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nach BGB. (§ 2224), bestehe auch nach gemeinem Recht die Regel, dafs in Ermangelung entgegenstehender Anordnungen des Erblassers bei dem Wegfall eines von mehreren Testamentsvollstreckern die andern (oder der andere) das Amt allein führen können, cap. 2 in VIo de testam. Folgerichtig müsse man annehmen, dafs dasselbe dann gelte, wenn es sich um den Abschluss eines Rechtsgeschäfts handle, an dem der eine von mehreren Testamentsvollstreckern in seiner Person liegender Gründe halber als solcher mitzuwirken dauernd verhindert sei. Es könne daher dahingestellt bleiben, ob die Vorschrift des § 181 BGB. überhaupt auf Testamentsvollstrecker Anwendung finde, in Ansehung deren es an einer Bestimmung, wie solche in Ansehung des Vormunds in § 1795 a. E. BGB. getroffen sei, feble. (Urt. III. 17/04 v. 21. Juni 1904.)

84. (Ist nach § 615 BGB. der anderweite Erwerb unbedingt oder nur für den Zeitraum, in den dieser fällt, anzurechnen?) Kläger hatte als Schauspieler mit der Verkl. als Schauspielunternehmerin einen Engagement-Vertrag auf die Zeit vom 15. Nov. 1901 bis 1. Febr. 1902 und vom 1. Sept. 1902 bis 1. Febr. 1903 geschlossen. Verkl. trat einseitig zurück. Kläger erwarb während der Vertragszeit in einem Monat (Jan. 1903) anderweitig durch Gastspiele in New-York 21 250 M. Infolgedessen fordert er von der Verkl. für diesen Monat das vertragsmässige weit geringere ihm garantierte Honorar nicht, dagegen für die übrigen Monate ohne Abzug 15350 M. Verkl. wendet ein, dafs er den gedachten Erwerb nach § 615 BGB. auch auf dies Honorar in Anrechnung zu bringen habe, und beantragt deshalb Abweisung der Klage. Die Vorinstanz hat verurteilt, nur unter Abzug weiterer 1600 M., die Kläger in anderer Tätigkeit während der übrigen Vertragszeit verdient hat. RG. hebt auf und weist den Anspruch ab. Die Beschränkung einer Anrechnung anderweitigen Erwerbs während der Vertragszeit, wie Kläger solche verlange, nach einzelnen Zeitabschnitten finde im Gesetz keinen Anhalt. Der Grund der Vorschrift sei, dafs der Dienstberechtigte nicht einen Gewinn auf Kosten des Dienstberechtigten machen dürfe. Nur die Beschränkung bestehe, dafs allein der Erwerb anzurechnen sei, der mittels des Teils der Arbeitskraft gemacht werde, welche dem Dienstherrn zur Verfügung zu stellen sei. Allerdings mache das BerGer. geltend, dafs die körperlichen und geistigen Anstrengungen einer überseeischen Gastspielreise gröfser gewesen seien, als wenn er im Inlande geblieben wäre. Kläger selber habe dies aber nicht geltend gemacht und es fehle an jedem tatsächlichen Anhalt für diese Annahme. Es könne deshalb unerörtert bleiben, ob es nach § 615 überhaupt auf das Mass der Arbeit bei gleicher Arbeitszeit ankomme. Es sei allerdings ferner richtig, dafs, wenn Verkl. zunächst für die Zeit bis Jan. 1903 dem Kläger sein vertragsmäfsiges Honorar gezahlt hätte, sie nicht nachträglich auf Grund des § 615 BGB. den späteren Verdienst des Klägers hierauf hätte in Anrechnung bringen können. Sie hätte aber in diesem Falle das Recht gehabt, das zuviel Gezahlte wegen grundloser Bereicherung zurückzufordern (§ 812 BGB.), wenn sie nicht etwa bei der Zahlung wufste, dafs dem Kläger der spätere Erwerb bevorstand (§ 814 BGB.). (Urt. III. 146/04 v. 12. Juli 1904.)

2. Strafsachen.

Mitgeteilt von Reichsgerichtsrat Unger, Leipzig. 60. (§ 313 Z. 1 HGB. Vollendung.) Die Ansicht der Rev., wissentlich falsche Angaben über die Einzahlung des Grundkapitals einer Aktiengesellschaft könnten erst dann im Sinne des § 313 als gemacht gelten, wenn der Registerrichter davon Kenntnis erlangt habe, wurde vom RG. zurückgewiesen. Der gesetzl. Tatbestand weist weder das Merkmal der Täuschung des Registerrichters noch seiner Kenntnisnahme auf. Aus dem Zweck

der Bestimmung in § 313 Z. 1 ergibt sich klar, dafs das Vergehen, falls eine schriftliche Anmeldung zum Handelsregister als Ausführungsmittel in Frage kommt, spätestens in dem Zeitpunkt sich vollendet, wo der Registerrichter im ordnungsmäfsigen Geschäftsgang die Anmeldung ent

gegennimmt, sobald er das Schriftstück in seinen amtlichen Gewahrsam erhält, einerlei, ob er sich mit dem Inhalt schon abgegeben hat oder nicht. (Urt. I. 6154/03 v. 16. Mai 1904.)

