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von dieser Mannigfaltigkeit des Inhalts überrascht sein. Jenes Selfgovernment, über welches so viel gedacht, geschrieben und gesprochen wurde, bestand eigentlich nur aus Bruchstücken, die sich in das schöne von Blackstone gegebene Bild des Parlaments einreihten. Sie umfaßten wenig mehr als das was im Anfang dieser Schrift (§. 3—9) gegeben ist, ergänzt durch die vortreffliche kleine Denkschrift des Freiherrn von Vincke, in welcher die Gesetzgebung des letzten Menschenalters noch fehlte. Burn's Justice war zwar im Allgemeinen bekannt, aber in ihrer gegenwärtigen Gestalt beinahe unverständlich und ungenießbar. Die zahllosen englischen Einzelschriften setzen stets als selbstverständlich voraus, was für den Continent nicht selbstverständlich ist; die Darsteller sind meistens Juristen zweiten Ranges, welche in unermüdlicher Gleichförmigkeit kurze Einleitun= gen und geschichtliche Notizen zum hundertsten Mal mit denselben Worten wieder abdrucken lassen, und daran die wichtigsten Gerichtsurtheile und Klauseln der neuen Gesetze anreihen.

Es bedurfte also noch einmal einer harten Vorarbeit, der Ueberwältigung eines ungeheuren Stoffs, der sich in endlose Einzelheiten zu verlieren scheint. Wenn der äußere Umfang überrascht, so wolle man bedenken, daß eine einzige populäre Anleitung für die Friedensrichter (Kap. IV. unserer Darstellung) zehnmal umfangreicher ist als diese Schrift. Fast das ganze Material erscheint unter herkömmlichen alphabetischen Rubriken, unter welchen sich Gesetze und Präjudicien einreihen. Die anschwellende Masse der Reformgeseße ist noch unverarbeitet. Die zuwachsenden Jahrgänge der Parlamentspapiere drohen bereits den Umfang von 100 Foliobänden jährlich zu überschreiten. In diesem wenig einladenden Chaos ist der staatsrechtliche und volkswirthschaftliche, der historische und systematische Zusammenhang erst zu schaffen. Die englischen Rechtsbegriffe und Geschäftsformen bedürfen einer gewissen Umbildung, um für den Continent verständlich zu werden; schon die Sprache bietet so erhebliche Schwierigkeiten dar, daß sich selten ein Paragraph eines englischen Gesetzes zu einer wortgetreuen Uebertragung eignet.

Man wird es unter diesen Umständen nicht mißbilligen, wenn bei der Auswahl des Stoffs der Inhalt der positiven Gesetze der Hauptgesichtspunkt war, und die veralteten nur so weit gegeben sind als sie für den Entwickelungsgang des Ganzen noch Bedeutung haben. Da jeder Paragraph dieser Schrift in England seine Monographien und seine festen Rubriken in den großen Handbüchern hat, so war es wohl genügend die Anknüpfungen daran zu geben; aus der Litteratur nur sparsame Citate, wo die Angabe der Autorität für einen besonderen Satz angemessen erschien. Aus Gerichtsurtheilen sind nur selten Excerpte gegeben, wenn sie staatsrechtliche Marimen besonders treffend ausdrücken. Eine gedrängte Uebersicht der Rechtsquellen und der Rechtslitteratur kann ich erst dem dritten Haupttheile dieser Schrift voranschicken.

