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kauft er das Haus und läfst sich vom Käufer in einem schriftlichen Vertrage den Verzicht des Käufers auf Mängelgewähr aussprechen. Wieder ein Jahr später macht der Käufer geltend, in dem Hause befände sich der Schwamm, der Verkäufer habe den Mangel arglistig verschwiegen, „denn er habe, durch die Reparaturen aufmerksam gemacht, von dem Mangel Kenntnis haben müssen“.

Ich glaube zwar, dafs in diesem Falle auch das Reichsgericht den Ausschluss der Mängelgewähr nicht für nichtig erklären würde; aber die Gefahr liegt nahe, dass eine „zielbewusste Rechtsprechung" sich zur ausdehnenden Auslegung der in dem angeführten Reichsgerichtsurteile niedergelegten Anschauung verleiten läfst. Vor solcher Auslegung mufs aber gewarnt werden. Denn sie wird dazu führen, dafs dem Verzicht auf Mängelgewähr gerade in den Fällen die Wirksamkeit abgesprochen wird, in denen der Verkäufer berechtigterweise durch den Verzicht allen zukünftigen Eventualitäten aus dem Wege gehen will.

Vergeltungsstrafe und Zweckstrafe.

Vom Professor Dr. M. Liepmann, Kiel. „Die innere Unhaltbarkeit der Vergeltungsidee kann gar nicht deutlicher demonstriert werden als durch den Fall Dippold und durch seine Besprechung) von seiten der Anhänger dieser Idee "

Diese Ausführungen des Prof. v. Liszt in No. 23 d. Benthalten eine allgemeine und so scharfe Anklage gegen die Vergeltungsstrafe, dafs eine Erwiderung geboten ist; - vielleicht wird eine. Verständigung unter den Streitenden erleichtert, wenn an Stelle des unmittelbar angegriffenen Prof. v. Rohland2) ein anderer Anhänger der Vergeltungsstrafe die Verteidigung übernimmt.

Es wäre bedauerlich, wenn gerade der Streit um den Fall Dippold zu einem Streit über die grundsätzlichen Ziele der Strafe auswachsen sollte. Dazu ist ein so ungeheuerlicher und atypischer Tatbestand, ein Fall, dessen erregende Wirkung auf unser Gefühl auch dem Juristen nur zu leicht die Kreise ruhiger Beurteilung zu stören vermag, sehr wenig geeignet. Wer als Kriminalist dem Fall nachdenkliche Beachtung schenkt, kann m. E. nur eines aus ihm lernen: Wir haben über den ewigen Plänkeleien darüber, ob die Strafe der Vergeltungsidee oder dem Zweckgedanken dienen soll, das wirkliche Problem, nach welchen Gesichtspunkten die Strafe im einzelnen Fall zuzumessen ist, so gut wie unerörtert, jedenfalls ungeklärt gelassen. Für diese Frage aber ist bitter wenig damit gesagt, dafs man Anhänger der einen oder der anderen Richtung ist, sondern es hängt alles davon ab, in welchem Sinne man „die viel mifsbrauchten Schlagworte" der Ausdruck stammt von Liszt3)

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verwendet, und in welchem

1) v Rohland in No. 21 1903 d. Bl; Stoofs in No. 22 d Bl. 2) Nur gegen diesen richtet sich v. Liszts Angriff.

3) Gutachten zum 26. Deutschen Juristentage 1902 S. 271. Vergl. auch sein Lehrbuch des Strafrechts 12. Aufl. 1903: „Dafs Vergeltungsstrafe und Zweckstrafe keine Gegensätze sind, erhellt schon daraus, dafs die Vergeltung als Strafzweck gesetzt werden kann." S. 83.

Masse man ihnen praktischen Einfluss bei der Strafzumessung zusprechen will. Das lässt sich gerade aus den Lisztschen Erörterungen des Falles Dippold deduzieren.