61. (§ 266 Abs. 4 StrPO. Urteilsbegründung.) Zur Begründung der Freisprechung nimmt die Strafk. Bezug auf die Gründe ihres früheren inzwischen in der Rev.Instanz aufgehobenen Urt., wonach ein Betrug oder Betrugsversuch nicht angenommen worden ist, und bezeichnet diese Gründe als nach wie vor stichhaltig. Die Rev. des StA. greift diese Bezugnahme auf Gründe eines andern Urteils als Verstofs gegen § 266 StrPO. an und steht damit in Einklang mit der Rechtspr. des RG. Weder ein Hinweis auf Urteile in anderen Sachen, noch auf die Anklageschrift, noch auf den Eröffnungsbeschlufs oder die in diesen aufgeführten Tatsachen (Entsch. in Strafs. Bd. 30 S. 144; Bd 4 S. 368, 137, 383; Bd. 23 S. 300) ist als dem § 266 entsprechend erachtet worden, und auch im vorlieg. Falle, wo allerdings das in Bezug genommene Urteil in derselben Untersuchung gegen dieselben Angekl. ergangen, auch in der neuen Hauptverhandlung verlesen ist, und wo es sich um die rechtliche Beurteilung der für erwiesen erachteten Tatsachen handelt, muís daran festgehalten werden, dafs aus den Urteilsgründen direkt zu ersehen sein muss, ob die freigesprochenen Angekl. für nicht überführt erachtet sind, oder ob und aus welchen Gründen die für erwiesen erachtete Tat für nicht strafbar erachtet worden ist. (Urt. I. 2341/04 v. 1. Juni 1904.) 62. (§ 267 oder § 363 StrGB.?) Angekl. hatte zwecks anderweiter Vermietung ein von ihm fälschlich angefertigtes Schriftstück vorgelegt, inhalts dessen sein bisheriger Dienstherr R. bescheinigte, „dass mein Kutscher A. sich von Neujahr 1904 anderweitig vermieten kann." Die Strafk. wendete § 363 StrGB. an, weil sie in dem Schriftstück ein auf Grund besonderer Vorschriften - der Gesindeordnung auszustellendes Zeugnis erblickte. Auf Rev. d. StA. hob das RG. die Entsch. als rechtsirrtümlich auf, weil die PrGesO. v. 8. Nov. 1810 nirgends die Ausstellung eines Zeugnisses mit solchem Inhalt vorschreibe, insbesondere nicht in § 9, der Dienstboten, welche schon vermietet gewesen, nur beim Antritt eines neuen Dienstes den auf irgend eine Weise zu erbringenden Nachweis der rechtmäfsigen Verlassung der vorigen Herrschaft" auferlege. Das Schriftstück würde im Falle der Echtheit den Verzicht des R. auf die Dienste des Angekl. von Neujahr 1904 an beweisen, also sich als eine zum Beweise von Rechten und Rechtsverhältnissen erhebliche Privaturkunde darstellen, der keine der Eigenschaften zukommt, die im § 363 aufgeführt sind. (Urt. IV. 743/04 v. 7. Juni 1904.)

63. (§ 249 StrPO. Verlesung eines Briefes.) Ausweislich des Sitzungsprotokolls wurde ein von der Zeugin H. an den Angekl. gerichteter Brief verlesen und, wie die Urteilsgründe sagen, dessen Inhalt für die Beweiswürdigung insoweit verwendet, als sich daraus ergibt, dafs sich die Zeugin in einem mehr wie freundschaftlichen Verhältnis zum Angekl, befindet. Diese Ausführung legt die Annahme nahe, dafs die Verlesung zu dem Zwecke erfolgte, die sachliche Richtigkeit der in ihr niedergeschriebenen Tatsachen darzutun, den Beweis von Tatsachen zu erbringen, die auf der Wahrnehmung der H. beruhten, um in dieser Hinsicht eine Vernehmung der Zeugin zu ersetzen Ein Verlesung des Briefes zu diesem Zwecke war unzulässig und verletzte den § 249 StrPO. (Urt. III. 2738/04 v. 9. Juni 1904.)

II. Kammergericht.

1. Zivilsachen.

Mitgeteilt von Landgerichtsrat Dr. Gumbinner, Berlin.

18. (Unzulässigkeit der weiteren sofortigen Beschwerde gegen landgerichtliche Beschlüsse über Kostenurteile der Amtsgerichte.)1) Die weitere Beschwerde ist unzulässig. Wenn der Grundsatz des § 99 Abs. 1 ZPO. (Anfechtbarkeit der Entscheidung über

1) Vgl. auch Jahrg. VIII S. 36.

die Kosten nur gleichzeitig mit der Anfechtung in der Hauptsache) in den Abs. 2 u. 3 dieses Paragraphen durchbrochen und in besonderen Fällen die Anfechtung der Kostenentscheidungen zugelassen wird, so ist hierin keine Erweiterung der Rechtsbehelfe hinsichtlich der Kosten gegenüber denjenigen, die für die Entscheidung in der Hauptsache gegeben wären, enthalten. Der Zusammenhang von Abs. 2 u. 3 mit Abs. 1 ergibt vielmehr, dass eine selbständige Anfechtung der Entscheidung über den Kostenpunkt nur dann zugelassen werden soll, wenn in der Hauptsache ein Rechtsmittel gegeben wäre. (Beschl. 15 Y. 1093/04 v. 28. Juni 1904.1))