Es schien mir ferner nicht unangemessen in einem so mannigfaltig zusammengesetten, dem Continent bisher fremdartigen Bilde die Grundstriche äußerlich so hervortreten zu lassen, daß ein Leser mit dem gewöhnlichen Maße von Geduld sie erst zu übersehen und zu beherrschen vermöge, ehe er in die kleineren Einzelheiten eingeht. Es ist zu dem Zweck die Form von Text und Noten gewählt ohne den Zusammenhang in einer dem. Leser lästigen Weise zu unterbrechen. Die Noten sind hauptsächlich für historische Excurse, legislatorisches und statistisches Detail, geschäftliche Einzelheiten, Formulare, Incidentpunkte und Litteraturangaben bestimmt, welche der Leser vorläufig überspringen mag, wenn er an der Ueberwältigung verzweifelt. Es muß aber so weit eingegangen werden, um alles für den täglichen Gang des Selfgovernment Charakteristische und Anschauliche hervorzuheben; weshalb denn auch von den Geschäftsformularen den englischen formulae) ein so reichlicher Gebrauch gemacht ist. Für ein' Mehr oder Weniger dabei und für die Vertheilung von Text und Noten wird man dem Verfasser bei der ersten Bearbeitung nachsichtig einen ge= wissen Spielraum gestatten; vielleicht auch Verzeihung gewähren, wenn in den langen Zahlenreihen, Citaten und in den gedrängten Inhaltsangaben der so weitschweifigen Gesetze sich Incorrektheiten eingeschlichen haben. Die englischen Darstellungen leiden dabei an einer lästigen Weise von Wiederholungen, welche nothwendig entstehen, wo man regelmäßig nach alphabe= tischen Rubriken arbeitet. Auch diese Darstellung hat Wiederholungen, meistens absichtliche, um denselben Gegenstand in verschiedenem Zusammenhang von anderer Seite aus zu beleuchten; zuweilen aber auch unabsichtliche, die man einer stetigen Unterbrechung der Arbeit zu gut halten wolle. Für viele Unebenheiten und Härten wird man wohl als Entschuldigung gelten `lassen die Beschaffenheit des Originals, die Schwierigkeit englische Rechtsund Gesezessprache in eine leichtfließende deutsche Schreibart zu übertragen. Ich darf vielleicht noch die persönliche Entschuldigung hinzufügen, daß dieser Band in den Nebenstunden eines vielbewegten akademischen Jahres, stets unterbrochen von wenig verwandten Geschäften, geschrieben werden mußte. Ich wiederhole wie in dem ersten Bande die Bitte an Gönner und Freunde in Deutschland und England, in der Zusammenfassung eines so zerstreuten unverarbeiteten Materials, in den tausend minutiösen Kleinigkeiten, unter welchen in zusammengepreßter Darstellung Ungenauigkeiten so leicht unterlaufen, mir ihre Beihülfe und Belehrung nicht zu versagen.

Die Schwierigkeit der Arbeit liegt aber nicht bloß in dem Erforderniß einer genauen Bekanntschaft mit Land und Leuten auf beiden Seiten des Canals, nicht bloß in mancherlei geschichtlichen, rechtlichen und volkswirthschaftlichen Kenntnissen, die sie vorausseßt, sondern ebenso in der Nothwendigkeit eines unbefangenen politischen Standpunkts, eines sehr ruhigen Urtheils. Wer in dem englischen Staat zunächst die Bestätigung irgend einer Lieblingsmeinung sucht, wer etwas anderes geben will als eine schlichte

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wahrhafte getreue Erzählung von dem inneren Staatsleben des englischen Volks, wird an dieser Aufgabe verzweifeln müssen. Sie durchkreuzt alle schematischen Parteivorstellungen. Wenn diese Darstellung aber wirklich treu und wahrhaftig ist, mehr als jede andere auf dem Continent, so rührt es daher, daß sie mit tiefer Achtung vor dem Charakter des englischen Volks geschrieben ist, aber mit dem gleich sicheren Bewußtsein des Werths und der Würde meiner eigenen Nation, mit dem Vollgefühl der Ebenbürtigkeit deutschen Staatswesens mit dem eines jeden Volkes der Erde, mit dem Bewußtsein der Ueberlegenheit Deutschlands nicht nur durch die harmonische Entwickelung der Gesellschaft, die Tüchtigkeit seiner Mittelstände und arbeitenden Klassen, sondern auch in wesentlichen Seiten der Staatsbildung, und zwar grade in denen, welche für unsere Vergangenheit und Zukunft die wichtigsten sind. Wer voll von diesem Bewußtsein mit England verkehrt, verständigt sich (nach Erledigung einiger Präliminarien) am besten mit Gentry und Richterstand. Es ist die Sinnesverwandtschaft, die mehr als alles andere das Verständniß befördert. Wenn ich von meinen Berufsgenossen auf der englischen Richterbank wenig entnommen habe in der Form der Darstellung, wenn sie diese Art der Umbildung des ihnen geläufigen Stoffs bedenklich ansehen werden, so werden sie doch in Gesinnung und Wahrhaftigkeit der Darstellung den Berufsgenossen aner= kennen.

