels formulierter Gesetzesvorschläge. Diese sind nicht Sache des Juristentages., Seinem Prinzipe getreu,,,entrollt er nur die Fahné, gibt nur Ziel und Wegerichtung für den Gesetzgeber an.

Der Ruf nach Wiedereinführung der Berufung in Strafsachen ist durch einen neuerlichen Vorgang wieder zwingend geworden. Am 30. Juli hat das Kriegsgericht den Oberleutnant Witte, der im Bilseprozefs als Zeuge vereidigt war, wegen Meineids und wegen Mifshandlung Untergebener zu einem Jahr und drei Tagen Zuchthaus, Entfernung aus dem Heer und Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte auf zwei Jahre bestraft. Am 16. Sept. wurde Witte von dem Oberkriegsgericht in Frankfurt a. M. von der Anklage des Meineids unter glänzender Rechtfertigung freigesprochen und erhielt nur wegen Mifshandlung 14 Tage Stubenarrest. Beiden Urteilen auch nur ein Wort hinzuzufügen, hiefse die Wirkung schwächen. Schreien sie nicht geradezu nach der Berufung auch für die Strafkammer-Urteile? Soll nur der Soldatenrock gegen Justizirrtum schützen?

Für die gleislosen elektrischen Strafsenbahnen wird eine gesetzgeberische Regelung angekündigt. Sie fallen nicht unter das Kleinbahngesetz, weil der Gebrauch der Schiene die rechtliche Grundlage hierfür bildet. Sie fangen aber an, sich einzubürgern, und erheischen daher, um nicht rechtlich gleislos zu werden, eine entsprechende gesetzliche Ordnung. Dem Eilschritt der Technik, die freilich Siebenmeilenstiefel hat, versucht der Gesetzgeber wenigstens nachzuhinken.

Darf durch Statut der Krankenkassen für die Ehefrauen der Kassenmitglieder eine Wöchnerinnen-Unterstützung noch vorgesehen werden? Das Ober-Verwaltungsgericht hat neuerdings diese Frage auf Grund der jüngsten Novelle zum Kr.Vers -Ges. in zwei Entscheidungen verneint. Das Ergebnis steht mit dem Wortlaut, nicht aber mit dem Geist der Novelle, wie das Gericht selbst anerkennt, im Einklang. Abhilfe kann nur im Wege der Gesetzgebung erfolgen.

Justizrat Dr. J. Stranz, Berlin.

Vermischtes.

Die Kommission für die Reform des Strafprozesses wird am 4. Oktober ihre Arbeiten im ReichsJustizamt wieder aufnehmen und sogleich in die zweite Beratung der ihr vorgelegten Fragen eintreten, um damit endgültig ihre Stellung zu diesen Fragen zu nehmen.

Seit dem 10. Februar v. J., an welchem Tage die erste Sitzung stattfand, bis zum 8. Juli d. J., dem Schlusse der ersten Beratung, hat die Kommission in 12 Tagungen 56 Sitzungen abgehalten. Sie ist also, wenn man die Sommerferien in Rechnung zieht, ungefähr in jedem Monat einmal zu je 5 Sitzungen zusammengetreten und hat sich damit im Rahmen der anfänglichen Dispositionen gehalten, nach welchen, um allen Mitgliedern eine gründliche Orientierung in dem jedesmal zur Beratung gestellten Material zu ermöglichen, der Zeitraum zwischen zwei Tagungen mindestens vier Wochen betragen sollte. Hierdurch ist es möglich gewesen, die Beratungen auf einer Höhe zu halten, welche die Mitglieder hoffen lässt, dass ihre Beschlüsse weitgehende Beachtung finden werden. In rund 200 Beschlüssen positiven Inhalts hat die Kommission zu einer grofsen Zahl von Abänderungen der Strafprozefsordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes Stellung genommen und dabei vielfach grundsätzliche Neuerungen in Anregung gebracht. Wenn die zweite Beratung auch mehrfach zu Aenderungen in den bisherigen vorläufigen Vorschlägen führen wird, schon weil die Beschlüsse nicht immer unter Anwesenheit sämtlicher Mitglieder gefasst werden konnten, so dürfte voraussichtlich doch das Ergebnis der zweiten Beratung im grofsen und ganzen mit dem Ergebnis der ersten Beratung sich decken.