2. Strafsachen.

Mitgeteilt vom Senatspräsidenten Lindenberg, Berlin. 44. (Sonntagsheiligung und Schankgewerbe.) Eine Pol.-Verord. verbietet den Betrieb des Schankgewerbes an Sonn- und Feiertagen während des Hauptgottesdienstes mit Ausnahme der Bewirtung ortsfremder Personen. Dass eine solche Bestimmung der materiellen Rechtsgültigkeit entbehrt, hat der Strafsenat bereits angenommen, besonders im Urt. v. 13. Febr. 1902 (Johow 24 C 98). Nur die äussere Heilighaltung des Sonntags kann nach dem Ges. v. 9. Mai 1892 geschützt werden. Nicht jede Art des Schankbetriebes ist geeignet, das religiöse Gefühl zu verletzen oder die innere Sammlung zu beeinträchtigen, sondern dies ist nur der Fall, wenn das Schankgewerbe in einer nach aufsen hin wahrnehmbaren Weise betrieben wird, die geeignet ist, die äufsere Heilighaltung zu stören. Die Strafk. hat also zutreffend angenommen, dafs das oben angegebene Verbot in seiner allgemeinen Fassung ungültig ist. Trotzdem verurteilt die Strafk. in der Erwägung, dafs der Strafbestimmung Rechtsgültigkeit mit bezug auf solche Handlungen innewohne, die nach aussen hin wirksam und geeignet seien, das religiöse Gefühl zu verletzen. Dies erscheint rechtsirrtümlich. Es ist nicht angängig, die rechtsungültige Bestimmung einer PolV. für gültig zu erklären, wenn der konkrete Fall einen Tatbestand darstellt, der durch eine gültige PolV. hätte getroffen werden können. Verstöfst eine PolV. materiell gegen eine gesetzliche Vorschrift, so ist sie ungültig und kann unter keinen Umständen zur Anwendung kommen. Ist eine PolV. wegen ihrer zu allgemeinen oder zu weiten Fassung ungültig, so ist sie auch nicht gültig auf dem besonderen oder engeren Gebiete, über welches zwar gültig verfügt werden durfte, in Wirklichkeit aber nicht verfügt worden ist. Das Verbot jeglichen Betriebes des Schankgewerbes ist etwas anderes, als das Verbot einer bestimmten Art des Betriebes. (Urt. S. 594/04 v. 9. Juni 1904.) 45. (Betteln durch Gesangsvorträge.) Der Begriff des Bettelns ist durch das StrGB. nicht festgelegt. Die Grundlage für die richterliche Entscheidung wird die Auffassung des täglichen Lebens sein müssen. Danach ist das Betteln im allgemeinen als die Handlung anzunehmen, durch die jemand die Mildtätigkeit eines Fremden anruft, der ihm gegenüber nicht einmal eine moralische Verpflichtung zur Unterstützung hat (s. RGEntsch. Bd. 20 S. 434). Dieses Anrufen ist aber nicht nur dann strafbares Betteln, wenn es in der Form einer ausdrücklichen Bitte als einer auf die Erlangung einer Gabe gerichteten Willenserklärung erscheint, es genügt vielmehr jede mögliche, durch konkludente Handlungen sich zeigende Willensäufserung dahin, ein Almosen von fernstehenden Personen zu erbitten. Mit dieser entweder ausdrücklichen oder aus den Umständen folgenden Bitte allein ist das Delikt vollendet, ohne dafs es noch auf den Erfolg des Bittens, das Geben und Nehmen der Gabe ankommt. Die Ansicht des Berufungsrichters, dafs in dem Verhalten der Angekl. ein Betteln nicht gefunden werden könne, weil sie niemals um eine Gabe angesprochen haben, auch dort nicht, wo sie gesungen haben, und weil ferner der Leistung der Geber der Geldstücke eine Leistung der Angekl. gegenüber gestanden habe, ist rechtsirrig. Denn die Strafk. hat nicht geprüft, ob nicht in der Art und Weise der unaufgefordert und ohne besonderen Anlafs dargebrachten Gesangsleistung 1) Vgl. jetzt auch Entsch. d. RG. Bd. 57 S. 310.

der Angekl, und durch die Leistung selbst im Publikum eine gleiche Deutung hervorgerufen werden sollte, wie durch ein wirkliches Ansprechen um eine Gabe. Der Revision des StA. ist dagegen zuzugeben, dafs ein solcher Gesangsvortrag sehr wohl eine Handlung sein kann, durch welche sich die Absicht, Mitleid zu erregen und Gaben zu erlangen, schlüssig zeigen kann. Das BerG, hätte feststellen sollen, aus welchen Motiven die Geber den Angekl. die Geldstücke gespendet haben, ob aus Mitleid mit den Frauen oder aus Gefallen an ihrem Gesange. Denn indem es dies dahingestellt sein läfst, widerspricht es sich selbst, wenn es die Hingabe der Geldstücke als eine Leistung gegenüber der Gesangsleistung der Angekl. betrachtet. Die Prüfung des Motivs der Geber würde die Feststellung erleichtern, ob der Gesangsvortrag und das Auftreten der Angekl. einem Ansprechen um eine milde Gabe gleich zu erachten war oder ob strafloses Darbieten einer Leistung vorlag. (Urt. S. 581/04 v. 9. Juni 1904.)