Der Beruf der Rechtswissenschaft ist es heute nicht mehr, sogenannte gelehrte Bücher über ferne fremde Rechte und Verfassungen zu schreiben, und nebenbei einige unvorgreifliche Bedenken über die Zustände des Vaterlandes einzuflechten. Noch weniger hat sie Muße zu Betrachtungen über ein absolutes, aber leider heute unanwendbares Recht. Geschichte und System des englischen Selfgovernment müßten völlig geist und zusammenhangslos behandelt sein, wenn sie nicht zu anwendbaren Grundsätzen. für unsere Gegenwart kommen sollten. Ich füge daher die Verbindungsglieder der deutschen und englischen Gegenwart hinzu, so kurz und so gut wie ich sie verstehe. Es ist dabei Vieles durch wenige Zeilen ausgedrückt, was sich nicht unmittelbar an die gesellschaftlichen Vorstellungen der Gegenwart anschließt, leicht mißverstanden, leicht mißzgedeutet werden kann. Allein das allerreichste Detail der concreten Einzelheiten liegt zugleich vor. Wenn dies im Einzelen und im Ganzen etwas Auderes ist als das traditionelle Bild des Selfgovernment, so wird es kaum überraschen, wenn die Schlußfolge= rungen, Verbindungen und Anknüpfungen daraus von den gewöhnlichen abweichen. Mancher Leser wird sich bei einer zweiten Bergleichung und Uebersicht der Einzelheiten doch vielleicht mit der Folgerung befreun den, die ihn zuerst überrascht hat. Und was bei der zweiten Vergleichung noch fremdartig blieb, wird sich vielleicht bei der dritten einreihen. Die hier versuchte Methode einer pathologischen Anatomie heutiger Staatszustände ist jeder Korrektur unmittelbar zugänglich. Sie stellt den vagen Vor

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stellungen die allerbestimmteste Wirklichkeit gegenüber, die sich rechtlich, volkswirthschaftlich, statistisch prüfen und controliren läßt. Sie stellt den negativen positive, den ziel- und formlosen Bestrebungen feste Ziele, Formen und erreichbare Mittel gegenüber. Sie klagt nicht über die vermeintliche Berwirrung und Verderbtheit der Zeit, sondern bemüht sich redlich zu finden, was hätte geschehen sollen, und was auf den an sich gefunden Grundlagen heute geschehen kann.