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v. Liszt fordert de lege ferenda lebenslängliche Internierung solcher Delinquenten. Dagegen wäre nicht das mindeste einzuwenden: Der Fall ist denkbar schwer gelagert, ein langsames zu Tode Martern, das an Tiefe der Verschuldung m. E. den sog. qualifizierten Totschlag des § 2141) sogar übertrifft und daher mit der hier zulässigen lebenslänglichen Zuchthausstrafe durchaus nicht zu strenge bestraft würde. Ich glaube auch nicht, dass v. Rohland irgend einen Einwand gegen eine gesetzliche Straferhöhung dieser Art erheben würde. Denn er hat ja in seinem Aufsatz die Unzulänglichkeit nicht blofs der erkannten Strafe (acht Jahre Zuchthaus), sondern auch des gesetzlich zulässigen Maximums von 15 Jahren Zuchthaus hervorgehoben. Nur in der Begründung ihrer Forderungen scheint also ein Gegensatz zwischen ihm und v. Liszt zu bestehen. v. Rohland glaubt, dafs die Strafe dem Volksbedürfnis nach gerechter Sühne nicht entsprochen hat; nach v. Liszt vermifst das Volk etwas ganz anderes, als „den Vergeltungsgedanken unserer Herren Theoretiker". „Ich habe so fährt er fort in Gesprächen über den Fall, die ich mit Leuten aus allen Schichten, insbesondere auch auf dem Lande, geführt habe, regelmäfsig gefragt: „Würde es ihrem Rechtsbewusstsein entsprechen, wenn ein solches Scheusal, wie Dippold, für den ganzen Rest seines Lebens unschädlich gemacht würde?“ Die Antwort war darauf stets dieselbe: „Gewifs, das wäre das einzig Richtige" v. Liszt wirft v. Rohland „oberflächliche Beobachtung der Volkspsyche" vor. Ich will nicht untersuchen, ob sein Verfahren wirklich, wie er annimmt, tiefer bohrt die Art der Frage erinnert jedenfalls in typischer Art an berüchtigte Suggestivfragen des alten Inquisitionsprozesses. Eine Frage aber mufs v. Liszt entgegengehalten werden: Ist die von ihm hervorgerufene Antwort in der Tat aus dem „Zweckgedanken" zu erklären, ist sie nicht vielmehr ein höchst charakteristisches Produkt des Vergeltungsbedürfnisses, und zwar in der rohesten Form undisziplinierter Rachegefühle, die in solchen Fällen am liebsten die sofortige Vernichtung des Verbrechers fordern? Ist das wirklich „Rechtsbewusstsein oder die Empörung des Augenblicks, vergeltende Lynchjustiz? Niemand kann, so glaube ich, über die Beantwortung dieser Fragen im Zweifel sein. Gewifs hat die Tat des Dippold seine Gemeingefährlichkeit bewiesen; hat sie aber irgend einen Beweis dafür gebracht, dafs diese Gemeingefährlichkeit bis an sein Lebensende bestehen wird? Niemand kann das behaupten, niemand kann wissen, ob nicht das Zuchthaus vielleicht schon nach wenigen

1) Wer bei Unternehmung einer strafbaren Handlung, um ein der Ausführung entgegentretendes Hindernis zu beseitigen oder um sich der Ergreifung auf frischer Tat zu entziehen, vorsätzlich tötet, wird mit Zuchthaus nicht unter 10 Jahren oder mit lebenslänglichem Zuchthaus bestraft."

Jahren aus dem rohen Gesellen einen stillen, gebrochenen Mann gemacht hat, in dem jede sadistische oder ähnlich geartete Grausamkeitsregung zum Erlöschen gebracht ist. Wollen wir also den Dippold lebenslänglich einsperren, so berechtigt uns dazu keinerlei Erfahrung über seine Unverbesserlichkeit, sondern allein das Urteil, dafs er durch sein Verhalten eine so tiefe und erbarmungslose Schuld auf sich geladen hat, dafs er dauernde Ausstofsung aus der menschlichen Gesellschaft verdient. Das aber wäre Vergeltung: freilich nicht besinnungsloses Wüten gegen ein „Scheusal", wohl aber eine der Schwere der Verschuldung und ihrer Wirkungen entsprechende Ausgleichung im Dienste des Rechts!