III. Preussisches Oberverwaltungsgericht. A. I.-IV. u. VIII. Senat.

Mitget. v. Senatspräsidenten des OVG. Dr. Schultzenstein, Berlin. 88. (Mafsgebende Zeit des Einspruchbescheids.) Der Vorderrichter führt aus, die Klägerin selbst habe nicht bestritten, dafs am Tage des Erlasses der wegepolizeilichen Verfügung die gerügten Mängel bestanden hätten. Dafs diese Mängel später teilweise beseitigt worden, sei für das vorliegende Verfahren belanglos. Dabei hat der Bezirksausschufs verkannt, dafs es nicht auf den Zeitpunkt der ersten Verfügung, sondern auf den des auf Einspruch erlassenen Beschlusses ankommt. Das Einspruchsverfahren dient dem Zwecke, der Polizeibehörde zu einer nochmaligen Prüfung ihrer Anordnung und zur Verbesserung etwaiger Fehler Gelegenheit zu geben. Nun hat der Amtsvorsteher in dem Beschlufs auf den Einspruch der Gemeinde ausdrücklich anerkannt, dafs nach Erlafs der Verfügung die Löcher in den Böschungen ausgeschüttet worden, mithin die in der Verfügung genannte Reparatur nicht mehr erforderlich sei. Daraus hätte er Veranlassung nehmen müssen, seine Anordnung insoweit fallen zu lassen; er hat aber geglaubt, seine Verfügung aufrechterhalten zu müssen. Das war eine Verkennung der Rechtslage, und der Bezirksausschufs teilt seinen Rechtsirrtum, oder er hat jenen Umstand übersehen, was einen wesentlichen Mangel des Verfahrens darstellen würde. (Urt. IV. 511 v. 11. April 1904.)

89. (Teilnahme von Frauen an Versammlungen.) Nach § 8 des Vereinsges. sind Vereine, die bezwecken, politische Gegenstände „in Versammlungen“ zu erörtern, gewissen Beschränkungen unterworfen. Das Gesetz spricht nicht von Vereinen, die die Erörterung politischer Gegenstände in ihren Versammlungen bezwecken. Daher werden auch Vereine betroffen, von denen die Erörterung politischer Gegenstände in anderen Versammlungen bezweckt wird. Nun ist allerdings das Verbot, dafs Frauen den Versammlungen beiwohnen, nach § 8 Abs. 3 des Vereinsges. nur für die Versammlungen solcher politischen Vereine" gegeben. Es bezieht sich das Verbot der Anwesenheit von Frauen also nur auf Versammlungen der Vereine. Gemeint sind damit aber die von den Vereinen veranstalteten Versammlungen. Selbstverständlich kann sich das Verbot nicht blofs auf Versammlungen erstrecken, an denen ausschliesslich Vereinsmitglieder teilnehmen; denn dann wäre das Verbot ohne alle Bedeutung, weil die Versammlung bei Anwesenheit einer dem Vereine nicht angehörigen Frau nicht mehr ausschliesslich aus Vereinsmitgliedern besteht. Eine Versammlung verliert also dadurch, dafs aufser Vereinsmitgliedern andere Personen anwesend sind, nicht die Eigenschaft als Versammlung des Vereins. Auf ein bestimmtes Zahlenverhältnis zwischen den Vereinsmitgliedern und den Fremden kann es nicht ankommen; hiernach lässt sich eine Grenze nicht ziehen. Der Gesetzgeber ging davon aus, dafs es nicht der Beruf der Frauen sei, sich mit politischen Dingen zu befassen; darum wollte er sie von der Tätigkeit der politischen Vereine fernhalten. Die Tätigkeit der politischen

Vereine entfaltet sich jedoch in allen von ihnen veranstalteten Versammlungen. Daher rechtfertigt sich die Annahme, dafs beabsichtigt gewesen ist, die Anwesenheit von Frauen bei allen von den politischen Vereinen veranstalteten Versammlungen zu verbieten. Andernfalls würden ja die politischen Vereine durch die Art der von ihnen veranstalteten Versammlungen leicht das Verbot umgehen können. Sprachlich kann auch eine Versammlung deshalb, weil ein Verein sie veranstaltet, als Versammlung des Vereins bezeichnet werden, wie man Versammlungen, die eine Person einberuft, deren Versammlungen nennt. Wenn im § 3 des Vereinsges. für die statutenmäfsig oder durch besonderen Beschlufs im voraus feststehenden Versammlungen eines Vereins" Freiheit von der Pflicht zur besonderen Anzeige jeder einzelnen Versammlung gewährt ist, so mag bei dieser den Vereinen für ihre Versammlungen eingeräumten Erleichterung vorausgesetzt sein, dafs die Versammlung eine solche der Mitglieder des Vereins sei. Dadurch wird aber nicht ausgeschlossen, dafs unter den Versammlungen politischer Vereine im Sinne des § 8 Abs. 3 des Vereinsges. alle von den politischen Vereinen veranstalteten Versammlungen verstanden sind. (Urt. I. 494 v. 12. April 1904.)

