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§ 4. Entwickelung des Völkerrechts 1).

I. Die Entwickelung des Völkerrechts gehört mit wenigen Ausnahmen, bezüglich deren sich Anfänge schon im Altertum und Mittelalter finden, im wesentlichen der neueren Zeit an. Das Völkerrecht ruht, wie oben dargelegt worden ist, auf dem Gedanken völliger Gleichstellung der zur Völkerrechtsgemeinschaft gehörigen Staaten. Dieser Gedanke ist jedoch dem Altertum gänzlich fremd geblieben; für die Staaten des Altertums war jeder nicht zum Staate gehörige Fremde und jeder fremde Staat prinzipiell ein Feind, dessen Unterdrückung erforderlichenfalls auch unter Vernichtung des gesamten Volkes, als im Interesse des einzelnen Gemeinwesens liegend, angesehen wurde. Ebenso unverträglich mit dem Grundgedanken des Völkerrechts war jedoch auf der andern Seite die römische Idee der Weltherrschaft.

Nichtsdestoweniger finden sich aber auch zu dieser Zeit schon Anfänge völkerrechtlicher Normen, die dann später, wenn auch in veränderter Form, allgemeine Gültigkeit erlangt haben. Hierher gehört die zum Teil auf religiösen Anschauungen beruhende Unverleglichkeit der Gesandten und, im Kriege, der Parlamentäre, von denen die leßtere heute noch gilt, während sich aus der ersteren im modernen Völkerrechte der Begriff der Exterritorialität (siehe § 11 und 12) entwickelt hat. Desgleichen hat der Krieg, die erste völkerrechtliche Beziehung zwischen Staaten überhaupt, schon im Altertum eine Reihe völkerrechtlicher Bestimmungen geschaffen, so z. B. die Friedensverträge, deren bindende Kraft und Unverlegbarkeit schon damals feststand.

Das Vorkommen von Verträgen, die den heutigen Staatsverträgen entsprechen, läßt sich gleichfalls schon im Altertum, speziell gegen das Ende der römischen Kaiserzeit hin, nachwetsen 2).

1) v. Liszt §3, Gareis §§ 3-8, Rivier § 3.

2) Gareis 8, 10.

II. Jm späteren Mittelalter wurden das Christentum und die Bildung der großen christlichen und dadurch zunächst wenigstens in einer Beziehung auf gemeinsamem Boden stehenden europäischen Staaten für das Völkerrecht von Bedeutung; daneben schuf hauptsächlich auch der sich immer mehr ausbreitende Handelsverkehr für das Seerecht eine Reihe von internationalen Vorschriften, die sich lange erhalten haben. Unter den mehrfachen Aufzeichnungen derselben ist in erster Linie das Consolato del mar, eine Sammlung genuesischer Seerechtsgebräuche im Mittelmeer, aus dem 14. Jahrhundert bekannt geworden; den dort aufgestellten Grundsäßen über die Behandlung fremder Schiffe und Güter im Seekriege ist 3. B. England noch bis zur Pariser Seerechtsdeklaration 1856 im wesentlichen gefolgt.

Von erheblicher Bedeutung für die internationalen Handelsbeziehungen werden später die Entdeckung Amerikas und des Seeweges nach Ostindien.

In dieser Zeit beginnt dann weiterhin auch die Theorie des Völkerrechts sich zu entwickeln 1).

Anfänge hiervon zeigen sich schon bei einzelnen zivilrechtlichen Schriftstellern des 13., 14. und 15. Jahrhunderts (Bartolus, Baldus), die sich mit Fragen des internationalen Privatrechts beschäftigten 2); desgleichen bei den Kanonisten des 13. bis 15. Jahrhunderts, welche hauptsächlich das Kriegsrecht zum Gegenstande ihrer Bearbeitungen machten (Thomas von Aquino). Daneben erschienen um diese Zeit eine Anzahl von Monographien über die Kriegführung, über Fragen des Gesandtschaftsrechts und über Bündnisse.

Eine Theorie des Völkerrechts im eigentlichen Sinne hat jedoch erst Hugo Grotius (Huig de Groot, geb. 10. April 1583 zu Delft, gest. 28. August 1645 zu Rostock) mit seinem im Jahre 1625 erschienenen Werke,,De iure belli ac pacis libri tres" geschaffen. Wenn er auch seine Arbeit auf

1) Die Entwickelung der Völkerrechtswissenschaft ist sehr ausführlich dargeftellt bei Rivier § 4.

2) v. Liszt 14, Gareis 17.

eine Reihe von Werken seiner Vorgänger (von denen hier der spanische Theologe Suarez [1548-1617] und Albericus Gentilis [1551-1602, Professor in Oxford, sein Hauptwerk „De iure belli libri tres" 1598] erwähnt werden sollen) stüßen konnte, so ist er doch der erste, der eine Begründung des Völkerrechts als Recht versucht und eine Scheidung des positiven Rechts von dem Naturrechte durchführt, das als solches für ihn den Ausgangspunkt seiner Untersuchungen bildet.

Die Nachfolger des Grotius spalten sich sodann in zwei verschiedene Schulen, die der Positivisten und die der Naturalisten.

Zu den ersteren gehören: Zouch († 1660), von späteren Schriftstellern der durch juristische Schärfe ausgezeichnete Niederländer Cornelius van Bynkershoek († 1743), Joh. Jakob Moser († 1785), G. F. v. Martens († 1821).

Zwischen beiden Richtungen vermitteln der Philosoph Christian Wolf († 1754) und dessen Schüler, der Schweizer Publizist Vattel († 1767), dessen 1758 erschienenes,,Droit des gens" mit Recht einen großen Einfluß erlangte.