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Ob allerdings eine solche Reaktion berechtigt oder zu streng ist, darüber kann uns der Vergeltungsgedanke allein eine Auskunft, die jeden Zweifel ausschliefst, gewifs nicht verschaffen. Denn dieser Gedanke ist zwar ein sicher leitendes regulatives Prinzip, aber kein Zauberwort, das mit einem Schlage alle Probleme löst. So ist es, namentlich bei unserer mangelhaften Kenntnis der Verbrechens wirkungen und des psychischen Einflusses der Strafe, gewiss kein Wunder, wenn unsere Urteile über die konkrete Zumessung der Strafe trotz Einheit des zugrunde gelegten Prinzips stark von einander differieren können. Kann ein Prinzip' kläglichere Ergebnisse liefern"? so fragt von Liszt, und mancher wird geneigt sein, ihm zuzustimmen. Die Meinung schwindet aber, sobald man die Gegenprobe anstellt und untersucht, ob denn die Anwendung des Zweckgedankens in der Strafe unanfechtbare, zweifelsfreie Handhaben für die Strafzumessung bieten kann. Für eine solche Untersuchung kann man von einem so abnormen Fall, wie dem vorliegenden, ganz absehen, denke sich vielmehr einen rückfälligen arbeitsscheuen Dieb oder den Urheber eines schweren Sittlichkeitsdelikts. Die sollen nun nach Mafsgabe ihrer sozialen Gefährlichkeit bestraft werden, d. h. also so lange interniert bleiben, als sie nicht gebessert oder abgeschreckt sind. Das klingt sehr einleuchtend, ist aber in Wahrheit gar nicht durchzuführen. In einer gut geleiteten Strafanstalt können die Verbrecher an intensive Arbeit gewöhnt werden und eine Disziplinierung ihrer Triebe und Leidenschaften lernen. Leider aber schafft die Einzelzelle ganz besondere, dem Leben aufserhalb der Anstalt gar nicht vergleichbare Bedingungen: Die Hausordnung erspart ihnen jedes selbständige Denken, die Disziplin erzwingt die Leberwindung von Trägheitsanwandlungen und nötigt zu geregelter, ausdauernder Arbeit, und es fehlt schliefslich jede Gelegenheit oder auch nur Möglichkeit für Zügellosigkeiten ihres Trieblebens! Daraus folgt, dafs sich auf Grund der in der Strafanstalt gemachten Beobachtungen niemals sicher bestimmen läfst, ob und wann der Dieb, der Notzüchter etc. durch die Strafe so weit gefestigt sind, dafs sie sich auch draufsen" bewähren werden. Und nun bedenke man: dem Richter oder den Beamten des Strafvollzuges wird

die Macht gegeben, Freiheitsstrafen zu verkürzen oder zu verlängern nach ihrem Urteil über die Gemeingefährlichkeit der Inhaftierten. Dieses mafslose Vertrauen in die „Menschenbeurteilung der staatlichen Behörden" 1) ist doch nicht etwa dadurch zu rechtfertigen, dafs diese der Regel nach ideale Menschenkenner sind, und gewifs nicht berechtigt, weil das entscheidende Urteil leicht und sicher abzugeben sei. Im Gegenteil: die Kriterien, nach denen wir die Gemeingefährlichkeit der verschiedenen Delinquenten bestimmen sollen, sind völlig dunkel. Nur eins können wir mit Sicherheit sagen, dass gerade die Erfahrungen in der Strafanstalt eine denkbar ungünstige Grundlage für die mafsgebende Beurteilung abgeben. abgeben. Mit anderen Worten: eine heillose, gar nicht zu beseitigende Unsicherheit und Willkür würde die Folge einer konsequenten Durchführung der Zweckstrafe sein. Der Vorwurf Liszts, dafs die Vergeltung uns zwar sagen kann, dafs gestraft werden soll, dagegen nicht, wie die Strafe zu bemessen ist", lässt sich demnach den Anhängern der Zweckstrafe in vollem Umfange zurückgeben. Ja, er trifft in Wahrheit nur diese. Denn die Vergeltungsidee fordert Ausgleichung der durch die Tat schuldhaft erzeugten rechtsschädlichen (psychischen) Wirkungen. Das sind zwar recht schwer feststellbare, aber immerhin doch vergleichbare und objektiv abzugrenzende Kriterien. Der zu Ende gedachte Zweckgedanke aber lehnt entweder die definitive Straffixierung bei der Verurteilung überhaupt ab und verweist sie in das Stadium des Strafvollzuges, d. h., wie gezeigt ist, in ein Stadium, in dem die Entscheidung niemals sicher zu geben ist. Oder aber er reagiert gegen die durch die konkrete Tat bewiesene Gemeingefährlichkeit des Täters mit einer bestimmten, bei der Strafzumessung zu fixierenden Strafe. Dann geht er eine gute Strecke Weges mit dem Anhänger der Vergeltungsstrafe zusammen; ja, wenn er die Gemeingefährlichkeit nur, soweit sie dem Täter zur Schuld zuzurechnen ist, bestrafen will, so teilt er den ganzen Weg mit ihm. In jedem Falle also ist für Fragen der konkreten Strafbestimmung eine Vereinigung zu gemeinsamer Arbeit notwendig; denn auch das Wort Gemeingefährlichkeit" schüttet uns wir haben es gesehen keine sicheren Ergebnisse mühelos in den Schofs!