B. V. VII. Senat (Staatssteuersachen).
Mitgeteilt vom Wirkl. Geh. Oberregierungsrat Fuisting,
Senatspräsidenten des Oberverwaltungsgerichts, Berlin.

(Gewerbesteuersachen.)

90. (Das stehende Schiffergewerbe) unterliegt nach § 3 RGes. wegen Beseitigung der Doppelbesteuerung v 13. Mai 1870 grundsätzlich nur in dem Heimatstaate des Schiffes der Besteuerung. Die Besteuerung eines auswärtigen Teilbetriebes würde dauernde örtliche Einrichtungen aufserhalb des Heimatstaates voraussetzen. Diese Voraussetzung trifft nicht zu, wenn eine Dampfschiffahrtgesellschaft weder an bestimmten Orten in Preufsen eine oder mehrere ihrem Gewerbe dienende sichtbare örtliche Anstalten besitzt, noch an solchen Orten ihr Gewerbe durch eigene ständige Vertreter ausübt, sich vielmehr nur selbständiger Spediteure und Schiffsmakler bedient, die mit der Ausübung ihres eigenen Gewerbebetriebes zwar das Frachtgewerbe der Gesellschaft fördern, nicht aber als Angestellte der Gesellschaft selbst erscheinen. (Urt. VI. G. 256 v. 14. Jan. 1904.)

91. (Lotsengewerbe.) Ob die in dem Urteile v. 29. Febr. 1896 (Entsch. in Staatssteuersachen Bd. V S. 389 ff.) über die Gewerbesteuerpflichtigkeit eines selbständigen Rhein-Lotsen entwickelten Rechtsgrundsätze auch auf andere Lotsen anwendbar sind, hängt von der Prüfung der für diese bestehenden besonderen Rechtsverhältnisse ab. Insbesondere entscheidet sich die Frage, ob die von alters her zu einer besonderen Gesellschaft (Brüderschaft) vereinigten Elb-Lotsen der Provinz Hannover die Eigenschaft von Beamten haben, ebenso, ob und inwieweit sie gemeinschaftlich oder jeder einzeln für eigene Rechnung ihren Beruf ausüben, nach ihrer besonderen Verfassung (Lotsenordnung v. 23. März 1829) und deren tatsächlicher Handhabung. (Urt. VI. G. 230 v. 4. Febr. 1904.)

IV. Oberlandesgericht Rostock. Mitgeteilt vom Senatspräsidenten Dr. Altvater, Rostock. 4. (Begriff des Begünstigers. StrGB. § 257. StrPO. § 56 No. 3.) Die kommissarische Vernehmung des Zeugen ist bereits in erster Instanz erfolgt. Bestand nun in der Hauptverhandlung der Berufungsinstanz der Verdacht, der Zeuge habe sich schon durch seine frühere Aussage der Begünstigung hinsichtlich der Tat des Angekl. schuldig gemacht, so war damit die Nichtbeeidigung des Zeugen nach § 56 No. 3 StrPO. begründet. Der § 56 No. 3 gestattet allerdings nicht, einen Zeugen in der Hauptverhandlung aus dem Grunde unbeeidigt zu lassen, weil der Verdacht besteht, dafs derselbe hier Unwahres aussagen werde oder ausgesagt habe, um den Angeklagten zu begünstigen; aber seiner Anwendung steht

Für die Redaktion verantwortlich: Otto Liebmann.

nicht entgegen ein Verdacht der Begünstigung, welcher sich auf eine in der Vergangenheit zurückliegende Aussage des Zeugen stützt. (Vgl. Löwe, StrPO. 11. Aufl. Anm. 12b zu § 56.) Insofern steht die frühere, bei der kommissarischen Vernehmung gemachte Aussage des Zeugen keineswegs, wie die Revision meint, der Aussage dieses Zeugen in der Hauptverhandlung gleich. (Urt. v. 13. Mai 1904.) V. Oberlandesgericht Braunschweig.

Zivilsachen.

Mitget. v. Landgerichtspräsidenten Dr. Dedekind, Braunschweig. 4. (Dolus causam dans und dolus incidens.) Nach § 123 Abs. 1 BGB. kann, wer zur Abgabe einer Willenserklärung durch arglistige Täuschung bestimmt ist, die Erklärung mit dem Erfolge anfechten, dafs das durch dieselbe erzielte Rechtsgeschäft nichtig ist (§ 142). Dabei macht es keinen Unterschied, ob die Täuschung den Abschlufs des Geschäfts selbst herbeiführte, oder ob sie für eine einzelne Bestimmung, eine Modalität desselben den Ausschlag gab. Die frühere Unterscheidung zwischen dolus causam dans und dolus incidens kann, obschon ihr die Motive z. I. Entw. des BGB. (Bd. 1 S. 207) das Wort reden, vor dem Gesetze nicht bestehen (Sprenger im Archiv. f. d. zivilist. Praxis Bd. 48 S. 389; Endemann, Bürg. Recht. 8. Aufl. Bd. 1 S. 354 Anm. 2 a. E., S. 356 zu Anm. 7; Planck, BGB. § 123 Anm. 2; Hölder, BGB. § 123 Anm. le; Jur. Wochenschr. 1903 Beil. S. 40 No. 85). Es ist daher gleichgültig, ob die Bekl. durch die etwaige Täuschung über die Anzahl der ihnen mit dem Geschäfte verkauften Flaschen bewogen sind, das Geschäft überhaupt zu kaufen, oder ob sie dadurch nur sich haben bestimmen lassen, den Kaufpreis in vereinbarter Höhe zu bewilligen

mit anderen Worten: ob sie überhaupt nicht gekauft oder ob sie nur einen geringeren Preis bewilligt haben würden, wenn sie nicht getäuscht wären. Denn ist die Vereinbarung des Kaufpreises nicht rechtsbeständig, so fehlt es an einem für das Zustandekommen des ganzen Kaufvertrages wesentlichen Stücke; auf den üblichen oder angemessenen Preis kann nicht rekurriert werden, weil dieser durch Willenseinigung der Parteien nicht gedeckt wird. (Urt. I. v. 29. Mai 1903.)