Während die Kommission in der ersten Lesung an die Reihenfolge der ihr vom Reichs-Justizamt vorgelegten Fragen, die sich wesentlich an die Legalordnung der Strafprozefsordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes anschlossen, gebunden war, hat sie für die zweite Lesung beschlossen, zunächst die grundlegenden Fragen der Gerichtsverfassung - Organisation der Gerichte, Beteiligung des Laienelements an der Rechtsprechung, Ausdehnung der Berufung, Zuständigkeit der Gerichte und sodann erst die Vorschriften über das Verfahren, deren Regelung zum Teil von der Entscheidung jener Fragen abhängig ist, zur Erörterung zu ziehen. In der Kommission wird angenommen, dafs die zweite Beratung im nächsten Frühjahr abgeschlossen werden kann. Die Protokolle über die Verhandlungen in erster und zweiter Beratung sollen bekanntlich alsbald nach dem Abschlufs der Kommissionsarbeit durch das Reichs-Justizamt zum Druck und zur Veröffentlichung gebracht werden.

Ein Aktenstück aus alter Zeit. Als vor 25 Jahren die Errichtung des Reichsgerichts beschlossene Sache war, gehörte es zweifellos zu den schwierigsten Aufgaben der Reichsregierung, den richtigen Mann für die hohe und wichtige Stellung eines Chefs des höchsten deutschen Gerichtshofes zu finden. Mit welchem Erfolge die Wahl auf den damaligen ersten Präsidenten des Appellationsgerichts zu Frankfurt a. O., Dr. Eduard Simson, fiel, hat in dieser Nummer Professor Dr. Laband an anderer Stelle ausgeführt.

Von Interesse aber wird es sein, das Diplom kennen

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Seine Majestät der Kaiser haben auf Vorschlag des Bundesraths geruht, Sie zum Präsidenten des Reichsgerichts vom 1. Oktober d. J. zu ernennen und Ihnen den Charakter als Kaiserlicher Wirklicher Geheimer Rath mit dem Prädikat: „Excellenz" zu verleihen. Euerer Excellenz beehre ich mich die unter dem 23. April d. J. Allerhöchst vollzogenen Urkunden anliegend zu übersenden. Ew. Excellenz wissen schon aus meinen mündlichen Mittheilungen, wie sehr ich mich freue, dafs Seine Majestät der Kaiser durch diese Auszeichnung Hochdero Verdienste von Neuem anerkannt haben und wie lebhaft ich wünsche, dafs Gott Ihnen für lange Zeit Gesundheit verleihe, um Ihre langjährige Arbeit an der Herstellung und Befestigung des Reichs auch in der Stellung eines ersten Richters im Reich fortzusetzen. gez.: Fürst von Bismarck.

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gebung und Rechtspflege, in erster Linie bei dem Zustandekommen des BGB. und bei der Ueberleitung des alten in das neue Recht, sind noch in so frischer Erinnerung, dass wir namens des Juristenstandes die zuversichtliche Hoffnung aussprechen, es möge dem Jubilar noch lange Zeit vergönnt sein, in gleicher geistigen und körperlichen Frische für Wissenschaft und Praxis zu wirken.

Personalien. An Stelle des in den Ruhestand getretenen Justizministers, Exz. von Amsberg, wurde Landgerichtspräsident Dr. Langfeld, Schwerin, zum Staatsrat und Vorstand des mecklenburgisch-schwerinschen Justizministeriums ernannt. Langfeld war seit dem 1. Januar 1900 Präsident des Landgerichts in Schwerin, vorher ebenda Geh. Ministerialrat und seit einer Reihe von Jahren auch stellvertretender Bundesratsbevollmächtigter. Er ist literarisch bekannt geworden durch die im Jahre 1886 erschienene Schrift über das Retentionsrecht und veröffentlichte 1899 einen Kommentar zu den von ihm ausgearbeiteten meckl. Ausführungsgesetzen zum BGB. Der Senatspräsident beim Reichsmilitärgericht von Koppmann, Berlin, trat in den Ruhestand. Privatdozent Dr. Burchard, Berlin, wurde zum Professor an der Akademie zu Posen, Privatdozent Dr. Egger, Berlin, zum aord. Professor in Zürich ernannt. Oberlandesgerichtspräsident von Plehwe, Königsberg i. Pr., 24. September seinen 70. Geburtstag.

feierte

am

Neue Gesetze, Verordnungen u. dgl.