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Schnell kann über den Vorwurf Liszts hinweggegangen werden, dafs die Vergeltungsidee ohne. die Prügelstrafe nicht auskommen" könne. Ich teile V. Rohlands Vorschlag, die Freiheitsstrafe des Dippold und ähnlich grausamer Verbrecher durch Prügel zu verschärfen, keineswegs. Die besonnenen Bedenken, die Stoofs (No. 22) nach dieser Richtung geäufsert hat, entsprechen durchaus meiner Ansicht. Daraus allein kann man entnehmen, dafs die Prügelstrafe kein Produkt der Ver

1) Hierauf würde nach Richard Schmidt, Aufgaben der Strafrechtspflege S. 141, eine den Zweckgedanken konsequent durchführende Strafjustiz ruhen.

geltungsidee ist. Bedarf das wirklich noch des Beweises? Soviel mir bekannt ist, hat man Prügel stets empfohlen, weil man sich davon eine besonders abschreckende oder gar bessernde Wirkung versprochen hat. Die Anhänger der Vergeltungsidee können also auch in dieser Frage das ihnen Zugeschobene mit freundlichem Dank zurück-. schieben.

Die letzte von Liszt aufgeworfene Frage betrifft die Behandlung der gemeingefährlichen vermindert Zurechnungsfähigen. Das ist gewifs das schwerste Problem, das uns der Fall Dippold, wenn auch nicht neu, so doch aufs neue aufwirft, und es kann nicht geleugnet werden, dafs es v. Rohland in seinem Aufsatz etwas zu leicht behandelt hat. In dem Rahmen dieser Bemerkungen kann auch ich es lediglich streifen. Ich bin nicht der Meinung v. Liszts, dafs man Dippold lebenslänglich im Zuchthaus unschädlich machen soll, auch wenn er vermindert zurechnungsfähig ist. Der Vergeltungsidee würde diese Forderung nicht widersprechen: Das zeigt ihre ursprünglichste Form, die Rache, die ohne Rücksicht auf Schuld und Schuldfähigkeit, lediglich nach dem Mafs des erlittenen Schmerzes trifft. Wohl aber dem Gedanken der durch die moderne Rechtsstrafe zu übenden Vergeltung: Diese will allerdings nur gegen sozialschädliche Pflichtwidrigkeit und also nach dem Mafse betätigter Schuld reagieren. Dabei ist aber keineswegs unsere Meinung, dafs man solche gemeingefährliche Minderwertige nach Verbüfsung der Strafdauer wieder als wilde Tiere auf die menschliche Gesellschaft loslassen" könne, wie Liszt uns zumutet. Im Gegenteil, der Staat und die Organe des Sicherheitsdienstes sollen sie mit gröfstmöglicher Sorgfalt und Intensität überwachen und sie, wenn es der Sicherung der Gesellschaft halber sein mufs, in staatliche Detentionshäuser stecken. Nur soll man sie nicht mit dem Masse voll zurechnungsfähiger Verbrecher messen und behandeln und den untauglichen Versuch unternehmen, sie einem straffen und zielbewussten Strafvollzug zu unterwerfen, nur soll man sie nicht ins Zuchthaus weisen. Ist das nun wirklich nur ein Unterschied der Etikettierung, eine weltfremde Forderung der „Herren Theoretiker"? Ich glaube nicht, und ich wundere mich, dafs gerade Liszt diese Auffassung vertritt. Seiner Energie ist es ja in erster Linie zu verdanken, dafs uns die Mängel eines schablonenhaften Strafbetriebes zum Bewusstsein gekommen sind, dafs sich jetzt allerorten im Deutschen Reiche der ernste Wille zeigt, die Vollstreckung der Freiheitsstrafen fruchtbringend zu individualisieren! Und Liszt weifs so gut wie ich, dafs unsere einsichtigen Strafanstaltsbeamten überall bewegliche Klagen erheben. über das grofse Heer geistig Gestörter und hochgradig Defekter in unseren Strafanstalten, dass es unmöglich sei, sie in zweckmälsiger und gerechter Weise zu behandeln, sondern dass man immer wieder der Gefahr ausgesetzt ist, sie durch unvernünftige Dis

ziplinarmafsregeln völlig physisch und intellektuell zugrunde zu richten!