VI. Oberlandesgericht Hamburg. Mitgeteilt von Oberlandesgerichtsrat Dr. Mittelstein, Hamburg. 12. (Schadensersatzverpflichtung des Handlungsgehilfen wegen Konkurrenz). Hat der Prinzipal, welcher auf Grund HGB. § 60 vom Handlungsgehilfen Schadensersatz fordern kann, sich diesem gegenüber für eine der Alternativen des HGB. § 61 Abs. 1 entschieden, so ist er gemäfs BGB. § 263 an die erfolgte Wahl gebunden. (Urt. ZS. II, Bf. II 456/1902 v. 28. Mai 1903.)

13. (Kündigung eines alten Mietverhältnisses aus BGB. § 570.) Parteien haben bei Inkrafttreten des neuen Rechts vereinbart, dafs es bei den alten Vertragsbestimmungen wonach eine Kündigungsfrist von sechs Monaten galt sein Bewenden behalten sollte. Hieraus

war nicht zu entnehmen, dafs das Mietverhältnis auch in Zukunft nur dem bisherigen Recht unterstellt bleiben solle, sondern nur, dafs die alten Kontraktsbestimmungen in Geltung bleiben sollten. Deshalb greifen die gesetzlichen Kündigungsgründe des BGB. Platz, also auch der § 570.

Dafs der bekl. Mieter auf seinen Wunsch versetzt ist, ist ohne Belang [vgl. Mittelstein, Miete, S. 241 u. Zit.]. (Urt. ZS. I, Bf. 14/1903 v. 3. Juni 1903.)

14. (Anwaltsgebühr für Rückerhebung von Sicherheiten.) Die Regel der GO. f. RA. § 29 umfafst auch den Antrag auf Rückerhebung aus ZPO. § 715, während allerdings für die Fälle von ZPO. § 109 die besondere Gebühr von 3/10 des § 23 No. 1 der GO. f. RA. gemäfs GO. f. RA. § 30 No. 3 i. V. m. GKG. § 38 No. 2 zu beanspruchen ist. (Beschl. ZS. IV Bs. C. IV 52/03 v. 3. Juni 1903.) (Anders: OLG. Celle, Jur. Woch. 1903 S. 119.)

Verlag von Otto Liebmann. Sämtlich in Berlin.

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Druck von Pass & Garleb.

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Die Reform des Vorverfahrens im Strafprozesse.

Von Hofrat, Professor Dr. v. Lilienthal, Heidelberg.

Dafs von allen Stadien des Strafprozesses das Vorverfahren am meisten reformbedürftig erscheint, darüber kann kaum ein Zweifel aufkommen, wenn man sich in der Tagesliteratur umsieht. Staatsanwälte, Richter, Verteidiger, Theoretiker stimmen. darin überein, und nur vereinzelt tritt die Meinung auf, dafs es eigentlich beim alten bleiben könne, so in einer interessanten Abhandlung von Delbrück im Gerichtssaal, Bd. 64 S. 436 ff. Aber vielleicht sind diese vereinzelten Stimmen der Ausdruck der in weiten Kreisen der Praxis tatsächlich herrschenden Ansicht. Als Beweis dafür könnte man sich auf den kläglichen Ausgang berufen, den die Beratung dieses Gegenstandes auf der letzten Versammlung der deutschen Landesgruppe der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung in Stuttgart gefunden hat.1) Das ist auch gar nicht weiter verwunderlich; denn weitaus die Mehrzahl der vor Schöffengerichten und Strafkammern abgeurteilten Strafsachen sind, namentlich bei den kleinen Gerichten, so einfach, dafs auch das mangelhafteste Vorverfahren eine sachgemäfse Erledigung nicht hindern kann. Hinzukommt, dafs das Geständnis des Angeklagten in sehr vielen Sachen die Aufgabe, den Tatbestand festzustellen, wesentlich erleichtert. Aber für den aufmerksamen Beobachter tritt gerade auch in diesen Fällen ein schwerer Uebelstand deutlich hervor: der überwiegende Einflufs der Ergebnisse des Vorverfahrens auf die Hauptverhandlung, die gerade hier meist nur die Probe auf das schon im Vorverfahren gelöste Exempel bildet. ständigen Angeklagten wird die Bestätigung der Ermittelungsergebnisse einfach abgefragt. Die Zeugen aber werden, oft genug auch durch direkte Fragen, veranlasst, das vor Gericht auszusagen, was in den dem Vorsitzenden vorliegenden Akten protokolliert ist. Abweichungen fallen mifsliebig auf und werden jedenfalls dem Zeugen energisch vorgehalten. Bleibt er bei seiner abweichenden Aussage, so haftet ihm 4) Vgl. den Bericht von Heinemann Seite 632 d. Bl.