Vertreter der reinen naturrechtlichen Richtung sind: Hobbes (1679), Pufendorf († 1694), Thomasius († 1728) u. a.; sie haben troß ihrer falschen naturrechtlichen Grundauffassung von Staat und Recht doch für viele Einzelmaterien des Staats- und Völkerrechts bahnbrechend gewirkt.

Als erster allgemeiner Kongreß zur Erörterung völkerrechtlicher Angelegenheiten stellen sich die Verhandlungen zu Münster und Osnabrück dar, die zum Abschlusse des Westfälischen Friedens von 1648 führten. Beschickt von fast allen europäischen Staaten legte dieser Kongreß durch die in dem Friedensvertrage ausgesprochene Anerkennung der Religionsfreiheit und der Gleichberechtigung der einzelnen Staaten der europäischen Staatengemeinschaft den Grund zu einer gedeihlichen Weiterentwickelung des Völkerrechts. Anerkannt wird die Unabhängigkeit der Niederlande und der Schweiz. Ein weiterer bedeutsamer Punkt für die Entwickelung des

Völkerrechts ist ferner das den einzelnen Staaten zugesprochene Recht, Bündnisse aller Art zu schließen, um erforderlichen Falles das Gleichgewicht zu wahren und auf diese Weise die Übermacht einzelner anderer Staaten, die ihrer Existenz gefährlich zu werden drohten, zu mindern (Prinzip des europäischen Gleichgewichts).

In dieser Zeit wird auch die Vermittelung des völkerrechtlichen Verkehrs zwischen den einzelnen Staaten durch ständige Gesandte allgemein gebräuchlich.

Die führende Rolle unter den europäischen Staaten haben zur Zeit des Westfälischen Friedens Frankreich und Schwe den; letterer Staat, durch die Wirren des Dreißigjährigen Krieges nach Deutschland hineingezogen, hatte sich dort dauernd (erst der Wiener Kongreß beseitigte dies Stück Fremdherrschaft ganz) festgeseßt.

Mit dem Westfälischen Frieden, der als erste internationale Konferenz unter Beteiligung fast aller europäischen Staaten eine interessante und beachtenswerte Erscheinung in der Geschichte des Völkerrechts bildet, schließt die erste Periode ab, in welcher eine wirkliche Entwickelung des Völkerrechts erkennen läßt.

III. Die nächste Periode bringt zuerst den Rückgang der herrschenden Stellung Frankreichs, das durch die Politik Ludwigs XIV. auf die Höhe seiner Macht gelangt war; in gleicher Weise verliert Schweden seinen Einfluß im Kampfe gegen Rußland, das mit dem Frieden von Nystadt 1771 den Rang einer europäischen Großmacht erlangt. Im Kampfe mit Holland, später mit Frankreich und Spanien, dessen Seemacht es vernichtet, gelangt England an die Spitze der seefahrenden Nationen (Pariser Friede 1763).

Das schon im Westfälischen Frieden aufgestellte System des europäischen Gleichgewichts wird als „iustum potentiae aequilibrium" im Utrechter Frieden 1713 feierlich anerkannt.

In die Zahl der Großmächte tritt weiterhin mit dem Aachener Frieden (1748) Preußen ein; in Amerika

spielt sich der Kampf der nordamerikanischen Kolonien Englands gegen ihr Mutterland ab, der im Frieden von Versailles 1783 mit der Anerkennung der Nordamerikanischen Union endigt.

Von hohem völkerrechtlichen Interesse ist der Staatsvertrag zwischen Preußen und den Vereinigten Staaten von Nordamerika vom 10.September 1785 insofern, als er zwischen beiden Staaten schon damals die Unverleßlichkeit des Privateigentums zur See und die Abschaffung der Kaperei feststellt, ein Resultat, das von der Völkerrechtsgemeinschaft in vollem Umfange heute noch nicht erreicht ist.

Zum Schuße gegen England, das sich, auf seine Seemacht pochend, allerlei Gewalttätigkeiten zur See zu schulden kommen läßt, treten 1780 Rußland, Dänemark, Schweden, die Niederlande, Preußen, Österreich, Portugal und beide Sizilien zu der sogenannten „bewaffneten Neutralität“ zusammen, die sich jedoch nach dem Frieden von Versailles 1783 wieder auflöst. Ein zweites Bündnis zwischen Rußland, Dänemark und Schweden 1800 bleibt, wie das erste, ohne direkte weitere Folgen. Die Deklaration der Kaiserin Katharina II. von Rußland vom 28. Februar/10. März 1780 ist für die Entwickelung des Seekriegsrechts nicht ganz ohne Bedeutung geblieben 1). Gänzlich belanglos für die Fortbildung des Völkerrechts ist die Zeit der französischen Revolution und des ersten Kaiserreiches unter Napoleon I.

IV. Erst der Wiener Kongreß (13. November 1814 bis 25. Mai 1815) bringt wieder einige Fortschritte der Entwickelung, so die Schaffung des Königreiches der Niederlande, ferner die Anerkennung der dauernden Neutralität der Schweiz. Unter dem 8. Juni 1815 erfolgte die Vereinbarung der deutschen Bundesakte (ergänzt durch die Wiener Schlußakte vom 15. Mai 1820). Sonstige völkerrechtlich bedeutsame Weiterbildungen sind in der Feststellung der Rangordnung der Gesandten (f. § 12), der Untersagung

1) Vergl. v. Liszt 16 f.

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