Ich breche ab. Liszts Kriegsruf erforderte eine Erwiderung. Gewifs nicht, um den Streit der beiden Richtungen aufs neue zu entfachen. Mein Streben ging vielmehr dahin, unberechtigte Angriffe gegen die Vergeltungsstrafe abzuwehren, dann aber vor allem, zu zeigen, dafs der Zweckgedanke, ebenso wie die Vergeltungsidee lediglich Hülsen darstellen, von denen jede einen ganz verschiedenen Inhalt in sich schliefsen kann. So möge man endlich aufhören, über diese Hülsen zu streiten; sonst entsteht die Gefahr, dafs darüber die dringend gebotene Reform des Strafrechts vertagt wird ad calendas Graecas.

Das Vertrauen in die Rechtspflege.,

Vom Amtsrichter Herold, München.

Es erben sich Gesetz und Rechte
Wie eine ew'ge Krankheit fort;

Sie schleppen von Geschlecht sich zum Geschlechte
Und rücken sacht von Ort zu Ort.
Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage;
Weh' dir, dafs du ein Enkel bist!
Vom Rechte, das mit uns geboren ist,
Von dem ist leider nie die Frage.

Dieser mephistophelische Ergufs über den negativen Wert der Rechtspflege vor beinahe einem Jahrhundert zum erstenmal in der Oeffentlichkeit vorgetragen hat seitdem unzählige Wiederholungen in allen möglichen Tonarten erlebt. Es geht ein Raunen durch das deutsche Volk vom begründeten Mifstrauen in die Rechtspflege, von bewusster Rechtsbeugung. Das Wort von der Unsicherheit der Rechtspflege und dem deshalb begründeten Misstrauen des Volkes wird zum Schlagwort geprägt und in die Massen geworfen, dafs es zünde und der schon lange aufgehäufte Stoff hell auflohe und ein Feuerzeichen sei den Harrenden, dafs ein Grund mehr zum Herbeiführen des grofsen Endes da und die gute Zeit nicht mehr ferne ist.

Die Tageszeitungen voran ergreifen gierig jeden „Fall", aus dessen Veranlassung der Rechtspflege etwas, am Zeuge geflickt werden kann; die Witzblätter nehmen sich der Sache in bereitwilligster Weise an, jeden Fall breitzutreten und zu verallgemeinern. Sogar die Jugend" brachte kürzlich ohne Kommentar, aber mit um so beifsenderem Spotte Stellen aus dem BGB. als Beispiel für den mephistophelischen Satz: „Vernunft wird Unsinn". Das Volk erklärt resigniert, dafs es sich nimmer auskenne, was Recht und was Unrecht ist; es tappt im Finstern. Dazu kommt, dafs es das Gefühl hat, schutzlos dem Staat und seinen Vertretern ausgeliefert zu sein; das ist ja gerade die richtige Stimmung für solche Schlager, wie der vom Schwinden des Vertrauens in die Rechtspflege einer ist.

Woher kommt das Mifstrauen? Inwieweit ist dasselbe gerechtfertigt? Was kann zur Besserung geschehen?

Für die menschlichen Lebensverhältnisse, zumal

für das Zusammenleben im Gemeinwesen des Staates, ist das Recht von fast ebenso grofser Bedeutung wie die Gesundheit. Sein ganzes Leben lang und man kann wohl sagen ununterbrochen steht der Mensch in Rechtsbeziehungen, teils passiven, teils aktiven.