Dem ge

Redaktion u. Expedition: Berlin W. 57. Potsdamerstr. 96. Fernsprecher VI 2564. Alleinige Inseratenannahme: Rudolf Mosse, Berlin SW. u. sämtl. Filialen. Inserate die 3 gesp. Nonpareillezeile 50 Pfg. Familienanzeigen u. Stellengesuche 40 Pfg. Bei Wiederholungen Rabatt. unverkürzter Quellenangabe gestattet.)

eine levis notae macula an. Denn dazu, diesen Widerspruch der Aussagen zu erklären, reicht die geistige Gewandtheit der Zeugen selten aus. Meist gibt er schliesslich nach, namentlich, wenn er in der Voruntersuchung schon vereidigt worden ist und deshalb eine Anklage wegen Meineides befürchtet, falls er im Laufe der Hauptverhandlung das Protokoll über die frühere Vernehmung zu berichtigen versuchen wollte.

Dabei wird die Mündlichkeit und Unmittelbarkeit des Hauptverfahrens oft genug zur blofsen Form, indem der wesentliche Grundsatz illusorisch gemacht wird, dafs nur Beweismittel zur Verwendung kommen, deren Beweiswert von beiden Parteien hat geprüft werden können. Und doch steckt gerade darin der Fortschritt über den alten Inquisitionsprozefs hinaus, in dem man mit dem Urteilen auf Protokolle hin genügend traurige Erfahrungen gemacht hatte. Es reicht eben nicht aus, zu wissen, was der Zeuge schliesslich gesagt hat, man mufs auch wissen, wie die Aussage zustande gekommen ist, ob spontan und sicher oder erst nach langem Schwanken, auf mehr oder minder suggestive Vorhaltungen hin. An einer solchen, für den Beweiswert der Zeugenaussage unentbehrlichen Kontrolle fehlt es bei den Protokollen des Vorverfahrens - niemand kann den Akten ansehen, wie ihr Inhalt entstanden ist.

An diesem Punkte mufs die Reform des Vorverfahrens einsetzen. Diese Erkenntnis hat zu der oft aufgestellten Forderung einer Erweiterung der Parteienöffentlichkeit, einer kontradiktorischen Gestaltung des Vorverfahrens geführt. Ich glaube

"

nicht, dafs das der richtige Weg sein würde. Denn eine Untersuchung" kann nicht kontradiktorisch sein, erst ihre Ergebnisse sind diskutierbar. Dann freilich auch die Art der Gewinnung. Das soll in der Hauptverhandlung geschehen und geschieht dort am sichersten, wenn völlig unbefangenen Richtern die Beweismittel vorgeführt werden müssen, auf die hin Entscheidung in einem bestimmten Sinne verlangt wird. Ebenso wenig aber kann man die Untersuchung unter die Kontrolle der Personen stellen, gegen die sie geführt wird. Schon deshalb nicht, weil man ihnen dadurch Gelegenheit gibt, den Er

folg des ganzen Verfahrens in Frage zu stellen. An diesen Tatsachen kann kein Gesetz etwas ändern. Wenn es sie aufser acht läfst, so hat das nur den praktischen Erfolg, dafs die eigentliche Untersuchung aufserprozessual geführt wird.

Es bleibt deshalb nichts übrig, als die Notwendigkeit einer einseitigen und geheimen Untersuchung unumwunden anzuerkennen und daraus die notwendigen Folgerungen zu ziehen. Die nämlich, dafs die Untersuchung nur der Vorbereitung der Anklage dienen darf. Sie gehört deshalb in die Hände des Staatsanwaltes mit der Verpflichtung, sie, soweit das irgend möglich ist, persönlich zu führen. Heute bilden die polizeilichen Ermittelungen die wesentliche Grundlage des ganzen Verfahrens. Auf sie hin trifft der Staatsanwalt seine Entscheidungen, sie beeinflussen den Untersuchungsrichter, sie gewähren dem Vorsitzenden den Anhalt für die Leitung der Hauptverhandlung. Dabei kommt aber nicht nur der Beschuldigte zu kurz, sondern auch der Staatsanwalt. Er macht in den meisten Fällen die persönliche Bekanntschaft des Angeklagten und der Zeugen erst in der Hauptverhandlung. Bis dahin hat er mit fremden Augen gesehen und mit fremden Ohren gehört. Er ist deshalb auf die Vertretung der Anklage häufig keineswegs genügend vorbereitet und würde weit mehr zur Feststellung der Wahrheit beitragen können, wenn er die Sachen schon früher aus eigener Anschauung und nicht blofs aus den 'Akten kennen gelernt hätte. Diesen Mangel empfinden auch die Staatsanwälte selbst in hohem Masse1), um so mehr, als dies unpersönliche Verhalten der Staatsanwaltschaft zu einer ganz erheblichen Schreibarbeit im Verkehr mit anderen Behörden und damit zu einer beträchtlichen Vergeudung von Zeit und Kraft führt. Mit der persönlichen Leitung der erforderlichen Erhebungen wird auch den Staatsanwälten keineswegs zu viel zugemutet.

