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Grundzüge des Völkerrechts.

Einleitung.

§ 1. Begriff des Völkerrechts 1).

Völkerrecht (ius inter gentes, droit international, international law2) ist der Inbegriff der von den Kulturstaaten der Erde übereinstimmend anerkannten und von ihnen zur Grundlage des gegenseitigen Verkehrs gemachten Normen über die Ausübung von Staatshoheitsrechten.

Jede Norm, die sich als Rechtssat des Völkerrechts darstellt, muß hiernach zwei Eigenschaften aufweisen: sie muß erstens sich charakterisieren als Grundlage einer bestimmten Beziehung von Staat zu Staat und zweitens eine Ausübung von Staatshoheitsrechten zum Inhalte haben.

Nur so weit, als diese beiden Bedingungen erfüllt sind, liegen Normen des Völkerrechtes vor: Träger völkerrechtlicher Beziehungen sind also niemals Privatpersonen, sondern ausschließlich Staaten 3); darüber, unter welchen Umständen ein Staat als Subjekt des Völkerrechts, als Träger völker= rechtlicher Beziehungen anzusehen ist, siehe § 6; anderseits kommen auch Staaten für das Völkerrecht dann nicht in Betracht, wenn sie nicht als Inhaber staatlicher Hoheitsrechte,

1) Die Werke: v. Liszt, Das Völkerrecht, systematisch dargestellt, 2. Aufl. 1902, Gareis, Institutionen des Völkerrechts, 2. Aufl. 1901, Rivier, Lehrbuch des Völkerrechts, 2. Aufl. 1899 und UIImann, Völkerrecht in v. Marquardsens Handbuch des öffentlichen Rechts I. II., 2, 2. Aufl. 1898 sind im folgenden kurz mit dem Namen ihrer Verfasser zitiert; Vollständigkeit der Literaturangaben ist der Bestimmung dieser Schrift gemäß nicht beabsichtigt.

v. Liszt §1, Gareis § 1, Rivier § 1, Ullmann § 1.

2) Näheres über diese Bezeichnungen bei v. Liszt 1, Rivier 1f.

8) Aus diesem Grunde schlägt v. Liszt 1f. in Anlehnung an Kant für das Völkerrecht die Bezeichnung Staatenrecht vor.

sondern als Subjekte privatrechtlicher Rechtsbeziehungen, z. B. von Vermögensrechten, als Gewerbetreibende xc. auftreten.

Auszugehen ist für die Darstellung des Völkerrechts sodann davon, daß alle Staaten, bei welchen die vom Staatsund Völkerrechte zu fordernden, weiter unten zu besprechenden Begriffsmerkmale vorhanden sind, als souverän, d. h. in der Ausübung ihrer staatsrechtlichen Funktionen absolut unabhängig und nur durch sich selbst beschränkt und beschränkbar sind, daß es mithin eine höhere Gewalt über der Staatsgewalt nicht gibt. Daraus folgt weiter= hin die prinzipielle Gleichstellung aller souveränen Staaten für ihre Behandlung als Rechtssubjekte des Völkerrechts und für die hieraus sich ergebenden Verbindlichkeiten.

Eine prinzipielle Beschränkung des Völkerrechts ergibt sich sodann daraus, daß eine Anerkennung gleichartiger Normen für das Vorgehen der Staaten in bestimmten Fällen nur zwischen solchen Staaten möglich ist, welche ganz oder doch annähernd auf derselben Kulturstufe stehen und deren Bestrebungen hinsichtlich der Entwickelung ihres Gemeinwesens im ganzen auf die Erreichung desselben Zieles gerichtet sind. Zur Zeit ist dieses noch nicht hinsichtlich aller Staaten der Erde der Fall, jedoch läßt die fortschreitende Ausbreitung der Kultur das Eintreten auch dieses Zustandes erhoffen. Als ein Beispiel für das Vorwärtsstreben einzelner Staaten in dieser Hinsicht kann Japan dienen, das heute eine Durchbildung seines Gemeinwesens, welche der der europäischen Nationen gleichwertig ist, bereits fast erreicht hat und jedenfalls vollständig in die Zahl der die Völkerrechtsgemeinschaft bildenden Kulturstaaten eingetreten ist 1).

Anderseits stehen auch die halbzivilisierten Staaten heute keineswegs mehr ganz außerhalb der durch die Kulturstaaten gebildeten Völkerrechtsgemeinschaft, wie die zahlreichen

1) Mit Recht betont Rivier 55, daß Japan viel eher die Aufnahme in die Zahl der Kulturstaaten verdient habe als die Türkei.

von China, Persien und Siam, die vor allem hierhergehören, und anderen Staaten mit europäischen Mächten geschlossenen Verträge und die Zuziehung und Teilnahme dieser Staaten an internationalen Konferenzen aller Art, so neuerdings an der Konferenz im Haag 1899, beweisen. Jedoch ruht in diesen Fällen die Möglichkeit eines geregelten völkerrechtlichen Verkehrs nur auf den in den einzelnen Vereinbarungen festgeseßten Grundlagen; darüber hinaus, sowie im Verkehr mit nichtzivilisierten Staaten, zu denen derartige Beziehungen überhaupt nicht bestehen, können auch für die Kulturstaaten nicht die Grundsäße des ausschließlich auf gegenseitiger Anerkennung ruhenden Völkerrechts maßgebend sein 1); vielmehr kann die Behandlung der einzelnen Gemeinwesen in solchen Fällen nur durch Erwägungen bestimmt sein, welche die Vorschriften der Religion und Humanität, der Grundprinzipien aller Kultur, ergeben 2).

§ 2. Rechtsnatur des Völkerrechts 3).

Die Frage, ob die Säße des Völkerrechts als solche Recht im juristischen Sinne sind, ob die geltenden Normen desselben positives Recht darstellen, das für die Staaten ohne weiteres verbindlich und zwingend ist, wie dieses die herrschende Meinung annimmt, oder ob die Regeln des Völkerrechts Rechtsnatur vielmehr erst durch den einzelnen Staat erhalten und vorher ihre bindende Kraft lediglich der moralischen Verpflichtung verdanken, daß auch der Staat das von ihm gegebene Wort halten müsse, ist bis jezt noch einer der erheblichsten Streitpunkte in der Lehre vom Völkerrecht.

Die Erörterung dieser Frage hat in jedem Falle davon auszugehen, daß, wie oben festgestellt, die Völkerrechtsgemeinschaft, innerhalb deren die Säße des Völkerrechts gelten, durch

1) Vergleiche Rivier 5f.

2) So auch v. Liszt 5 ff.

3) v. Liszt § 1, Gareis § 2, Rivier § 1, Ullmann §§ 4, 5.

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