Preufsen: M.-Erl. v. 1. 5. 1904, bt. Ausf. - Anweisg. z. Gew.-O. (M.-Bl. f. inn. Verw. S. 201). — M.-Vf. v. 25. 6. u. 1. 7. 1904, bt. Gefangenen Sammeltransporte auf Eisenbahnen (S. 214). M.-Vf. v. 2. 5. 1904, bt. Führg. d. Binnenschiffsregister (S. 218). Baden: Ges. v. 24. 8. 1904. bt. Abänd. der Verfassg. (G.Vo-Bl. S. 339). Ges. v. 24. 8. 1904, bt. d. Verfahren b. d. Wahlen z. Ständeversamml. [Landtagswahlges.] (S. 347). M.-Bk. v. 26. 8. 1904, bt. die Verfassgsurkunde. (S. 374). Hessen: M.-Bk. v. 25. 8. 1904, bt. Rechtshilfeverkehr m. Bosnien u. d. Herzegowina (A.-Bl. d. M. d. Just. No. 17).

u.

Oldenburg: M.-Bk. v. 12. 8. 1904, bt. Aend. der z. Ausf. d. Impfges. v. 5. 7. 1900 erlass. Bestimgn. (Ges.-Bl. S. 177). Vo. v. 17. 8. 1504 z. Ausf. d. Seemannsordn. v. 2. 6. 1902 (S. 178). — M.-Bk. v. 24. 8. 1904, bt. Verpflichtg. z. Anzeige übertragb. Krankhtn. (S. 179).

Sachsen-Meiningen: Vo. v. 9. 7. 1904, bt. Kraftloserklärg. v. Schuldbüchern (Einlagebüch., Sparbüch.) (Sml. d. Vo. S. 277). — M.-Ausschrb. v. 25. 7. 1904, bt. Beschränkg. d. Aufenthalts poln. Arb. russ. u. österr. Staatsangehörgk. (Sml. d. Ausschrb. S. 119). Gotha: Waldschutzges. v. 19. 7. 1904 (Ges.-S. S. 91). - Vo v. 1. 7. 1904, bt. Einrichtg. der Vermessungsregister (S. 97). Schwarzburg-Sondershausen: M.-Bk. v. 8. 8. 1904, bt. die erste jurist. Prüfg. (Ges.-S. S. 275). 17. 8. Lübeck: Bk. v. 1904, bt. Lübeckische Hafen- u. Re23. 8. vierordng. (Sml. d. Ges. u. Vo. No. 72).

Sprechsaa l.

Der erste Präsident des Reichsgerichts. Es war eine glückliche Fügung, dafs Eduard von Simson zum ersten Präsidenten des Reichsgerichts ernannt wurde. So unzweifelhaft richtig es ist, dafs bei der Besetzung der Richterstellen, auch der höchsten, im allgemeinen politische Rücksichten nicht den Ausschlag geben sollen, so verhielt sich dies doch bei der Wahl des ersten Reichsgerichtspräsidenten ausnahmsweise anders. Denn die Errichtung des obersten Reichsgerichts selbst war eine Tat von hochpolitischer Bedeutung, die weit über das Gebiet der Gerichtsverfassung hinaus ihre Wirkungen äusserte.

Nicht überall in Deutschland wurde diese Erweiterung der Zuständigkeit des Reichs mit Sympathie begrüfst; althergebrachte Institutionen und nicht ganz unberechtigte partikularistische Interessen fielen der neuen Reichsbehörde zum Opfer. Die obersten Landesgerichte standen überall in hohem Ansehen; sie waren die Hüter und Pfleger der Landesrechte. Dem Reichsoberhandelsgericht war es durch seine glänzende Rechtsprechung allerdings gelungen, sie alle zu überragen; aber seine Urteile hatten es im wesentlichen mit der Auslegung eines für das ganze Reich gelten

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