An diesen Rechtsbeziehungen ist alles bis aufs kleinste genau geregelt; das Rechtsleben rollt in den vorgezeichneten Bahnen hin, ohne dafs die meisten eine Ahnung davon haben, wie kompliziert der Organismus ist, dem sie das ruhige, sichere Hingleiten ihres Lebens verdanken. Die meisten nehmen die Wohltaten des Rechtsstaates hin, ohne zu fragen, warum und woher; sie sind an den Genufs dieser Wohltaten so gewöhnt, dass diese ihnen gar nicht mehr als solche erscheinen; gedankenlos nehmen sie, was ihnen der Rechtsstaat bietet. Erst wenn sich ein Konflikt ergibt, läfst sich der ruhige Staatsbürger aus seiner Schlafmützigkeit aufrütteln, und dann ist er erstaunt, dafs von zwei Streitenden immer nur einer Recht haben kann und Recht bekommt.

Ist nun gerade er derjenige, der nicht Recht bekommt, dann ist die Unzufriedenheit da; dann kann man harte Worte hören über Ungerechtigkeit und Parteilichkeit, über Rechtsbeugung, über die zur unrechten Zeit offenen und zur unrechten Zeit geschlossenen Augen der Justitia.

Wie verschieden stellen sich die meisten Menschen zu den Vertretern der Medizin und den Vertretern der Rechtspflege! Wenn eine Krankheit irgendwo einkehrt, so weifs man gewöhnlich doch das Allernotwendigste, wie man sich diesem ungebetenen Gast gegenüber zu verhalten hat; der Arzt findet Glauben und Vertrauen. Wenn aber irgendwo die einfachste Rechtsfrage auftaucht, dann ist alles ratlos; der Richter findet keinen Glauben und kein Vertrauen. Man beugt sich schliefslich dem Spruch, aber nur ungern, und einer mehr ist da, der bereit ist, jenes Schlagwort mit Herz und Hand zu verteidigen.

Zwei Ursachen sind es meiner Meinung nach hauptsächlich, welche den Grund für das Mifstrauen des Volkes in die Rechtspflege abgeben. Man kann sie bezeichnen als das materielle und formelle Inferioritätsgefühl der grofsen Masse.

Es besteht in fast allen Nichtjuristenkreisen, den Kaufmannsstand vielleicht nicht inbegriffen obwohl auch dieser Stand hiezu ein grofses Kontingent stellt, eine oft geradezu haarsträubende Unkenntnis alles dessen, was Rechtens ist. Nicht aber, als ob man dieser Unkenntnis in rechtlichen Dingen nur bei den unteren Schichten begegnete, sie herrscht auch bei den sog. gebildeten Ständen vor. Die Begriffe, z. B. Vertrag, Hypothek, Zession etc., sind den meisten wohl dem Klange des Wortes nach bekannt; ihr Wesen aber, ihre auch nur oberflächlichsten Kriterien sind ihnen fremd. Die Anzeichen einer Krankheit sind den meisten bekannt, sogar die gewöhnlichsten Heilmittel erfreuen sich allgemeiner Kenntnis. Wie man aber sein gutes

Recht verfolgt, wie man sich vor fremder Gewinnsucht schützt, das ist den meisten ein Buch mit sieben Siegeln.

Man kann selbstverständlich vom Laien nicht eine intensive Gesetzeskenntnis verlangen; diese Gesetzeskenntnis und das ideale Durchdringen des Riesenstoffes mufs immer dem Juristenstande vorbehalten sein; denn die Rechtskunde ist eine Wissenschaft, die eines Menschen Geisteskraft völlig für sich in Anspruch nimmt.

Ich möchte also nicht mifsverstanden werden, als ob ich massenhaft Laienjuristen herangebildet wissen wollte. Nur soviel sollte man erreichen können, dafs die Erkenntnis durchdringt, dafs Recht und Gesetz die einzigen Faktoren sind, auf denen die Rechtspflege basiert. Auch der leiseste Schein des Eingreifens anderer Machtfaktoren mufs ängstlich vermieden und die Ueberzeugung gefestigt werden, dafs vor dem Gesetz auch in der Person keine Unterschiede bestehen. Die Unkenntnis alles dessen, was Rechtens ist, bildet den Nebel, der sich um die Augen der Masse legt, dafs sie alles, was mit der Rechtspflege zusammenhängt, nur in unklaren und verschwommenen Umrissen sieht.

Dabei ist aber die in ihrem Unwissenheitsnebel steckende Masse der felsenfesten Ueberzeugung, dafs alles, was mit der Rechtspflege zusammenhängt, hinter einem dichten Vorhang sich abspielt. Die Unrichtigkeit dieser Ueberzeugung der Masse beizubringen, ist die Aufgabe.