Man wird es vielleicht im Allgemeinen billigen, daß sich eine solche Darstellung an ihre Gegenwart und an ihr Vaterland wendet, wird aber die Beiseitseßung mancher Rücksicht tadeln, die sonst in der Behandlung so zarter Gegenstände üblich ist. Allein die Weise der Behandlung bestimmt sich durch den Gegenstand. Das englische Recht nimmt seit Menschenaltern für den Continent eine Stellung ein, die man vergleichen möchte der Reception der fremden Rechte im Mittelalter. Die Verfassungen, das ganze politische Denken des Continents sind allmälig immer tiefer durchdrungen von englischen Namen, Formen und Begriffen. Man mag darin eine heilsame Gegenströmung erkennen gegen die Gestaltung unseres Privatrechts nach nicht nationalem Muster. Der innere Bau dieses englischen Rechts ist gleich kraftig und gewaltig für die Bildung des öffentlichen Rechts, wie der des römischen für Privatrecht. Man kann von beiden dasselbe sagen. Was in diesem öffentlichen Recht zur Erscheinung kommt, ist ebenso kernig wie das Volk und wie die Zeit für die es entstand, nichts halbes, nichts unbestimmtes, nichts mildes und zartes, sondern alles entweder ganz oder gar nicht vorhanden, kenntlich bis zur Unmöglichkeit eines Mißgriffs, einfach und aus einem Gedanken herausgearbeitet, aber dieser mit unerbittlicher Consequenz durchgeführt." Dadurch ist es hervorgegangen aus langen schweren Kämpfen scheinbar unversöhnlicher Gegensätze zu einer wirklichen Einheit, die durch den Nationalcharakter das Gepräge der schlichten Derbheit in dem Maße erhalten hat, daß jede Vergleichung damit dem Verglichenen dasselbe Gepräge giebt,

In dem dritten Haupttheil, mit welchem ich nun dies Werk beschließen will, gebe ich die englische Parlaments-Verfassung. Gleichzeitig hoffe ich die zweite umgearbeitete Auflage des ersten Bandes zu vollenden, vielleicht auch einen gemeinfaßlichen Auszug aus der Communalverfassung, wenn nicht eine geschicktere Hand mir zuvorkommt.

Berlin, im August 1859.

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Vorrede zur zweiten Auflage.

In der völlig umgearbeiteten zweiten Auflage dieses II. Haupttheils ist

das System des I. Theils (Berlin 1857) durchgeführt nach der Dreitheilung : des geschichtlichen Entwickelungsganges, des heute geltenden Rechts, und der leitenden, anwendbaren Grundsäße. Durch diese Erweite= rung ist eine äußerliche Trennung in zwei Bände rathsam geworden.

I. Die erste Haupt abtheilung S. 1-400 umfaßt den ge= schichtlichen Entwickelungsgang der Englischen Kreis- und Communalverfassung, welcher in der ersten Auflage nur bei den einzelen Institutionen in Gestalt von geschichtlichen Excursen gegeben worden war.

Eine Geschichte des Englischen Selfgovernment, welche zugleich die innere Geschichte der Parlamentsverfassung bildet, ist noch nicht geschrieben worden, weil den Engländern das Gefühl eines Bedürfnisses dafür fehlt. Ihr Gemeindeleben ist seit Jahrhunderten so sest geregelt und fest gewurzelt, daß es in täglicher Uebung als selbstverständlich erscheint. Ihre Darstellungen haben sich daher aufgelöst in Einzelschriften zum Handgebrauch der Gemeindebeamten und in Handbücher, welche alphabetisch in herkömmlichen Rubriken das Nöthige so geben, wie man sich in der Praxis leicht orientirt. Das Geschichtliche beschränkt sich auf kurze Einleitungen, welche der Darsteller von seinem Vorgänger wörtlich zu übernehmen pflegt, und die nur so weit in das Mittelalter zurückreichen, wie für das Verständniß unumgänglich nöthig. Man fühlt das Bedürfniß einer zus am menhängenden Kenntniß des Mittelalters da am wenigsten, wo sich die Grundgedanken des Mittelalters in ihrem gesunden Kern stetig fortge= pflanzt haben.

Anders ist das Bedürfniß des Continents. Die traditionelle Geschichte der Parlamentsverfassung mußte zu Mißverständnissen führen, da Staat und Gesellschaft, Verfassung und Verwaltung, seit der normannischen Zeit anders an einander gekettet sind als in dem Feudalwesen des Continents. Diese verschiedene Grundlegung hat zur Folge, daß mit der Auflösung der Lehnskriegsverfassung, von Jahrhundert zu Jahrhundert die

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