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Die erforderliche Zeit müfsten sie finden, wenn sie von den zahlreichen Verwaltungsgeschäften entbunden würden, die mit ihrer prozessualen Stellung gar nichts zu tun haben. Auch für den Staat erwachsen erhebliche Mehrkosten dadurch nicht, weil alsdann die Untersuchungsrichter wegfielen. Dafs aber diese für die Führung der Untersuchung nicht notwendig sind, beweist am besten der Umstand, dafs man sie in weitaus den meisten Strafsachen schon heute entbehren kann. 2) Und wo eine Voruntersuchung notwendig erscheint, da ist es ein technisch geschulter Untersuchungsbeamter, nicht ein Richter", dessen man bedarf, denn „Untersuchen“ und „Richten“ haben miteinander gar nichts zu tun. Auch dafs die Tätigkeit eines „Richters"

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1) Vgl. Rosenberg in den Mitteilungen der J. K. V. S. 761 ff., Elvers, DJZ. 1904 No. 13 S. 626 ff.

2) Auf 1000 beendete Verfahren kamen im Deutschen Reiche im Jahresdurchschnitt von 1896/1900 38, i. J. 1901 36, bei 1000 Strafkammer- und Schwurgerichtssachen 275 und 268. Nun entfallen auf 1000 Strafsachen 833 Schöffengerichts-, 158 Straf kammer-, 9 Schwurgerichtssachen. Es kommen also auf 1000 Fälle der möglichen Voruntersuchung 54 notwendige, so dafs von den Strafkammersachen im Jahre 1901 nur 22,6% zu Voruntersuchungen Veranlassung gaben (vgl. Deutsche Justiz statistik, Jahrg. XI 1903).

für den Angeschuldigten eine gröfsere Gewähr der Unparteilichkeit böte, weil der Richter unabhängiger sei als der Staatsanwalt, ist nur ein Scheinargument. Denn die Abhängigkeit des letzteren von seiner vorgesetzten Behörde kann zwar selten genug in der Erhebung oder Unterlassung der Anklage, nicht aber in der Führung der Untersuchung zum Ausdruck kommen. Und ebenso wenig kann von einem persönlichen Interesse des Staatsanwaltes die Rede sein, das dem Richter fehle. Der Untersuchung stehen beide affektiv gegenüber nur, insofern sie ein ihrer Ueberzeugung entsprechendes Ergebnis herbeizuführen suchen der Untersuchungsrichter genau so wie der Staatsanwalt. Der Staatsanwalt mag ein Interesse daran haben, in der Hauptverhandlung eine Verurteilung zu erzielen; ein Interesse, die Sache zur Hauptverhandlung zu bringen, hat er kaum. Dafs die Staatsanwälte nicht besonders verfolgungswütig sind, beweist am besten, dafs z. B. in Preufsen im Jahre 1902 von 523 612 Vorverfahren 210 561 von der Staatsanwaltschaft selbst eingestellt worden sind. 1)

Die einseitigen Erhebungen des Vorverfahrens, die lediglich der Vorbereitung der Anklage dienen sollen, müssen natürlich in den Händen des Staatsanwalts bleiben und dürfen dem erkennenden Gericht nicht vorgelegt werden. Das wäre wohl die gröfste und schwerwiegendste Abweichung vom heutigen Verfahren. Ein Vorsitzender ohne Kenntnis der Untersuchungsakten wird vielen als fast undenkbar erscheinen. Und gewifs hätte es seine Gefahren, das Gericht, das doch nun einmal für den Ausgang verantwortlich ist, ganz unvorbereitet in die Hauptverhandlung eintreten zu lassen. Merkwürdigerweise geschieht das heute für einen Teil des Gerichts. Der Vorsitzende und in Strafkammersachen meist auch der „Referent" kennen die Akten, die anderen Richter nicht. Darum haben auch faktisch diese beiden Mitglieder des Kollegiums, die von dem Falle eben doch mehr wissen wie die anderen, häufig einen sehr erheblichen Einfluss auf die Entscheidung. Inwieweit sie trotz ihres Aktenstudiums wirklich unbefangen die Hauptverhandlung auf sich einwirken lassen, steht dahin. Nun wäre es wohl möglich, alle Richter für das Verständnis der Hauptverhandlung gleichmäfsig vorzubereiten, wenn ihnen allen vor der Verhandlung eine Anklageschrift mitgeteilt würde. Freilich dürfte sie nicht nur eine erzählungsweise Mitteilung der Ergebnisse des Vorverfahrens enthalten, sondern eine genaue Angabe des Beweisthemas und der Beweismittel zu jedem einzelnen Punkte. Praktisch hiefse das, dafs der Staatsanwalt den Akteninhalt so verarbeitete, wie es jetzt der Vorsitzende tut, und das Ergebnis dieser Arbeit schriftlich fixierte. Den Forderungen der Mündlichkeit wäre genügt, wenn sein Antrag daraus verlesen würde. Eine solche Anklageschrift würde niemanden zuungunsten des Beschuldigten beeinflussen, viel weniger als heute die Verlesung

1) Justiz-Min.-Bl. 1903 S. 193. Für ganz Deutschland sind genaue Angaben im XI. Jahrg. der Justiz-Statistik S. 202 f. enthalten.

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