Ist die Unkenntnis der einfachsten juristischen Dinge der eine der Gründe des Mifstrauens, so ist ein anderer Grund das eigentümliche Verhältnis, in dem die grofse Masse zu denen steht, welche berufsmäfsig die Rechtspflege ausüben.

Das objektive Recht hat seine Quelle im Staat. Der Staat bedarf Menschen, die ihn repräsentieren und die vom Staat gesetzten Normen durchführen. Diese Personen, die Beamten, erhalten vom Staate auch die Autorität übertragen, kraft deren sie in die Lage versetzt sind, die von ihrer Autoritätsquelle gesetzten Normen, eventuell zwangsweise, durchzuführen. Mit dieser Autorität ausgerüstet, tritt der Beamte zu dem Rechtsuchenden. Das Recht ist diesem aber ein Buch mit sieben Siegeln, das ihm eine Geheimkunde des Juristenstandes dünkt.

Nun entspricht das objektive Recht nicht gerade immer dem sogenannten Rechtsgefühl des Volkes. Liefse man dieses Rechtsgefühl allein walten, so käme man oft zu salomonischen Urteilen, nicht aber zu solchen, welche dem objektiven Recht entsprechen. Mag dann der Rechtsspruch fallen, wie er will: Er verletzt des einen Rechtsgefühl. Diese scheinbare Rechtsverletzung auf Grund ihm unbekannter Rechtssätze bringt den einen dazu, dass er einfach dieses Unbekannte verdammt und damit zugleich denjenigen, der diesem Unbekannten zur Geltung verhilft, den Richter und seine Autorität. So entwickelt sich im Volke das Gefühl der materiellen und formellen Inferiorität, dieser falsche Glaube an einen Gegensatz zwischen Volk und Staat.

Die Masse erkennt im Richter nicht den Vollstrecker ihres eigenen Willens; er erscheint ihr vielmehr als feindliches Element, das nicht zum Nutzen und für das Volk, sondern zum Schaden des Volkes und zum eigenen Nutzen existiert.

Aus dem Gefühl der materiellen und formellen Inferiorität erwächst die Empfindung des Gegensatzes. Aus dieser Empfindung entwickelt sich die Empfindlichkeit, das Gefühl des Gekränktseins, der Schutzlosigkeit, des Preisgegebenseins. Die Empfindlichkeit gibt dann für geistig Minderwerte und politisch Unreife den besten Boden ab zur Kultur solcher Schlagworte, wie das vom Mifstrauen des Volkes in die Rechtspflege eines ist.

Viele Richter fassen ihre Mission falsch auf.

Der Richter soll über den Parteien stehen, aber nicht gegenüber. Ich glaube, dafs gerade hieraus auch das Bestreben einzelner Interessenkreise stammt, ihre Standesgenossen als Richter bei ihren Prozessen zu sehen. Das Gegenüberstehen, das Erhabenheitsgefühl ist aber nur das Zeichen davon, dafs die formelle Autorität des Richters als Hauptinhalt des Richterberufes angesehen wird, während sie doch nur die allerdings unentbehrliche Form für den Sinn des Richterberufes ist. Darum findet man dieses Erhabenheitsgefühl mehr bei jüngeren Richtern als bei älteren und abgeklärten.

Es ist nicht zu leugnen, dafs viele Richter den hier vertretenen Standpunkt nicht einnehmen und sich für etwas Höheres halten als den Laien. Es sollte aber gerade bei ihnen die Ueberzeugung Platz greifen, dafs der Richter nicht auf den Höhen der Menschheit wandelt, sondern mitten in der armen, oft schwer ringenden Menschheit drinnen steckt.

Noch einen Punkt möchte ich nicht unerwähnt lassen, der vielfach mit dazu beitragen mag, das Vertrauen des Rechtsuchenden wankend zu machen. Ich meine den Mangel an Kenntnissen des realen Lebens, an naturwissenschaftlichen, landwirtschaftlichen und technischen Kenntnissen, an Kenntnissen über die Vorgänge in Handel und Verkehr. Freilich kann der Richter nicht überall detaillierte Sachverständigen-Kenntnisse besitzen, aber manches Mal ist das Staunen der Parteien über die Naivität des Richters tatsächlich begründet.

Solcherlei sind die Gründe des Mifstrauens des Volkes in die Rechtspflege und des eingebildeten Gegensatzes zwischen Volk und Staat. Man kann die Vertreter der Rechtspflege nicht ganz freisprechen von der Mitwirkung an der Entstehung dieses Gegensatzes. Es ist aber auch von seiten gewisser Demagogen unverantwortlich und gewissenlos, derartige, auf falschen Voraussetzungen beruhende Gefühle zu nähren und auszunützen, statt sie mit wirksamen Mitteln zu bekämpfen. Wie hat dem entgegen doch die Autorität des Arztes in den letzten 50 Jahren zugenommen! Nicht die wissenschaftlichen Errungenschaften allein haben dies bewirkt; ein Hauptmittel war die Aufklärung. Mit Vorträgen, mit Broschüren, mit hygienischen Zwangsmitteln sogar drang die Aufklärung vom Sprechzimmer des Arztes, vom Hörsale des

Dozenten ins Volk. Aufklärung ist das erlösende Wort. Mit Vorträgen, mit populär-wissenschaftlich geschriebenen Broschüren, mit Beteiligung der Rechtswissenschaft an den Volkshochschulen kann unendlich viel geschehen.

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Hat das Volk, die grofse Masse, einmal nur einige juristische Kenntnisse, und seien es auch nur solche grundlegender Natur, so entfällt schon das Gefühl, dafs mit etwas Unbekanntem, quasi mit Geheimparagraphen, vom Richtertische aus gearbeitet wird. Dann wird das jetzt auf dem Gefühle der formellen und materiellen Inferiorität beruhende Mifstrauen schwinden, denn dann erkennt das Volk, dafs, was am Richtertisch geschieht, nichts anderes ist als Anwendung von Recht und Gesetz. Steht aber das Volk dem Richter als wissend gegenüber, so wird es auch die Notwendigkeit der formellen Autorität des Richters verstehen und ihre Berechtigung anerkennen, es wird sich nicht mehr gedrückt fühlen, sondern in dem Richter lediglich den Vollstrecker seines, des Volkes, Willens erblicken. Zur 2 Aufklärung beizutragen, wären auch Volksanwälte geeignet, tüchtige Juristen, die, vom Staat besoldet, unentgeltlich dem rechtsuchenden Publikum an die Hand gehen. Freilich schneide ich damit eine heikle Frage an. Allein des Volkes Wohlfahrt erheischt, neue Formen zu finden, neue Wege zu gehen, die geeignet sein könnten, ihm zu nützen.

Eines würde verschwinden, die Crux der Rechtspflege, die leidige Winkeladvokatur, die mehr schadet, als man gemeiniglich denkt und merkt, die wie eine Pestbeule am Körper des rechtsuchenden Publikums hängt und seine guten Säfte, sein Geld und sein Vertrauen an sich zieht und verbraucht, aber nur für sich, nicht zum Nutzen der Rechtsuchenden.

Aufklärung, auch auf rechtlichem Gebiete, das ist das Verlangen, das gestellt werden und dem entsprochen werden mufs; dann wird das Vertrauen. des Volkes zur Rechtspflege wieder erstarken. Gewifs sind die Angriffe, welche die Rechtspflege zur Zeit erfährt, nicht allzu tragisch zu nehmen; grofsenteils sind es Tiraden, deren sich die bedienen, die da vor einer grofsen Menge prunken wollen, die sich den Schein des Märtyrers der guten Sache erwerben wollen, denen dabei nichts so heilig ist, dafs sie es nicht besudelten.

Aber ganz dart dies Zeichen der Zeit nicht übersehen werden, es möchte sonst zu spät sein.

Juristische Rundschau.

Das Züchtigungsrecht der Herrschaft gegenüber dem Gesinde macht wieder von sich reden. Durch Art. 95 EG. z. BGB. ist dasselbe beseitigt. Trotzdem war eine Verfügung des preufsischen Ministers des Innern v. 11. August 1898 ergangen, dahingehend, dafs § 77 der preufs. Gesindeordnung, wonach der Dienstbote für geringe Tätlichkeiten der Herrschaft keine gerichtliche Genugtuung fordern konnte, wenn er durch ungebührliches Betragen die Herrschaft dazu gereizt hat, nicht aufgehoben sei, weil er kein Züchtigungsrecht, sondern

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